DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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zu Claire um und schüttelte seinen Kopf. Davies' Hand bewegte sich weiter.

      Ich bin ein …

      Jetzt kam es … die Spannung im Klassenzimmer wurde langsam unerträglich.

      Andrew Davies war am Morgen des vorangegangenen Tages bei Sonnenaufgang aus Ross' Wald getreten. Er trug noch den Taucheranzug, aber der Reißverschluss daran war kaputt gegangen, und rings um die Taille befanden sich Schnitte darin, als sei er von irgendeinem wilden Tier angefallen worden. Seine Erinnerungen an die vorige Nacht blieben weiterhin schwammig. Er war in den Tunnel getaucht; er entsann sich seiner Panik, und danach wurde alles wirr. Szenen dessen, was er in Thailand erlebt hatte, vermischten sich nun mit frischen Gedanken an eine seiner Schülerinnen – Patsy Bourne – und jemand anderen: einem jungen Mann, einen Teenager. Dann waren da auf einmal all die anderen gewesen, sie hatten ihn umringt, auf ihn eingeredet, ihm auf die Schultern geklopft, und Anregungen gegeben. Nachdem Davies zum Landrover zurückgekehrt war, tastete er seinen Oberkörper nach dem Schlüssel ab. Er wusste noch, dass er ihn in die Taucherjacke gesteckt und danach die Tasche zugezogen hatte. Verflucht, wo war seine Jacke? Noch während er überlegte, sah er ihre vertrauten Umrisse auf der Kiste, in der er seine Ausrüstung aufbewahrte, im Laderaum des Geländewagens liegen. Auch seine leere Sauerstoffflasche war dort, ordentlich verstaut mit Schwimmflossen und Maske. Schließlich fand er den Schlüssel, stieg ein und fuhr auf dem unbefestigten Weg los, wobei er fortwährend den Kopf schüttelte, wegen all der verwirrenden Bilder, die aus seinem Unterbewusstsein hochkochten.

      Offensichtlich hatte er eine Form von Neurose erlitten, herbeigeführt durch irgendeine Druckanomalie. Patsy … hatte er vor dem Tauchgang nicht an sie gedacht? Ihm fiel plötzlich ein Kichern ein, das zwischen den Bäumen verhallt war. Die Neurose musste wohl seine verborgenen Geheimnisse im Zusammenhang mit seinen Aufenthalten in Thailand sowie seine Schwäche aufgedeckt haben, woraufhin sich seine jüngsten Gedanken damit vermischt hatten.

      Er konnte froh sein, überhaupt noch zu leben.

      Davies schrieb das letzte Wort an die Tafel und blieb dann mit schlaff herabhängenden Armen stehen, ohne sich zu seiner Klasse umzudrehen. Mehrere Schüler stöhnten erschrocken auf – Claire am lautesten, wie sie selbst feststellte. Dann war es wieder still, während sie erstaunte Blicke wechselten und schließlich noch einmal an die Tafel schauten … auf die Worte über dem Kopf ihres Lehrers.

       Dieser bewegte sich immer noch nicht.

      David betrat sein Haus und sackte sofort im Bett zusammen, kaum dass er sich krankgemeldet hatte. Heute Unterricht halten? Keine Chance. Sein ansonsten so fitter Körper fühlte sich ausgelaugt und verbraucht an. Er duschte nicht einmal. Darauf stellten sich Träume ein. Stimmen im Finsteren. Die Mädchen in Thailand suchten ihn wieder heim, gemeinsam mit Patsy und dem unbekannten Jungen. Hinterher sah er Eric Callaghan, einen ehemaligen Kollegen. Dessen vom Alkohol aufgequollene Züge schwebten vor ihm, als beobachte er ihn direkt unter der Wasseroberfläche eines kalten Teiches. Eric redete, aber Davies verstand ihn nicht. Er erinnerte sich daran, dass er versucht hatte, nach ihm zu rufen, konnte jedoch weder sprechen noch sich bewegen, beides noch stärker erschwert als üblich in Träumen. Er war bloß ein Zuschauer, also wandte er sich mit einer inneren Stimme an Eric, und dieser hörte ihm daraufhin aufmerksam zu.

      Dann befand er sich plötzlich wieder in der Schule. Es war anscheinend ein langer Traum gewesen. Wie von außen schaute er in die vertrauten, jungen Gesichter auf dem Flur, während sie ihn grüßten, was er nur an ihren Mundbewegungen erkannte. Er fühlte sich bestürzt, weil sie vor ihm zurückzuschrecken schienen, als er den Blick auf sie richtete. In seinem Traum wurde Davies klar, was sich in den Gesichtern seiner geschätzten Schüler reflektierte, musste sein eigenes schlechtes Gewissen wegen der Fehltritte sein, die er sich geleistet hatte. Sie wissen es, dachte er. Dies war sein schlimmster Albtraum, denn sie kannten nun sein Geheimnis.

      Seine erste Unterrichtseinheit des Tages zog sich analog zu diesem Traum unendlich dahin. Er hatte sich um ein Lächeln bemüht, um das offensichtliche Unbehagen seiner Schüler zu lindern, doch dadurch war es anscheinend nur noch schlimmer geworden. Davies hatte seine Hand Worte schreiben sehen, die nicht seine eigenen waren. Dadurch, dass die Stimmen ihn mit versierter Leichtigkeit benutzten, war er zum Zaungast in seinem eigenen Körper geworden, zu einer Marionette aus Fleisch und Blut. Mit zunehmendem Entsetzen schaute er dabei zu, wie die Kreide das Undenkbare offenbarte.

      Sonny brach schließlich mit zittriger Stimme das Schweigen und fragte: »Sir, soll das ein Witz sein?«

      Davies rührte sich nicht.

      Nun stand Sonny auf.

      »Ich gehe jetzt zum Rektor.« Seine Stimme drohte, ihm zu versagen, weil sie erstickt von Tränen war. Claire hörte Stühlerücken, denn überall im Raum tat man es dem Jungen gleich. Sie selbst konnte sich jedoch nicht bewegen. Selbst als sie wahrnahm, dass jemand an ihrem Arm zerrte, war sie nicht in der Lage, die Augen von dem vertrauten Schriftbild des Satzes über Davies' Kopf abwenden.

      Ich bin ein Pädophiler!

      »Komm mit, Claire!«, drängte sie Jack und zog sie beharrlich hoch, bis sie aufstand. Endlich begann sie, sich zu bewegen, war aber immer noch außerstande, den Blick von der Tafel zu lösen.

      In ihren Träumen während der folgenden Nächte war sie überzeugt davon, dass jenes grauenhafte Grinsen in Davies' Gesicht sogar erhalten geblieben war, als er weiter ins Nichts an der Tafel gestarrt hatte.

      – 3 –

      Hauptkommissar Collins schaute hinauf zur Eisenbahnbrücke, rieb sich sein schmerzendes Knie und verzog das Gesicht. Seit ein paar Tagen erinnerte ihn die alte Bruchstelle an die Risiken, die sich beim Springen aus der Höhe ergaben, doch das war vor langer Zeit gewesen. Er beobachtete, wie seine Männer verdrossen durch das Gestrüpp von Ross' Grundstück streiften. Auch ihm missfiel der Gestank, der vom Klärwerk und den Pflanzen am durchweichten Flussufer in der Nähe ausging. Patricia Bourne und Martin Clear wurden nun schon seit fast einer Woche vermisst, und der einzige Verdächtige war ein grinsend dahinvegetierender Schizophrener in der Rennick-Psychiatrie drüben in Halford. Der Lehrer hatte definitiv mit diesem Fall zu tun, und die Gerichtsmedizin würde bestimmt noch weitere Verbindungen herstellen können, doch bis auf Weiteres bestand seine Hauptpriorität darin, die beiden Jugendlichen wiederzufinden.

      Im Laufe seiner 25-jährigen Polizeilaufbahn hatte er nur zweimal mit Fahndungen dieser Art zu tun gehabt, jeweils mit einer Erfolgsrate von bloß fünfzig Prozent. Beim ersten Fall war es um ein achtjähriges Mädchen gegangen. Zum Glück hatte sich der Vater mit ihr am Bahnhof gestellt und für die Umstände entschuldigt. Mit einer Verwarnung und einer Gardinenpredigt vonseiten seiner Ex-Frau war die Sache dann geklärt gewesen. Als sich Collins an ihre heftige Schimpftirade erinnerte, fand er, ein kurzer Knastaufenthalt wäre vielleicht doch besser gewesen.

      Das andere Mädchen, Janice Stephens war jedoch nie wieder aufgetaucht. Man hatte sie 1991 als vermisst gemeldet und seitdem nicht gefunden. Alle Nachforschungen waren ins Leere gelaufen. Collins, seinerzeit noch Kriminalmeister, hatte Klinken geputzt und Dutzende ihrer Bekannten aus der »alternativen« Szene verhört: Alles Leute mit gefärbten Haaren, Batik-Klamotten und dem unmissverständlichen Duft von Cannabis in ihren Buden, wenn man ihre ständig qualmenden Räucherstäbchen mal außer Acht ließ. Er erinnerte sich daran, wie sich seine Ex am Ende eines ertraglosen Tages echauffiert hatte, er würde stinken wie ein ganzer türkischer Puff.

      Wahrscheinlich kannte sie sich tatsächlich damit aus, wie es dort roch.

      Janice oder für ihre Freunde Jan hatte tausend Pfund auf ihrem Bankkonto hinterlassen. Sie war buchstäblich wie vom Erdboden verschluckt. Man hatte sogar eine herumziehende New-Age-Gruppe aufgespürt, die kurz vor dem Verschwinden der jungen Frau durch die Stadt gekommen war. Laut Einschätzung der Polizei war sie vielleicht irgendeinem reizenden Aussteigertypen verfallen und hatte ihr bisheriges Dasein als Mittelklasse-Hippie für etwas Authentischeres aufgegeben. So etwas kam immer mal wieder vor. Leider aber alles Fehlanzeige; der Fall war bis heute ungelöst.

      Er war ungewöhnlich gewesen, doch Collins wusste aus Erfahrung, dass man nichts ausschließen durfte, wenn man mit dem Mensch als