DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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war und von seinen Schülern – derer sich infolge seines bizarren Geständnisses nicht wenige vor den Kopf gestoßen zeigten – geschätzt wurde, aber vor allen Dingen um einen normalen Typen in jeder Hinsicht.

      Klar, dachte Collins. Normal. Dieses einfache, inflationär gebrauchte Wort diente als Maßstab für mehr oder weniger schwere Empörung zu gegebenen Zeitpunkten innerhalb der Geschichte. Wer konnte schon definieren, was normal war?

      Geht nicht, fand er. Einige Jahre zuvor hatte er ein Buch gelesen, das sich mit dem Konzept der Tunnelrealitäten beschäftigte. Es war keine leichte Kost gewesen, größtenteils voll mit esoterischem Unfug und einer Menge Quantenphysik, mit der jemand wie Stephen Hawking Kopfkratzen heraufbeschwören würde, doch jene eine Theorie, nämlich dass Wirklichkeit subjektiv wahrgenommen wurde, hatte er behalten. Durch sie verstand er bis zu einem gewissen Grad besser, weshalb Verbrechen und die Motive dahinter ein so weites Feld waren. Mochte er auch nur ein Kleinstadtbulle sein, so hatte er nach einem Vierteljahrhundert quasi alles erlebt, was es in einem solchen gesellschaftlichen Umfeld gab: zahllose Vergehen aus Eifersucht, Mord und Totschlag, Misshandlung und Vergewaltigung. Drogendelikte waren allgegenwärtig, und Gelegenheitsdiebstähle rissen nie ab, doch falls es etwas gab, dessen er nie müde wurde, dann die Reaktionen der jeweiligen Nachbarn. Also, auf uns wirkte er immer ziemlich normal … Die Leute benahmen sich wie Experten in Sachen Durchschnitt, obwohl die Auffassung des Einzelnen von Gewöhnlichkeit durch den eigenen Erfahrungsschatz beeinflusst wurde, und wie sie ihre Erfahrungen deuteten, lenkte natürlich die Medien. Diese, so dachte Collins nun, würden sich jetzt an einem weiteren bloßgestellten Mitglied der lehrenden Zunft weiden. Dies war so sicher wie das Amen in der Kirche.

      Davies galt seit dem Anruf des Direktors als Verdächtiger. Als zwei Streifenpolizisten in der Schule eingetroffen waren, hatten sie den Lehrer mit der Nase direkt vor der Tafel verharrend angetroffen, augenscheinlich in einem Zustand der Katatonie. Der anstößige Satz stand immer noch klar erkennbar über seinem Kopf. Er war anscheinend, seit er diese vier Worte geschrieben hatte, nicht von der Stelle gewichen und hielt die Kreide immer noch in der Hand.

      Das Licht ist an, aber niemand daheim, hatte Detective Sergeant Heaney dem Kommissar später erzählt, und dieser kam nach einem eigenen Versuch, den Lehrer in seiner Zelle zu verhören, nicht umhin dem zustimmen. Davies hatte mit den Händen im Schoss dagesessen, den Kopf hängenlassen und mürrisch auf den Boden gestiert. Ihm nur ein einziges Wort abzutrotzen war unmöglich gewesen. Es hatte etwas Unheimliches an sich: Andrew Davies schien sich aus seinem Körper verabschiedet zu haben. Laut den Berichten, die Collins täglich aus der Anstalt erhielt, blieb der Zustand des Patienten unverändert.

      Während er zur Straße zurückging, wälzte er die wenigen handfesten Fakten, auf die er sich berufen konnte. Er sah voraus, dass sich die Proben frischer Erde vom Profil von Davies' Reifen aller Wahrscheinlichkeit nach mit jenen von den Spuren am Rand von Ross' Wald deckten. Wie borniert musste man sein? Niemand brauchte die Gerichtsmedizin dafür. Er hatte die neuen Reifenspuren selbst gesehen, und sie stammten eindeutig von einem großen Fahrzeug mit Allradantrieb. Sie waren durch die jüngst benutzte Taucherausrüstung, die sie in dem Landrover gefunden hatten, zum Wald geführt worden, deshalb die Suche hier. Diese war schmutzig gewesen, Anzug und Luftflasche verklebt mit Schlamm und Schilf vom Fluss.

      Als er zu seinem Wagen auf der Hügelkuppe zurückkam, drehte er sich um und überblickte noch einmal das Gelände. Hundeführer und einfache Polizisten schlugen sich gerade durch das Unterholz. Vorhin hatte einer seiner Constables einen Damenschlüpfer gefunden. Dieser war zwar als mögliches Beweisstück eingetütet worden, doch der Detective machte sich dahingehend keine großen Hoffnungen. Dreckige Unterwäsche in Ross' Wald aufzustöbern war so vorhersehbar wie Kondome in einem Bordell. Die Kids nannten die Gegend nicht umsonst Fickforst. Wäre er dazu geneigt gewesen, hätte Collins sogar selbst die eine oder andere Geschichte dazu erzählen können; war er aber zum Glück nicht.

      Von seinem Aussichtspunkt aus erkannte er den hinteren Teil der Brücke durch eine Lücke zwischen den Bäumen. Erneut rieb er sich geistesabwesend den Schenkel und die Bruchstelle, welche selbst nach all den Jahren, die seit seinem Sturz vergangen waren, nicht vollständig zu heilen schien.

      »Vielleicht liegt es an meinen zusätzlichen Pfunden«, murmelte er.

      »Verzeihung, Chef?« Ein junger Beamter war an seine Seite getreten und hörte Collins mit sich selbst reden.

      »Ich meinte, jetzt heißt es Warten«, log der Kommissar. »Worum geht es?«

      »Die Taucheinheit ist innerhalb der nächsten Stunde hier.«

      »Gut, danke.« Der Polizist nickte, sah zufrieden aus und ging den Fahrweg hinunter.

      Collins schaute zu, wie der junge Mann zum Fuß des Hügels lief, um die Suche fortzusetzen, und sah sich plötzlich selbst im gleichen Alter, während er an jenem sehr heißen Sommertag genau denselben Pfad genommen hatte. Dann fiel sein Blick wieder auf die Brücke. Man konnte sie von hier aus sehen, dachte er, und darauf folgte – zum tausendsten Mal, wie es schien: Wir hätten im Wagen sitzenbleiben und einfach auf sie warten sollen. Etwas Tee aus der Thermoskanne des alten Pete Sandal trinken und ihn eine seiner himmelschreienden Anekdoten aus seiner Anfangszeit bei der Polizei zum Besten geben lassen – ungefähr ein Jahrtausend zuvor, als Wachtmeister noch auf Drahteseln zu Einsätzen gefahren sind.

      Auch damals hatte man Taucher herbestellt, um den Fluss abzusuchen, doch der Moran-Junge war spurlos verschwunden. Collins hörte noch den Tratsch über die Unterströmung aus seiner eigenen Jugend – wer ihr zum Opfer gefallen sei und wann.

      So spielt das Leben, sinnierte er beim Einsteigen. Unter der Oberfläche brodelte es ständig: böse Hintergedanken und nagende Zweifel, Begierde, Schuldgefühle, Alkoholprobleme.

      Dass man hinuntergezogen wurde, geschah schnell.

      Sein Handy klingelte. »Ja?«

      Er hörte seinem Detective Sergeant mehrere Sekunden lang zu. Die Eltern hatten ihre eigenen Schlüsse aus dem Fall gezogen: Davies sei gewiss der Mörder, und jetzt gab es aus welchem Grund auch immer eine Demonstration vor der Schule. Als er die Verbindung trennte, fiel Collins ein, wie oben im Norden einmal beinahe ein mutmaßlicher Kinderschänder gelyncht worden war. Der Mann war Kinderarzt gewesen, und dieser Vorfall fasste einfach vortrefflich zusammen, wie es heutzutage um England bestellt war. Man stelle es sich vor: das Land Shakespeares.

      »Dann wollen wir mal«, sagte er seufzend.

      Jetzt fühlte sich Collins, als würde er hinuntergezogen.

      – 4 –

      Gegen Viertel vor fünf war das The Crown and Trumpet so voll wie nie während der Woche.

      Die Kundschaft setzte sich aus Anzugträgern zusammen, die in Immobilienbüros arbeiteten, ein paar Collegestudenten und einem verstohlenen Paar, das in der dunkelsten Ecke der Kneipe saß, als wolle es sich aus Angst vor einer Entdeckung verstecken. Zwei uralte Eheleute hingegen hockten an einem Tisch gleich vor dem Wandfernseher und ignorierten einander, wie sie es vermutlich an sieben Abenden die Woche taten. Auf dem Bildschirm, dessen Ton ausgeschaltet war, schwenkte nun die Kamera über das bekannte Terrain von Ross' Wald zu einem Reporter, der schließlich zu sprechen anfing.

      »Mach lauter, schnell«, drängte die Wirtin. Ihr Mann richtete die Fernbedienung auf das Gerät.

      »… zwei Tage nach ihrem Verschwinden steht die Polizei immer noch mit leeren Händen da.«

      Nahaufnahme eines Tauchers auf einem Boot, der vor seinen Kollegen den Kopf schüttelte.

      »Allerdings wurde Polizeiquellen zufolge ein ortsansässiger Mann festgenommen, doch weitere Informationen hält man bis zu einer offiziellen Anklage zurück.«

      Zoom auf ein Schild: Measton Highschool

      »Einige Bürger der Stadt scheinen eine ziemlich starke eigene Meinung zu vertreten.«

      Eine Gruppe empörter Eltern vor dem Schultor, die Parolen brüllen. Das fette, fleckige Gesicht einer Frau mit rot gefärbtem Haar, die in die Kamera wetterte.

      »Das ist Julie Pedlar«,