DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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Wochen, und dies war sein sechster Tag in der Klinik. Er kannte das Spiel; Ärzte und Personal schienen seinem »Leiden« einen Stempel aufdrücken zu wollen, und machten ihm fast so viel Angst wie die Vorstellung, er habe tatsächlich irgendein Leiden. Deswegen hatte er Julian – nur der Vorname, kein Titel, der auf seinen Status als Mediziner hindeutete, keine faschistischen Etiketten hier im rechtschaffenen Brighton – ohne zu Zögern angelogen. Ganz kurz hatte er sogar geglaubt, der bärtige Psychiater nehme es ihm ab.

       Er hatte behauptet, sich »starkes Acid eingefahren« und einen »schlechten Trip« erlebt zu haben, nichts weiter. Die Zurechtweisung, die darauf gefolgt war, war so halbherzig wie vorhersehbar gewesen – die Risiken von Drogen et cetera, et cetera. Die Ironie der Tatsache, dass Julian Weaver danach eine ganze Apotheke voller Pharmazeutika verschrieben hatte, war weder dem Arzt noch seinem Patienten entgangen. Timothy Leary und seine LSD-Therapie: Ein Mann, der in Orange County wegen Besitzes eines halben Joints zu über dreißig Jahren Haft verurteilt worden war. Leary hatte die Vorzüge des Halluzinogens hochgehalten und darauf hingewiesen, dass es sich bei korrekter Betreuung des Konsumenten positiv auf dessen Leben auswirkte. Ein Blick auf Julian genügte, um sicher zu sein, dass der Doktor selbst mit Acid experimentiert hatte.

       Man sieht es einfach, dachte Weaver. Außerdem wusste Julian wiederum, dass er es wusste. Nachdem sie diese Farce durchgezogen und ihre erwarteten Rollen in überdrüssiger Vollendung gespielt hatten, verlor Julian anscheinend das Interesse und verließ Weaver, um dessen Pflichtaufenthalt fortan auszusitzen. Weil er von der Polizei eingewiesen worden war, musste er nur eine Woche unter lockerer Beobachtung dableiben, was bedeutete, dass er sich täglich über weite Strecken hinweg mit Arzthelfern auf dem Zimmer herumschlagen musste.

      Nach dem Vorfall in seinem Bad war Weaver wieder zu sich gekommen und in die Feinbäckerei im Erdgeschoss geplatzt. Falls das wirre Gerede über Dämonen die Kundschaft nicht zur Genüge empört hatte, dann sicherlich der Umstand, dass er nackt gewesen war, woraus sich ein Polizeieinsatz und die folgende Prozedur der Einweisung in die Anstalt ergeben hatten.

      Nackt, verdammt noch mal.

      Als seine anfängliche Bestürzung darüber nachließ, ausgeflippt zu sein – so sehr er sich auch bemühte, ihm fiel doch nichts Passenderes als dieser lächerliche Ausdruck ein – wünschte sich Weaver nichts so sehr, als in seine eigene Welt zurückkehren zu können, einem Leben fernab jeglicher Medikamente, Bettnachbarn mit verräterisch braunen Ringen unter den Augen und einer selbstgedrehten Zigarette nach der anderen.

      Er sehnte sich nach der Gewöhnlichkeit seines Alltags zurück. Es gab Phasen, da lag er in seinem Bett und nahm die unterschiedlichen Eindrücke menschlicher Gebrechen, die von anderen Patienten auf der Station ausgingen, in sich auf oder befürchtete, die Normalität nie mehr wiederzufinden. Er glaubte, etwas Grundlegendes habe sich geändert, weshalb er jetzt einen neuen, erschreckend unsicheren Weg beschreiten musste. Der Fluch später Einsicht zwang ihn dazu, seine vormals zynische Einstellung gegenüber seinem Umfeld und das, wozu sein Leben verkommen war, zu verdammen. Was einmal mittelmäßig gewirkt hatte, wurde nun Gegenstand seiner Träume. Wie sollte er sein altes Leben jetzt einfach wieder aufgreifen können? Er glaubte nicht, dass man ihm weiterhin Brot und Suppe auf die Treppe stellen würde, die er gemeinsam mit dem Personal der Bäckerei benutzte. Und hinter all diesen Bedenken nagte außerdem beständig die Gewissheit an ihm, er verliere langsam aber sicher den Verstand.

      »Sie sind sich also sicher, es nicht gemalt zu haben?«, fragte James wieder.

      James »Predator« King begleitete ihn bei seinen täglichen Rundgängen durch den Krankenhauspark. Weaver hatte nach drei Jahren wieder mit dem Rauchen angefangen; anscheinend tat es jeder hier, also hielt er es praktisch für eine Ehrensache, sich ihnen anzuschließen. Blättchen wie Endlospapier zwischen einer Auslese gelb gewordener, abgekauter Fingernägel. Wenn er nicht gerade schlief oder Nachmittagsspielshows ansah, die Männer im besten Alter in grellen Jacketts mit orangefarbener Bräune moderierten, spazierte und redete er mit den vielen jungen Pflegeassistenten der Psychiatrie, die sich in acht Stunden Schichten die Klinke in die Hand gaben. Dazu zählten Neil, der einen Pferdeschwanz hatte, die kahl geschorene Claire, Fiona mit ihren sensationellen Titten und eben James. Er war mit fast zwei Metern Körpergröße bei knapp dreihundert Pfund ein Riese und fiel selbst in Brighton auf, wo Seltsamkeit fast schon zu den Grundvoraussetzungen gehörte. Seine blonden Dreadlocks reichten ihm bis zu den Schultern, und sein Gesicht wurde von einem stark ausgeprägten Bart umrahmt, in den er ungewöhnliche Streifenmuster rasiert hatte. Aufgrund seiner Statur und Frisur nannte ihn der Rest der Belegschaft mit Bezug auf das Alien aus dem gleichnamigen Schwarzenegger-Streifen den Predator. Weaver beließ es gern einfach bei James. Alle anderen schienen nur darauf zu warten, dass ihr Arbeitstag vorbeiging. Sie befanden sich auf dem Sprung und dachten bereits daran, was sie mit der Zeit anfangen würden, die ihnen noch übrig blieb, aber James war wirklich da.

      »Das ist das Problem: Nein, ich bin mir momentan nicht sicher, und das egal, worum es geht.«

      James ließ sich auf einer Bank nieder, die gerade von einem Mädchen mit vernarbten Armen und nur noch büschelweise Haar verlassen worden war. Das Holz knarrte unter seinem enormen Körper. Am Boden lagen überall Zigarettenstummel. Er seufzte.

      »Wissen Sie, ich dachte gerade daran, was Ihr Freund Paul zu Ihnen gesagt hat. Dass es möglicherweise ein Selbstporträt sei.«

      »Unmöglich.« Weaver setzte sich zu James' Füßen ins Gras. »Erstens kenne ich meinen eigenen Stil, und zweitens: Wieso sollte ich verdrängen, ein Bild gemalt zu haben? Ich trete mir schon seit Wochen selbst in den Hintern, weil ich nicht imstande bin, irgendeine Arbeit fertigzustellen. Und das Komischste daran ist: Ich fühle mich tatsächlich mit diesem Gemälde verbunden.« Er ging dazu über, laut zu denken. Das hatte er James schon einmal erzählt. »Es bedeutet mir etwas. Das weiß ich, aber worum es dabei genau geht, darauf komme ich einfach nicht.«

      »Sie sagten, es sei gut.«

      Weaver grinste. »Es ist klasse«, gestand er.

      »Aber man liest doch ständig über solche Fälle: Automatisches Schreiben und Leute, die unter Hypnose Fähigkeiten an den Tag legen, von denen sie sonst nie geträumt hätten. Mann, ich weiß auch nicht … Haben Sie schon einmal Fortean Times gelesen?«

      Nun lachte Weaver leise, weil er an Paul denken musste. »Ich kenne zufällig einen Abonnenten.«

      »Okay. Na ja, als Ihr psychiatrischer Betreuer sollte ich eigentlich nicht so mit Ihnen sprechen.« James tat so, als würde er sich wahnhaft beklommen umschauen, wobei seine Zöpfe durch die Luft peitschten. »Ich will ja keine Paranoia, unangemessene Vorstellungen oder Ähnliches provozieren, aber Sie kommen mir in Ordnung vor.«

      »Danke.«

      »Keine Ursache, aber was ich damit eigentlich sagen wollte: Solche Sachen passieren wirklich. Es gibt Menschen, die blitzartige Visionen davon haben, wie ihre Schwester auf der anderen Seite des Atlantiks einen Verkehrsunfall baut.«

      »Das kann ich mir ohne Weiteres vorstellen«, murmelte Weaver.

      »Und zu Recht« fuhr der Pfleger fort. »Es ist schon zu oft ganz gewöhnlichen Leuten passiert, als dass man es ignorieren könnte. Ob es nun Ihre Oma ist, die zum Heiligen Antonius betet, damit ihr Ehering wieder auftaucht, irgendeine alte Schachtel, die zu den Toten spricht und jemandem sagt, wo seine bessere Hälfte die Briefmarkensammlung von unschätzbarem Wert versteckt hält, oder daran, dass Sie hypnotisiert zu der Einsicht gelangen, in einem früheren Leben Sitting Bull gewesen zu sein – man kommt einfach nicht umhin, einen Teil von alledem für wahr zu halten. Es kommt einfach zu häufig vor, zumal es nicht nur von irgendwelchen Bauern kommt, die mitten in der amerikanischen Einöde Mais anbauen und Inzucht betreiben.«

      Weaver musste wieder lachen.

      »Und was soll das jetzt heißen … dass ich von Außerirdischen gemalt worden bin?«

      James zog eine gepiercte Augenbraue hoch. »Seien Sie nicht sarkastisch, sondern bewahren Sie sich einen offenen Geist für alle Möglichkeiten.«

      »Ich kann nicht fassen, dass Sie mich dazu ermutigen, solche Gedankengänge zu verfolgen. Sollten Sie nicht vielmehr Bericht über meine