DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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der Schule. Dorothys ältere Kolleginnen wurden zu Mutterfiguren, wohingegen sie und mehrere andere Mädchen die Rolle von Schwestern einnahmen, mit denen man lachen und Späße treiben konnte. Bald wurde sie von vielen Jungs Dotty genannt, freute sich aber über diesen Spitznamen und die Herzlichkeit, welche damit einherging.

      Dann aber geschah eines Tages das Unvermeidbare, und Dorothys Welt war nicht mehr dieselbe.

      Bis dahin hatte sie erst wenige Erfahrungen mit Jungen gemacht. Oft träumte sie von ihrem holden Prinzen: Jemandem, mit dem sie vor der langweiligen Routine der Dienstarbeit fliehen konnte. Er musste auch nicht reich sein, solange sie nur beide glücklich und unabhängig sein würden, war es ihr gleichgültig. Sie wollte ihre Kinder in einem hübschen, kleinen Haus mit Gemüsegarten und Blumen vor der Tür großziehen. Ihr Prinz sollte kraft seiner Intelligenz und Wandlungsfähigkeit für sie sorgen. Er war attraktiv, aber bislang noch eine gesichtslose Gestalt, die mit großen Schritten durch ihre Luftschlösser stolzierte, während sie an Dutzenden von hartnäckigen Flecken an Hemdkragen rubbelte … bis der Neue sie schließlich eines Tages anlächelte.

      Ronald Bomford war der Sohn eines Gutsherrn und sechzehn Jahre alt. Endlich bekam ihr Prinz ein Gesicht.

      Dorothy war kürzlich siebzehn geworden und zu einer jungen Frau herangereift. Sie hatte schon vor Ronald Aufmerksamkeit vonseiten der Jungen erfahren, deren Blicke, ja sogar verstohlene Berührungen, wenn sie während der Pausen zum Klassenwechsel mit den Armen voller frischer Bettwäsche über die Flure gegangen war, allerdings ignoriert. Ronald machte so etwas aber nicht.

      Seine braunen Augen zeugten von Empfindsamkeit, seine Blicke von sinnstiftender Tiefe. Dorothy spürte, wie er sie ansah, wenn sie ihm zum Frühstück Rührei auf den Teller lud. Sie schaute mit anmutigem Wimpernschlag zu dem Stuhl hinüber, auf dem er lässig Platz genommen hatte, sodass die Morgensonne durch sein helles Haar schien. Er lächelte ihr immer wieder zu.

      Dorothys Mutter hatte oft behauptet, wenn man den Richtigen treffe, wisse man es sofort. In jenem Moment wusste sie, dass die Frau recht hatte, denn es stimmte: Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie wirklich verliebt.

      Sie litt jeden Tag und jede Minute unter der süßen Qual der Hoffnung, ihn vielleicht zu sehen, und das Herz schien in ihrer Brust stillzustehen, wenn sie zwischen den Köpfen der anderen – denn ihr Märchenprinz stellte sich fürwahr als großer Junge heraus – tatsächlich einen kurzen Blick auf seinen Blondschopf erhaschen konnte. Ein anregendes Schwindelgefühl überkam sie beim bloßen Gedanken daran, er könne sie ansprechen. Dies ging eine schier endlose Zeit lang so weiter, bis sie sich eines Morgens an einem Fenstersims umdrehte, das sie gerade abgestaubt hatte, und ihn vor sich stehen sah – so nahe, dass sie die Seife riechen konnte, mit der er sich gewaschen hatte. Er schaute sie mit seinen ernsten, braunen Augen an und drückte ihr ein Stück Papier in die Hand. Mit Angabe einer Uhrzeit und einem Ort.

      Letzterer waren die Gärten auf dem Weg hinunter zum Fluss. Sie hatten an jenem Tag und beim nächsten Treffen nur miteinander geredet. Das Dritte war mit einem Kuss zu Ende gegangen. Beim Sechsten hatte sie ihm ihre Jungfräulichkeit geschenkt, im hohen Gras des Gartens unter den Bäumen, während der Fluss in der Nähe vorbeigerauscht war.

      Ihre Gespräche bedeuteten ihr mehr als der Liebesakt. Und dieser bedeutete ihr schon sehr viel, denn sie war wirklich eine Unschuld. Ihre Kenntnisse in dieser Hinsicht hatten sich auf zotige Wortwechsel zwischen einigen der verheirateten Frauen beschränkt, die mit ihr in der Schule arbeiteten, doch es waren die Schwärmereien von Liebe und Zukunft, die ihr Herz höherschlagen ließen.

      Zuerst hatte sie sich geziert.

      So unbedarft, dass sie nicht in Betracht gezogen hätte, jemanden wie Ronnie zu ehelichen, war sie nicht. Er genoss Wohlstand und hatte einen einflussreichen Vater; sie hingegen war nur ein gewöhnliches Mädchen, das mit dreizehn die Schule verlassen hatte. Ronnie blickte einer Universitätslaufbahn entgegen, nach der er in seines Vaters Fußstapfen treten sollte. Sie wiederum würde stets eine Frau aus der Arbeiterklasse bleiben, die immer haushalten und selbst für die schlichtesten Vergnügungen – von Haushaltskosten ganz zu schweigen – sparen musste.

      Ronnie wollte aber von alledem gar nichts wissen.

      Während sie im Gras lagen und durch das Geflecht von Ästen und Zweigen über ihnen zum Himmel schauten, gestand er ihr, wie sehr er seinen Vater und alles verachtete, wofür er stand, und dass er ihm, sobald sich die Gelegenheit dazu auftue, den Rücken kehren und seinem eigenen Weg folgen werde. Die Vorstellung, sein Leben in einem Geschäftsanzug fristen zu müssen und über die Leben von Lohnarbeitern oder Pächtern zu entscheiden, war ihm genauso zuwider wie die ständige Sorge seiner Mutter darüber, was denn die Leute denken könnten. Nein, Ronnie würde sich seinen Traum erfüllen. Er wollte Maler werden! Sein Vater tat die Begeisterung des Jungen für Kunst als Hirngespinst ab – als weibischen Zeitvertreib – doch er würde ihm beweisen, dass er es ernst meinte. Er hatte vor, mit ihr in eine Wohnung in Paris mit Ausblick auf die Cafés der Bohemiens zu ziehen und dort unter den Sternen Wein zu trinken. Obwohl sie noch keines seiner Werke gesehen hatte, glaubte Dorothy ihm jedes einzelne Wort. Falls seine Gemälde auch nur annähernd so überzeugend aussahen wie die Bilder, die er mit seinen Worten heraufbeschwor, brauchten sie sich wohl niemals Sorgen zu machen. Er würde auch sie malen und mit seinen Pinselstrichen für die Ewigkeit festhalten. Das, so hatte er ihr gesagt, täten große Künstler; wieder und wieder bildeten sie die Liebe ihres Lebens ab, weil sie versuchten, die Essenz dessen einzufangen, was sie liebten.

      Während sich Dorothy zur Gänze Ronnies Traum hingab, tat sie das Gleiche auch ohne Zögern mit ihrem Körper. Ihr erster Geschlechtsakt war unbeholfen und überhastet gewesen, und als die Wochen vergingen, ließen sie sich zunehmend länger Zeit, wobei sie lernte, sich in seinen Armen zu vergessen, und ihre anfänglichen Hemmungen abbaute. Es gab keinen Teil ihrer selbst, den sie ihm vorenthalten hätte.

      Als sie nun den Garten betrat – ihre Liebeslaube – roch es vertraut nach dem Fluss, dessen Wasser, über die Steine des Damms plätscherte, und wie verzückende Musik für sie war. Begab sie sich in diese Gegend der Stadt, kam es ihr immer so vor, als betrete sie eine andere Welt: Die Ausläufer jenes sagenhaften Reiches aus ihren Tagträumen, das sie vormals so weit entfernt geglaubt hatte.

      Er wartete an einen Baum gelehnt auf sie.

      Hinterher sollte ihr klar werden, dass sie da bereits gewusst hatte, dass sich etwas verändert hatte. Statt wie in den vorherigen Wochen ständig damit zu rechnen, alles würde enden, hoffte sie nun innig, es sei wirklich und kein inhaltsleerer Traum, doch als sie sein gesenktes Haupt – seine eine Hand lag flach an der Rinde des Baumes, die andere hielt er sich vor den Mund – mit den Augen einer Verliebten betrachtete, kehrte die schmerzliche Gewissheit wieder, ein Ende sei unabdingbar.

      Es sei nicht ihre Schuld, beteuerte er ihr. Sie anzuschauen war er nicht imstande, sein Blick schweifte durch das Gras und an ihrer Schulter vorbei auf die neu errichtete Eisenbahnbrücke in der Ferne – überallhin, nur nicht in ihr Gesicht. Es liegt an Vater. Dieser wusste nun von Dorothy und wollte, dass ihre Beziehung sofort aufhörte. Was sollte aus seiner Karriere als Maler werden, was aus Paris? Ihr gemeinsamer Traum wirkte plötzlich absurd, nun da sie ihn laut in Worte fasste. Sie wusste, es war vorbei. Ronnie schüttelte bloß den Kopf und wich ihrem Blick immer noch aus. Ihre Argumente hatten mittlerweile einen jämmerlichen Tonfall angenommen. Du hast gesagt, du würdest mich lieben.

      Sie dachte daran, wie schamlos sie ihm das Einzige zur Verfügung gestellt hatte, was sie besaß – ihre Unschuld und ihren Stolz. Wieder mied er ihren Blick. In einer Welt, wo ein Mädchen einem Mann nichts weiter schenken konnte als sich selbst, hatte sie diesen Knaben ausgesucht, und all das Gerede über Liebe war plötzlich bedeutungslos.

      »Liebst du mich nicht mehr?«

       Er stammelte wieder etwas mit dem Tenor, es sei nicht ihr Fehler.

      Warum kannst du mich nicht ansehen? Sie spürte, wie Zorn in ihr aufwallte, sich heiß und prickelnd über ihren Oberkörper und ihr Gesicht ausbreitete.

      »Du hast mich bloß benutzt, ist es nicht so?«

      Ronnie schüttelte den Kopf, obwohl er wusste, dass sie recht hatte