DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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half, es zu verarbeiten. Deshalb erzählte er ihr alles: von dem Gemälde und seinem Zerwürfnis mit Paul, dem Eklat in der Bäckerei und seinem Erlebnis heute Nachmittag.

      »Steck es dir ins Auge?«, stutzte Diana. »Was soll das bedeuten?«

      Weaver schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung – vermutlich, dass ich bescheuert bin.« Diana beugte sich über den Tisch und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

      »Warte, ich besorge dir etwas Anständiges zu trinken«, sprach sie und ging zum Tresen. Als sie zurückkam, ließ sich Weaver einen doppelten Whiskey von ihr geben, bedankte sich und verzog das Gesicht, als ihm der erste Schluck in der Kehle brannte.

      »Der Junge – Grant – ist nie gefunden worden. Man suchte den Fluss systematisch nach ihm ab, doch meines Wissens nach ist er nicht mehr aufgetaucht.«

      »Denkst du, das hat etwas mit dem zu tun, was dir gerade passiert?«, fragte Diana.

      »Ich weiß es nicht.«

      Sie überlegte einen Moment lang. »Findest du nicht auch, dass Flüsse seltsam sind?«

      Nun schaute Weaver sie entgeistert an.

      »Gewässer, die an unseren Leben vorbeilaufen, wie sie es schon seit Jahrtausenden tun. Sie spenden uns Kraft und gewährleisten unser Überleben, erinnern uns aber auch konstant an unsere Vergänglichkeit.«

      »Wie das?«, hakte Weaver nach.

      »Tod durch Ertrinken, Überflutungen, Selbstmord … nasse Gräber.«

      Es ist die Unterströmung, verstehen Sie?, dachte Weaver und schauderte. Jene Worte schienen den Morast am Grunde seines Geistes weiter aufzuwühlen, sodass weitere Erinnerungen und Assoziationen in ihm hochstiegen und nur langsam wieder in der Versenkung verschwanden.

      »Der Meas – der Fluss, der durch meine Heimatstadt fließt – kam schon mehrmals in meinen Träumen vor«, sagte er.

      »Tja, das wundert mich nicht angesichts dessen, was passiert ist«, erwiderte Diana.

      Er schüttelte den Kopf. »Das reicht sogar noch weiter.«

      »Was meinst du damit?«

      An wichtigen Punkten in seinem Leben, egal wo er sich gerade aufhielt, war der Fluss in seinem Unterbewusstsein präsent gewesen, in seinen Träumen oder Gedanken aufgetaucht – und jetzt, wo er genauer überlegte, auch in seinen Kunstwerken.

      »Ich träume immer noch manchmal von ihm«, erklärte er.

      Diana nickte. »Kannst du das genauer beschreiben?«

      Weaver schaute zum Tresen hinüber. Die Gewitterwolken über dem jungen Paar hatten sich verzogen, was ihm schon an ihrer veränderten Körpersprache aufgefallen war. Jetzt beobachtete er, wie die beiden den Karaoke-DJ beim Zeitungslesen störten.

      »In der Nacht, als meine Mutter starb, träumte ich davon, wie sie über dem Fluss dahinschwebte und langsam über dem Wasser niederging. Ich versuchte sie im Schlaf zu rufen, schaffte es aber nicht – das kommt ja häufig vor in Träumen – ich wollte sie dazu bringen, mich zu hören.«

      Diana sah ihn teilnahmsvoll an, deshalb hustete er verlegen und fuhr fort: »Verstehst du, ich wusste im Traum, dass sie sterben würde, wenn sie das Wasser berührte. Dann wachte ich auf, weil das Telefon klingelte. Ich ging ran, und es war meine Tante Susan, die mir sagte, Mutter sei tot.«

      Diana drückte seine Hand. Wenngleich seine Mutter vor vielen Jahren gestorben war, wirkte die Erinnerung dadurch, dass er sie sich wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, besonders intensiv und eindrücklich, irgendwie schlimmer als jene alte Kriegswunde bei Regenwetter, mit der man Kummer zuweilen nach langer Zeit verglich.

      »Vielleicht hast du dich durch diesen Traum unwillkürlich versucht, auf ihren Tod vorzubereiten«, sinnierte Diana. »Ist sie sehr lange krank gewesen?«

      Weaver blinzelte sie an. »Nein, so war das nicht«, stellte er klar. »Es war nicht vorherzusehen, dass sie sterben würde. Für uns geschah es unglaublich plötzlich. Ich hatte keine Ahnung davon, weder bewusst noch in irgendeiner anderen Art und Weise.«

      Die Lautsprecheranlage ging mit einem leisen Knacks an, woraufhin er mit einem Ohr hörte, wie der DJ ankündigte, Gordon und Alison würden nun ihre Liebe mit der Aufführung eines Stückes feiern, das vom Verlust jenes innigen Gefühls handle.

       Diana sah Weaver mit einer schiefen Grimasse an, und er grinste zerknirscht zurück.

      »Herzukommen war deine Idee«, meinte er.

      Während Gordon tief in Alisons Augen schaute, flötete er, sie schließe sie nicht mehr, wenn er ihre Lippen küsste. Dann tat er es, und sie machte die Augen tatsächlich nicht zu. Weaver fiel es schwer, den Blick von der Bühne abzuwenden, so wie es manchmal der Fall war, wenn man an einem Verkehrsunfall vorbeikam.

      Diana nippte an ihrem Gin Tonic und schaute ihn ernst an. »Hinsichtlich deiner Erfahrungen überrascht es mich, dass du nicht willens bist, die Existenz anderer …« Sie winkte vage mit einem Arm, »…. Aspekte des Daseins anzuerkennen. Wie kannst du Phänomene solcherart erleben und nicht daran glauben, dass es vielleicht mehr gibt, als wir begreifen können?«

      Weaver überlegte. »Es ist ja nicht so, dass ich alles strikt ausschließe oder ausschließen will«, relativierte er dann. »Ich möchte bloß nicht darüber nachdenken, weil ich mich dabei unwohl fühle.«

      »Du musst dich aber der Tatsache stellen, David«, entgegnete sie. »Meiner Meinung nach besteht kein Zweifel daran, dass du einen bleibenden Schaden davongetragen hast, nachdem du fast gestorben wärst.«

      »Gestorben bin«, berichtigte er sie. »Jedenfalls vorübergehend.«

      Diana warf ausdrucksvoll die Arme hoch. »Na dann erst recht. Ein anderer Junge hat sich geopfert, um dir das Leben zu retten. Ob paranormal oder psychologisch bedingt: Tatsache bleibt, dass du etwas austreiben musst. So oder so wirst du anscheinend von irgendetwas heimgesucht.«

      Gordon sang nun, Alison sei jenes innige Gefühl abhandengekommen.

      Direkt als Weaver seinen Whiskey leergetrunken hatte, wollte er einen weiteren bestellen.

      »Und was mache ich jetzt?«

      Diana lächelte und wiegte den Kopf hin und her. »Du musst tun, was richtig ist für dich.«

      Er seufzte. »Dann versuche ich, es einfach zu vergessen.«

      Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Ich denke nicht, dass das funktionieren wird, du etwa?«

      Weaver zog die Schultern hoch, ahnte aber, dass sie Recht damit hatte. So sehr er sich auch bemühen würde, es zu verdrängen, neigte Erlebtes eben doch dazu, immer wieder hochzukommen. Der Fluss lässt dich nicht vergessen, dachte er und erschauderte wieder. Der Fluss selbst vergaß nichts.

      Er schaute dabei zu, wie das glückliche Paar die Bühne Arm in Arm verließ, und nahm sich vor, mehr zu trinken.

      Zwischenspiel 1

      Der Fluss 1

      Stromaufwärts, stromabwärts

      Der Fluss mäanderte durch die Stadt, bevor er einen Bogen um hundertachtzig Grad beschrieb – der Schwanz eines schlummernden Drachens, der sich um die zentralen Teile des Ortes wand, dann am Rande der aussterbenden Vororte vorbei, bis er sich schließlich in einem weiten U, das die Nordgrenze markierte, zurück in die Gegenrichtung schlängelte, wo die Stadt in das Dorf Ramsey überging, eine selbstständige Enklave, die zwar geografisch mit Measton verbunden war, doch ebenso gut hätten Berge und ein Ozean dazwischenliegen können, wenn man die Einstellung der jeweiligen Bewohner in Betracht zog. Das Wasser ließ sich hauptsächlich an drei Stellen überqueren: Über die Eisenbahnbrücke, einen rostigen Riesen am Ostrand der eigentlichen Stadt, wo die Häuser und zersplitterten Bootsstege zusehends seltener wurden, je weiter der Strom träge an Meilen unberührter Natur vorbeifloss. Dann am anderen Ende der Stadt über die Klosterbrücke,