DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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      – 1 –

      Brighton, 15. Januar 2001, 7:20 Uhr

      »Ich habe das nicht gemalt«, behauptete er und drehte sich in die Richtung, wo Paul unter seiner treuen Decke lag, anscheinend unbewegt seit Weavers Aufbruch am Vortag nach Mitternacht. Paul schlief oft im Studio, denn dort war es wärmer als auf seinem Zimmer in dem Haus nahe Preston Park, das er mit Freunden teilte. Weaver hatte nach seiner seltsamen Begegnung auf der Treppe zu seiner Wohnung im Studio aufschlagen wollen – für eine weitere versackte Nacht in dem Sessel mit Diamantmuster, den Hausbesetzer nach der Auflösung ihrer WG gespendet hatten – es aber dann doch nicht geschafft. Er fühlte sich überspannt und bis ins Mark durchgefroren, nachdem er stundenlang ziellos durch die Straßen geirrt war.

      »Das war definitiv nicht ich«, stellte er noch einmal klar.

      Paul zog seine Schultern hoch, und war somit die Teilnahmslosigkeit in Person. »War sonst keiner hier, Kumpel.«

      »Und ob jemand hier war, das stammt nicht von mir! Ich male keine anderen Leute, Porträts oder was auch immer das für ein Scheiß sein soll.«

      Paul griff zu seinem Zigarettenetui. Er war seit zehn Minuten wach; Zeit zum Rauchen. »Und wer war es dann deiner Meinung nach? Ich nicht, ich kann nämlich nicht malen. Vielleicht hat es ja jemand hergebracht, während ich geschlafen habe.«

      »Nein, die Tür war zugesperrt, als ich zurückgekommen bin. Wer hat noch einen Schlüssel?«

      »Mein Dad.« Paul seufzte, während er sein Feuerzeug suchte. »Und der kann ganz sicher auch nicht malen.«

      »Es liegt auf dem Boden«, sagte Weaver in Gedanken vertieft. Er streckte sich und befühlte die Leinwand. Der Maler hatte großzügig mit Gouache gearbeitet: dick aufgetragen, dunkle Farbtöne. Als er die Finger zurückzog, waren sie klebrig und sumpfig braun. »Auf jeden Fall ist es noch feucht.« Dann kam ihm eine Idee. Er fing an, in seinen Pinselkästen zu kramen. »Leck mich doch …«

      »Was? Hey, pass auf!« Paul wich einer zerdrückten Tube aus.

      »Unverschämtheit, der Drecksack hat meine Farbe benutzt.«

      »Alter.« Paul begann, ein bisschen Cannabis zu erhitzen. »Wer hätte es denn dann sein können, außer dir selbst?«

      Weaver schüttelte den Kopf, während er wieder auf die düstere Gestalt starrte, die sich aus dem Gemälde zu strecken schien. Zugegeben, es war beeindruckend – hässlich, abgründig und ein bisschen verstörend – aber gut. Aber eben nicht sein Stil. Besser als ich, dachte er zähneknirschend. Der Urheber dieser Vision besaß einen ureigenen Stil: Die Gabe, eine ungestüm bedrohliche Stimmung zu erwecken, die sich deutlich von Weavers disziplinierten, oftmals gezierten Methoden unterschied. Konnte jemand im Laufe der Nacht, während Paul geschlafen hatte, heimlich hier eingedrungen sein und dieses aufwühlende Bild bei nur schwachem Licht gemalt haben? Alles war möglich. Wenn Paul einmal schlief, ließ er sich generell nur schwer wieder wecken. Die Tatsache, dass er jetzt um kurz nach sieben wach war, wunderte ihn schon zur Genüge. Wäre es nur grob umrissen gewesen, eventuell sogar nur grundiert, dann hätte es geklappt, glaubte er. Wer aber konnte so etwas tun, und vor allen Dingen, aus welchem Grund? Seit etwa einem Jahr wurde das Studio mehr und mehr zur Anlaufstelle für allerlei schrulliges Volk. Paul schien jeden Kunstgecken in Sussex zu kennen, außerdem die übliche Mischung aus Punk-Revoluzzern und Gothics. Dazu zählten auch richtige Könner, und sie alle liebten das Studio, denn es stellte einen Luxus dar, den sich niemand unter ihnen leisten konnte.

      Pauls Studio war ein Sammelsurium aus Möbeln und Kunststücken, überfüllt mit Gerümpel und Maschinenteilen, vergessenen Werken und solchen, an denen er noch arbeitete. Seine jüngste Kreation stellte Mittelerde dar, eine Miniatur aus zwei breiten Bänken, die er gegen die hintere Wand gerückt hatte. Weavers Staffeleien standen an den Schiebefenstern, durch die nachmittags trotz der Kellerlage des Studios noch genügend Licht einfiel. Während der wärmeren Monate öffnete er sie für gewöhnlich, um die Geräusche und Düfte der Küstengegend hereinzulassen. Bis zum Strand ging man nur fünf Minuten. Es war ein wirklich attraktives Plätzchen. Ein wesentlicher Teil der Nutzfläche diente als Lagerraum für Freunde, die weitergezogen waren: Auf Reisen oder im Knast, gestorben oder weiß Gott was sonst. Woher dieses Zeug genau kam, wussten sie in den meisten Fällen gar nicht mehr; einiges schien einfach so aus dem Nirgendwo aufgetaucht zu sein. Paul witzelte oft, es vermehre sich von selbst.

      Wenn er nicht in die Gänge kam, was seit Kurzem fast die Regel darstellte, durchstöberte Weaver Kisten voller Comics oder schraubte an einem alten Motor herum, schmirgelte eine Schnitzerei zu Ende glatt oder betrachtete einfach all die Dinge, um die Zeit totzuschlagen. Er war sogar schon dazu übergegangen, Paul mit seinen Gandalfs und Gimlis zu helfen; für jemanden mit seinem von Natur aus guten Auge für Details erwies sich diese Arbeit als angenehm stumpfsinnig. Zum Teil rechtfertigte sie außerdem seine weitere Anwesenheit im Studio, denn er trug nur wenig mehr bei. Im hinteren Bereich gab es außerdem einen begehbaren Schrank, der die Gesamtsumme dessen darstellte, was Weaver für sein Leben als ernsthafter Künstler hielt. Allmählich verhärtete sich seine Ahnung, es sei in Wirklichkeit ausnahmslos Stuss. Reizender, leidlich interessanter Stuss. Das war aber im Grunde genommen auch vollkommen unerheblich. Denn das Studio, eine weitläufige Kellerwohnung ohne Zwischenwände, gehörte eigentlich Pauls Vater, einem Mann mit genug Geld, um es sich leisten zu können, eine der eher nebensächlichen Immobilien zu vergessen, in die er einst investiert hatte. Paul schien es nichts auszumachen, dass seine Freunde schmarotzten, aber Weaver konnte so nicht leben. Er bezog ja nicht einmal gern Sozialhilfe. Er konnte von Glück reden, dass er aus unerfindlichem Grund von Paul ausgesucht worden war. Die beiden hatten einander kaum gekannt. Er verhielt sich deshalb stets ruhig und erfreute sich einfach an Pauls anhaltend zynischem Humor. Außerdem ging er auf einfühlsame Weise verständnisvoll damit um, dass Weaver in letzter Zeit eine Durststrecke durchmachte. Dieser nahm wiederum an, Paul sei ein verkappter Fan von Hippy, was dieser aber, falls es stimmte, nie hatte durchblicken lassen, außer vielleicht mit den alten Ausgaben der News, die überall verstreut herumlagen.

      Angefangen hatte die Flaute vor drei Monaten. Warum? Das wusste Weaver selbst nicht. Ihm kam es so vor, als sei seine kreative Ader genommen und wie ein nasses Geschirrtuch ausgewrungen worden, bis sie völlig leer war. Natürlich konnte er immer noch zeichnen und malen, doch ihn darauf hinzuweisen glich dem Hinweis an einen Schriftsteller mit Schreibblockade, er könnte sich doch damit trösten, weiterhin seiner Sprache mächtig zu sein. Seine Fähigkeit, einen beliebigen Stil mit Farbe zu reproduzieren, machte die Situation eigentlich sogar nur noch schlimmer. Er konnte nicht einmal mehr seinen Brotberuf ausüben, wie er es nannte, sondern kehrte ständig zu Darstellungen kultisch verehrter Ikonen in seinem besonderen, flirrenden Stil zurück. Analog dazu verkauften sich seine Zeichnungen prima. Anscheinend bekamen die Leute nicht genug von Bob Marley beim Kiffen in Farbe oder Pastellkreide. Dies war der Stil, der ihn ins Rampenlicht gerückt hatte, sich aber nun als Problem herausstellte. Denn Originalität auf solche Weise in der Ikonenmalerei zu wahren, bedurfte zumindest einiger Fantasie, und hierin lag offensichtlich der Knackpunkt. Ohne Einkommen, wie es ihm die Geschäfte an der Strandpromenade gewährleisteten, konnte er ebenso gut in einer Lebensmittelfabrik anheuern und Pasteten füllen. Gott sei Dank hatte er genügend Hippy-Comics für die nächsten Monate gezeichnet.

      Die East Sussex News zahlte einen monatlichen Vorschuss auf sein Bankkonto, damit er fünf Comicstrips pro Woche ablieferte. Mit der Figur von Hippy griff er auf seine Zeit als Teenager und Festivalbesucher zurück. Sie war eine geschickte Parodie auf all die beschissenen Klischees der Drogenkultur: Verschwörungstheorien, Hobbyparanoiker, moralische Zügellosigkeit, Stubenhocker-Revolutionäre, bizarre LSD-Erfahrungen und seit neuestem auch Fahnenschwenken im Internet. Momentan nahm sein Held Hippy an jedem Selbsthilfekurs teil, den es gab. Auf Anraten des Korrektors der Unterhaltungsrubrik schwenkte er zusehends von »Studentenkram« auf die Zielgruppe der Ex-Blumenkinder im fortgeschrittenen Alter ab. Hippy hatte tatsächlich ein Gefolge. Er fühlte sich immer noch ganz hibbelig, wann immer er den schmalen Streifen mit seinem Namen unten auf der Rückseite der News sah: David Weaver im ersten Bild unter dem psychedelischen Hippy-Logo. Er betrachtete die Figur mittlerweile als seinen kleinen Freund, denn schließlich kam dieser für den