DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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hinausgeleitete. Und letztlich über die alte Brücke im Zentrum, die den nördlichen mit dem südlichen Teil verband – mancher hätte das Gegenteil behauptet – und zwar nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich. Oberhalb befand sich die Altstadt. Typische Kalksteinbauten, die auf die Zeit vor dem Verfall des Katholizismus im Land datierten, bildeten den Kern des Bezirks am Ostende der Hauptstraße. Fassaden aus der Regency-Ära zogen sich wie ein sauberer Schnitt durch diesen oberen Teil und führten zu den prachtvolleren Häusern der Geschäftsleute der High Street, Gutsbesitzer im Ruhestand oder wohlhabenden Familien, deren Reichtum auf die Industrialisierung der Stadt Anfang des 19. Jahrhunderts zurückging. Darauf folgten viele Morgen unbebauter Landschaft, die einzig von der Bundesstraße zum etwa zehn Meilen entfernt liegenden Nachbarort Rennick unterbrochen wurde. Hinter den Gebäuden mit ihren hochgezogenen Vorderseiten entlang der Hauptader führten schmale, gepflasterte Gassen – im Volksmund hießen sie The Shambles – zu Anwesen aus den Jahren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Kleine Wohnhäuser mit vier engen Räumen auf zwei Etagen, die sich in Yuppie-Kreisen, weil es als in und schick galt, zu Begehrlichkeiten entwickelt hatten, wohingegen andere baufällig waren, die längst kaputten Fenster waren verbrettert und mit Graffiti besprüht, und sie standen schon lange leer. Dieses Straßenbild brach abrupt ab, wo der Gartenbaubetrieb der Stadt beharrlich seine Stellung behauptete. Die zahlreichen Gewächshäuschen sowie ordentlich gepflanzten Reihen von Kohl, Bohnen und Frühlingszwiebeln wurden nur durch ein brachliegendes Stück Gemeindeland von der S-Biegung des Flusses getrennt, wo Hundehalter und Angler ausgetretene Pfade durch lange Gräser und Sträucher hinterlassen hatten, die sich alle unausweichlich zum Fußweg am Ufer wanden.

      Der Fluss blieb dabei die einzige Konstante.

      Generationen waren geboren worden und gestorben, doch er strömte immer noch auf seinem Weg durch das Land wie zähes Blut aus einem Schnitt im Fleisch der Stadt.

      Und er vergaß nichts.

      Erinnerungen ruhten im zur Mitte hin abfallenden Flussbett und in den von Moos überwucherten Furchen, welche die Gestade zeichneten. Die frühesten Siedler hatten Spuren ihres Daseins im Wasser als solchem hinterlassen, genauso wie jede weitere Generation, die Hirten und Fischern gefolgt war. Uraltes Wasser hatte sich mit Farbresten aus den Baumwollspinnereien und dem Industrieabfall des Jetzt vermischt, wieder und wieder schwemmte die ewige Flut Münzen mit Cäsars Kopf an Land, bevor sie ein weiteres Menschenleben lang im weichen Schlamm versanken. Ein Ehering mit der Inschrift D und B für immer funkelte in der Nachmittagssonne, während er am Grund mit der Strömung trieb und schließlich vor einem schon vor langer Zeit verrosteten Kindertretroller liegenblieb. Die Geschichte menschlicher Sterblichkeit spiegelte sich auf dem vier Meilen langen Abschnitt wider, den der Fluss durch die Stadt zurücklegte. Er war ein liquider Friedhof, eine Ruhestätte für rastlose Opfer des Verfalls oder des Schicksals, ein nasser Schlafplatz für all jene, die durch eigenes Verschulden oder die Taten anderer im Wasser den Tod gefunden hatten.

      Er erinnerte sich an alles.

      Er erinnerte sich an den Jungen, der am Ufer gesessen und von Banquos giftiger Wurzel gekostet hatte, woraufhin ihm himmlische Visionen erschienen waren, der Grund für das Kommen der Mönche. Deren schwere Fracht hatte der Fluss auf Flößen getragen, damit sie ihr Kloster bauen konnten, kolossal und doch flüchtig, weil es nur kurze Zeit später wieder verlassen worden war. Die Steine waren ins Wasser gefallen und dortgeblieben. Lange nach seiner Zerstörung, während sich die Tunnel mit dem aufsteigenden Wasser gefüllt hatten. Darin lagen die Schätze und schmählichen Geheimnisse der Mönche verborgen, allesamt längst vergessen von allen außer dem Fluss.

      Denn er erinnerte sich an alles.

      Männer mit Schwert und Sporn waren in die Tiefe gesunken, der Fluss dann rot von ihrem Blut geworden, das Zeit und Wasser wie alles andere verdünnt hatten. Er entsann sich auch der Leichenberge, die man hineingeworfen hatte – die schwarzen Wundmale auf ihrer Haut … Zeugnisse von Siechtum – sowie der hohen Scheiterhaufen, deren Funken über seine Oberfläche gestoben, zu Asche geworden und schließlich darauf niedergegangen waren.

      Er erinnerte sich an alles.

      Denn er war das Gewissen der Stadt, und die peinlichen Geheimnisse von Generationen ruhten in seinen finstersten Untiefen – ohne Segen, Billigung oder Fluch.

      Dorothy eilte durch den Wald und hielt ihr Kopftuch fest, damit der Wind es nicht fortwehte. Es war April 1908, und das Wetter typisch für diese Jahreszeit. »March winds and April showers«, trällerte sie vor sich hin, als sie über eine Schlammpfütze auf dem Feldweg hüpfte, und wie zur Antwort auf ihre Beschwörung kräuselten winzige Regentropfen die seichte Wasseroberfläche der Lache mit zusehends mehr kreisrunden Mustern. Zu beiden Seiten des Weges nickten blühende Bäume wie weise Waschweiber, als das Mädchen vorbeikam, und schickten ihm einen blau-rosafarbenen Konfettiregen hinterher.

      Er hatte sie gebeten, um halb fünf da zu sein, und so spät war es nun fast, wie sie an der Uhr am Rathaus glaubte gesehen zu haben, die sie auf ihrem Weg passiert hatte.

      Sie fühlte sich richtig beschwingt.

      Nachdem sie es geschafft hatte, an Mrs. Pelham vorbeizukommen, der oberen Mamsell, war sie rasch über das Rugbyfeld zu der Abkürzung durch den Wald gelaufen, von der außer den Jungs nur sie und ein paar andere Bedienstete wussten. Als sie schließlich Greenfield's Road erreicht hatte, war sie langsamer geworden und nun zügigen Schrittes weitergegangen. Unter den Passanten hier befanden sich viele Ältere der Jungen, und sie wollte keine ungebührliche Aufmerksamkeit erregen. Es war nämlich ein Haufen hochnäsiger Schnösel, insbesondere die Mütter, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. Ein Wort zum alten Pelham, und sie würde wieder nach Hause müssen, wo der Zorn und der Gürtel ihres Vaters sie daran erinnern würden, wie schwierig man heutzutage an gute Stellen gelangte. Als verstünde gerade er etwas davon … Niemand konnte sich daran erinnern, wann er zuletzt einer Arbeit nachgegangen war. Ihre Mutter und ältere Schwester hingegen hatten stets ohne Probleme welche gefunden. Denn die feinen Pinkel brauchten ständig Dienstmägde, doch um ehrlich zu sein, mochte sie diese Stelle tatsächlich.

      Wie all die anderen Mädchen war Dorothy mit dreizehn Jahren von der Schule abgegangen und in die Arbeitswelt getreten. Zuerst hatte sie sich als Küchenhilfe bei den Jacksons verdingt, den Posten aber so sehr gehasst, dass sie sich während der beiden Wochen, die sie es dort ausgehalten hatte, jeden Abend in den Schlaf geweint hatte. Noch im Dunkeln aufstehen müssen, um Roste zu säubern und Feuer zu machen sowie Messingware zu polieren, nachdem sich die Herrschaften zu einem betulichen Frühstück hingesetzt hatten, als sei sie überhaupt nicht da. Jedes Mal einen Knicks machen, wenn Sir, Madam oder eine der kleinen Misses vorbeiging – selbst in ihrem zarten Alter erkannte sie, dass das eine Menge Mumpitz war, nur weil die Jacksons viel Geld hatten. Die Verpflichtung war jäh zu Ende gegangen. Die Haushälterin hatte plötzlich gemeint, die Jacksons seien übereingekommen, man habe zu viel Personal, und da Dorothy als Letztes in den Haushalt getreten war, müsse sie auch diejenige sein, die ihren Hut nimmt.

      Auch das war Mumpitz.

      Der jungen Miss war in Wirklichkeit die hämische Freude im Gesicht des Mädchens aufgefallen, während es vergeblich versucht hatte, sie ins Ballkleid ihrer älteren Schwester zu zwängen. Ihr vor Wut hochrotes Gesicht war dann zu viel gewesen, weshalb sich Dorothy schnell mit einer Verbeugung verabschiedet hatte.

      Sie konnte sich gut vorstellen, wie sich die junge Miss lispelnd bei ihrer Mama über sie – das ungezogene Küchenmädchen – beklagt hatte, doch das war ihr egal gewesen. Selbst der Gürtel ihres Vaters hatte nichts daran geändert. Dann aber war ihr der Posten in der Mittelschule zugefallen, woraufhin sich alles verändert hatte.

      Drei Jahre hatte sie dort gearbeitet, bis sie ihm begegnet war.

      Zuerst hatte sie es als seltsam empfunden, überall das Durcheinander von diesen Jungen zu beseitigen. Diese führten sich manchmal auch auf wie die Jacksons, so als würden sie ein Vorrecht genießen und erwarten, dass jemand für sie den Finger krumm machte – Zögern ausgeschlossen – doch die Tatsache, dass sie nicht bei sich zu Hause wohnten, schloss unsägliche Überheblichkeit aus, wie man sie von den kleinen Misses kannte. Ohne Mama, die jenes ununterbrochene, entrückt