DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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wie ein laufendes Streichholzmännchen in der unteren Ecke eines Kindermalbuchs. Das Gemälde war mit Fingerfarben angefertigt worden, dann sah er eine Strichzeichnung: Kreide auf schwarzem Bastelpapier, schließlich Kohle auf weißem Untergrund, bis die Stimme bei ihm im Bad ankam und von den Kacheln zurückgeworfen wurde – ins Waschbecken, in alle Winkel des Raumes.

      insaueeckesirinsaue

      Überall ringsum, ein Dröhnen, Brummen und Schreien nicht nur einer, sondern vieler Stimmen. Er zog am Griff der Badezimmertür, doch sie war verschlossen. Hektisch rüttelte er daran, aber sie gab nicht nach. Die Stimmen tosten nun ohrenbetäubend laut um ihn herum und brachten, wie er feststellte, nun Worte zustande:

      Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck

      Weaver fiel auf die Knie und drückte sich die Hände flach gegen die Ohren, doch das half nichts. Die Stimmen umgaben ihn nicht nur, sondern waren jetzt auch in seinem Kopf. Sie klangen unterschiedlich aber zugleich auch wie ein und dieselbe. Entsetzt beobachtete er, wie die Worte Steck es dir ins Auge langsam am beschlagenen Badezimmerspiegel erschienen. Er schloss die Augen und schüttelte einmal mehr den Kopf.

      es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins Auge Steck es dir ins

      Plötzlich, von einem Moment auf den anderen erstarben die Stimmen.

      Es war nun absolut still.

      Während er auf der durchnässten Fußmatte kniete, die Hände schmerzhaft fest gegen seine Ohren presste und die Augen erbittert zukniff, sagte er sich Einbildung Einbildung Einbildung vor; ein gebetsmühlenartiger Versuch, sich zu beschwichtigen. Ich bin in der Wanne eingenickt, das muss es sein.

       Als er die Augen wieder öffnete, schaute er direkt in den Spiegel.

      Der Schrei kam aus dem Nichts: Unmenschlich und ohne ersichtlichen Ursprung, aber doch so allgegenwärtig, dass er jede Faser seines Wesens durchdrang.

      Die Worte waren immer noch da, gemeinsam mit dem Spiegelbild eines dünnen, dunkelhaarigen Jungen, der direkt hinter ihm stand.

      Dieser grinste ihn an und zwinkerte.

      Weaver war schon bewusstlos, bevor sein Kopf gegen das Waschbecken schlug.

      – 4 –

      Measton, später

      Die beiden Männer trugen die Leiche stumm zum Ufer, der Jüngere schwer atmend, weil es ihn im Gegensatz zu dem anderen, der einen Tauchanzug trug, extrem anstrengte.

      Seit der Ältere zugelassen hatte, dass die dunkle Seite des Jüngeren hervortrat, sprachen sie kein Wort mehr miteinander. Das leblose Mädchen lag nun zwischen ihnen. Es glich einem Traum, einem unsäglichen Albtraum, als die zwei Männer die Tote mit animalischer Hingabe vergewaltigt hatten.

      Einen Moment lang war Martin Clear auf die Geister in ihm gestoßen und hatte verzagt. Die Schatten wichen vom Rand seines Bewusstseins und linderten seine Ängste mit Bildern: Einer Reihe Gedanken, die bisher in den stillen Tiefen der Ursuppe seines Verstandes geruht hatten, einem Ort der Vergessenheit – von jeher. Dennoch flackerten die Erinnerungen an eine Dunkelheit in seinem dahinschwindenden Bewusstsein auf, die so alt waren wie der Sündenfall des Menschen selbst. Die Finsternis des Flusses zersetzte Clears zerbrechliche und eng begrenzte Wirklichkeit, bis sein verborgenes Ich in seiner ganzen Rohheit bloßgelegt worden war. Es gab sich den Stimmen hin, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

      Er wurde wieder zum Werkzeug.

      Als sie das Ufer erreichten, begannen sie, das Mädchen, dessen Name Patsy gelautet hatte, über dem Wasser hin und her zu schwingen, um Kraft zu entwickeln und es weiter werfen zu können. Zum exakt richtigen Zeitpunkt ließen die beide Männer los. Die Leiche flog in die Höhe und fiel dann mit einer eigentümlich eleganten Drehung, bevor sie im Wasser eintauchte.

      Sie schauten dabei zu, wie die Strömung den Körper flussabwärts trug.

      Einige Zeit später war Martin Clear wieder allein. Davies hatte sich davongemacht. Er wandte sich vom Fluss ab und kehrte durch den Fickforst zurück.

      Denn es gab viel zu tun.

      Patsys Leichnam schlingerte und trudelte mit einer Anmut unter Wasser, die sie zu Lebzeiten nie erreicht hätte, bis sie schließlich von der stärkeren Strömung vor der Staustufe erfasst wurde. Ein nächtlicher Angler hätte einen Arm gesehen, blau im Mondlicht, der eine nahezu perfekte Bewegung wie beim Kraulen vollzog, bevor die Tote auf die moosigen Felsen unterhalb des Wasserfalls der Anlage rollte. Dort blieb sie kurz liegen – als ruhe sie sich aus – bis sie aufgrund der Wucht, mit der die Massen herunterstürzten, in die dunkleren Tiefen des Meas entglitt, wo die berüchtigte, unberechenbare Unterströmung ihr turbulentes Spiel mit ihr trieb.

      Kapitel 3

      – 1 –

      Während Stunden zu Tagen und Tage zu Monaten geworden waren, hatte er die Welt wie aus dem Inneren einer Zwiebel wahrgenommen, die Häute nacheinander abgestreift, um die verzerrten Stimmen Stück für Stück verständlicher zu machen und verschwommenen Gesichtern ihre Schärfe zurückzugeben. Eine Zeit lang war die Taubheit fast behaglich gewesen, die Welt des Geldes und der Terminfristen, Beziehungen und Ängste ins seelische Hinterland verdrängt worden. Ein Traum von Wirklichkeit, der wenig bedeutete, reduziert auf fernen Verkehrslärm.

      Ja, eine Zeit lang war er wieder Kind gewesen und nach einem schrecklichen Unfall genesen. Der kleine Davey Weaver, fünf Jahre alt, blickte aus seiner Blase in betroffene Gesichter: Das seiner Mutter, die plötzlich verhärmt und alt wirkte, und jenes seiner Ex Fern, die neben seinem Freund Paul saß. Sie alle formten stumme Worte des Trostes und wechselten befangene Blicke.

      Merkwürdig, dass Fern und Paul da sind, dachte er. Fast zwanzig Jahre lang würde er weder sie noch ihn wiedertreffen.

      Seine Beine taten auch nicht mehr weh, also musste er schon sehr, sehr lange hier liegen.

      Während der ersten Tage, als die Schale der Zwiebel noch so dick gewesen war, dass er die Stimme von niemandem gehört, geschweige denn die Gesichter der Leute klar gesehen hatte, war Grant regelmäßig zu Besuch gekommen. Dieser hatte aber zuerst gar nicht gesprochen, sondern sich vielmehr zu Davey hinter das Glas gesetzt und trotz Daveys Fragen, wie es ihm gelungen sei, an der Flussbrücke zu überleben, sein typisch fieses Grinsen aufgesetzt. In seinen Träumen hatte er gesehen, wie sein älterer Freund unter der Oberfläche zu ihm aufgeschaut hatte, die Augen weit geöffnet und leer, während er eine Hand ausstreckte und von der

      Es ist die Unterströmung, verstehen Sie?

      Strömung hinabgezogen wurde, während er immer kleiner und dunkler wurde, je tiefer er sank.

      Außerdem begegnete er mitten im Traum seinem kindlichen Ich wieder, das gebeugt über einem Notizblock hockte, die Zungenspitze aus einem Mundwinkel streckte und mit schwarzem Stift die Figur – diese rätselhafte Gestalt malte. Untermalt wurde die Szene von der besorgten Stimme seiner Mutter und einer tieferen, unfassbar vernünftig klingenden Stimme, die sie beschwichtigte: Das ist völlig normal, ein bewusstes Mittel zur Verarbeitung des Traumas.

       Grant blieb währenddessen die ganze Zeit über bei ihm, grinste ihn weit aus dem Hintergrund seines Spiegelbildes an.

      Als sich die Zwiebel jedoch häutete und ihn mit der bitteren Realität konfrontierte, begann sein Freund, zu verblassen, bis Davey schließlich eines kalten Januarmorgens wieder auftauchte und ins Gesicht eines bärtigen Mannes mit gutmütigen Augen schaute.

      Dieser lächelte ihm zu. »Guten Morgen, Mr. Weaver«, begrüßte er ihn freudig und hielt ihm eine Hand hin. Davey nahm sie und spürte einen warmen, kurzen Druck. »Ich heiße Julian. Sie sind sicher und wohlauf in der Obhut des Royal Sussex Hospitals. Ich bin Ihr Arzt.

      Als er eine Woche später über das Krankenhausgelände spazierte, haftete selbst dieser Begegnung etwas seltsam Surreales