DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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      Als ihn die »Flaute« ereilt hatte, war er gerade an einem Gemälde mit dem vorläufigen Titel Nirwana Versuch IV zugange gewesen. Dabei handelte es sich um den vierten Versuch, eine Vision umzusetzen, die ihm ein Freund im Zuge von Erfahrungen mit Peyote im peruanischen Regenwald beschrieben hatte. Der Grundgedanke war jener, drei Sterne an einem klaren Nachthimmel anzuordnen, wobei er versucht hatte, den Eindruck des Näherkommens zu erwecken – das Gefühl, die Astralleiber würden sich vergrößern. Im nächsten Schritt hätte er dann die Visionen in den einzelnen Sternen abgebildet. Dies war ihm recht gut von der Hand gegangen, er hatte die Idee gemocht und die Komposition reizvoll genug gefunden, um sich dauerhaft damit zu beschäftigten. Eine kleine Galerie mit Buchladen und esoterischer Ausrichtung in Camden Town, die er kannte, wäre auf eine Reihe von Gemälden in diesem Stil bestimmt angesprungen, wie er geglaubt hatte. Dazu hätte er nichts weiter tun müssen als das, was er am liebsten machte: Malen.

      Nirwana Versuch IV stand allerdings unvollendet auf seiner Staffelei, und zwar schon seit einem Vierteljahr. Mit der Zeit hatte es Staub angesetzt, und sein Anblick reichte seinem Erschaffer mittlerweile zum Spott. Er wusste, egal was die Zukunft brachte: Dieses eine Projekt war tot.

      Und jetzt das!

      Die Figur auf dem neuen Bild sah, wie ein Mensch aus, bloß irgendwie verzerrt. In dem Licht, das durch die Fenster des Studios fiel, erhielt der schlammige Hintergrund einen schmutzig flaschengrünen Touch, während die angedeutete Gestalt nur in dunklen Brauntönen umrissen blieb.

      Weaver nahm bewundernd zur Kenntnis, dass eine sehr feinfühlige Hand den Pinsel geführt haben musste. Einen Körper vage zu halten und dennoch einen so markanten Eindruck zu hinterlassen stellte eine beachtliche Leistung dar. Die Ausrichtung des zentralen Motivs deutete darauf hin, dass es sich nach oben und zum Betrachter hin ausstreckte; seine Finger, falls es welche waren, entsprachen einem verschwommenen Gewirr von Linien. Streng genommen wirkte der Gesamteindruck umso formloser, je eingehender Weaver das Bild betrachtete, aber trotzdem kam es ihm bekannt vor. Es provozierte gegensätzliche Gefühle: Die tragende Dunkelheit und Einsamkeit der Gestalt verstörte ihn, während das Werk in seiner Gesamtheit an seinem Gedächtnis zerrte. Da bestand eine vergessene Verbindung, ein unterbewusstes Bild – etwas Urwüchsiges, das ihn zu der irrigen Annahme verleitete, eine Erinnerung freilegen zu können.

      Paul steckte seinen Joint an und zog einmal kräftig daran, dann blies er den blauen Dunst aus, der sich sogleich spiralförmig in die frühmorgendlichen Sonnenstrahlen hochschraubte. Einen Moment lang betrachtete er Weaver mit grüblerischem Gesichtsausdruck.

      »Wieso bist du überhaupt hier?«

      Nun rekapitulierte sein Freund die Geschehnisse kurz nach Mitternacht für ihn, Stichwort Unbefugter auf der Treppe.

      Paul grinste und hielt ihm den Joint hin, doch dieser lehnte ab. »Warum bist du dann nicht sofort zurückgekommen?«

      Das fragte sich Weaver mittlerweile auch. »Ich bin mir nicht sicher. Mir war einfach danach, spazieren zu gehen. In letzter Zeit habe ich wohl zu viel um die Ohren. Ich musste mal nachdenken, um mir über einige Dinge Klarheit zu verschaffen.«

      »Du bist also bei Windtemperaturen unter Null einfach so herumspaziert …«, er schaute auf seine Armbanduhr, »… fünf Stunden lang? Lustig.«

      »Nein, ich …« Weaver brach ab. Was genau hatte er eigentlich getan? »Ich habe mich ein paar Stunden lang ins All Night Café gesetzt und mit ein paar Leuten gequatscht.«

      Als Ausrede taugte diese Lüge überhaupt nichts, das erkannte auch sein Gegenüber – aber warum log er überhaupt? Paul zog die Augenbrauen hoch. »Alter, du bist völlig durch den Wind. Trink eine Tasse Tee, verzieh dich nach Hause und gönn dir 'ne Mütze Schlaf.«

      »Ja, ich weiß.« Weaver setzte sich auf den Hocker, den er immer benutzte, wenn er malte. Er war ausgelaugt, nur noch ein Schatten seiner selbst. Nachdem er seine Bartstoppeln gekratzt hatte, stand er wieder auf, und sein Blick fiel erneut auf die Figur auf dem Gemälde. Ihr rechter Arm war ausgestreckt, um … was zu tun … etwas zu greifen oder auf etwas zu zeigen? Er hörte, wie sich Paul hinter ihm erhob und seine Glieder dehnte. »Willst du jetzt einen Tee oder nicht?«

      »Ja, bitte«, antwortete Weaver. Er fühlte sich an einen Rorschachtest erinnert. Während er die Form dessen, was wohl das Gesicht sein sollte, falls es überhaupt eine Person darstellte, mit müden Augen betrachtete, hatte er das Gefühl, sie verändere sich ständig. Kringel und Wirbel, dachte er, alles nur Pinseltechnik.

      Paul schaute über seine Schulter und drückte mit einem Grunzen seine Anerkennung aus. »Wenn das kein Selbstporträt ist, Weaver, dann kennt der Maler seine Vorlage aber sehr gut.«

      Er schaute wieder auf den rätselhaften Klecks des Gesichtes. »Ich kenne niemanden, der so malt.«

      Paul lachte. »Tja, dafür kennt er dich, Kumpel.«

      »Was macht dich da so sicher?«

      Er lachte erneut und zeigte auf das Bild. »Na, als wüsstest du das nicht selbst, altes Haus«, entgegnete Paul. »Das bist du!«

      Weaver wandte sich von der Leinwand ab und vergewisserte sich, wie Paul ihn anschaute: todernst. Er selbst stand kurz vor einem Wutausbruch.

      »Ich koch dir jetzt ein Tässchen Tee, mein Freund, dann gehst du nach Hause und machst dir mal Gedanken.« Paul ging zur Küchennische. »Vor allem darüber, aus welchem Grund du mich mit diesem ganzen Quark zum Besten halten willst.«

      – 2 –

      Measton, 15. Januar, 21:10 Uhr

      Schon bei Tag war es schwierig, dem Pfad durch den Wald zu folgen, aber in dieser Nacht war es nahezu unmöglich. Wenn sich die Wolkendecke vorübergehend zuzog, herrschte vollkommene Dunkelheit, bis der Mond ihnen den Weg abermals vorgab.

      »Hör mal, es tut mir leid«, fuhr sie fort. »Es liegt nicht an dir, sondern an mir.«

      Das war totaler Mist. Es hätte die Nacht schlechthin werden sollen. Er hatte schon seit Wochen auf diesen Augenblick hingearbeitet, Vorkehrungen getroffen und eine Menge Opfer gebracht, doch jetzt ging er mit einem Riesenständer in der Hose mitten durch den Fickforst, wie seine Altersgenossen den Wald liebevoll nannten, während seine Ohren vor den – so hörte es sich zumindest an – üblichen Ausflüchten förmlich klingelten.

      »Was ist es denn genau?« Versuch, nicht so verzweifelt zu klingen, ermahnte er sich. Cool bleiben, noch ist nicht alles verloren. Immerhin waren sie schon so weit gekommen. Als sie sich unter einen Weidenbaum stellten, der nur wenig Schutz vor der beißenden Kälte bot, mit dem Himmel voller Sterne und einem Halbmond als gefälliger Zugabe über ihnen, sah sich Martin Clear zum Optimismus veranlasst.

      »Ich kann es ihm einfach nicht antun, das ist alles.«

      Mann, nicht schon wieder diese Leier. Na, dann mal los …

      »Er wird es nicht spitzkriegen. Außerdem hast du selbst behauptet, er sei schwul.«

      Patsy Bourne schaute in sein Gesicht. Die naive Sorge für ihren ehemaligen Freund lenkte nur am Rande von ihrem offensichtlichen Verlangen ab, mit dessen bestem Kumpel Sex zu haben. Martin streckte sich mit einer Geste nach ihr aus, die fast zärtlich wirkte. Sie ging zu ihm, jedoch nicht ohne die Arme vor ihrer berüchtigten Brust zu verschränken. Titsy Bourne wurde sie weithin genannt. Martin umarmte sie auf eine Weise, die er als mannhaft empfand, und widerstand dem Drang, sich dabei an ihr zu reiben wie ein läufiger Pudel. Sich an ein Mädchen zu lehnen tat so gut. Eine bessere Gelegenheit, es mit einem zu treiben, hatte sich schon seit einer ganzen Weile nicht für ihn aufgetan. Von den Zweifeln, die ihm insgeheim gekommen waren, wollte er jetzt nichts mehr wissen. Seine Kameradschaft mit dem jungen Mann, der vielleicht homosexuelle Neigungen hatte, löste sich auf wie die Aspirin-Tabs seiner Mutter.

      »Meine Freundin Sarah glaubt, er warte nur auf den richtigen Zeitpunkt. Ihr zufolge sei er so respektvoll, weil er mich wirklich mag.«

      »Ach, der hat doch 'nen Knall«, hielt Martin dagegen. »Ich meine, ich mag dich auch richtig, richtig gern und kann kaum die Finger von