DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
Скачать книгу
Freundschaften noch längere Blicke auf jüngere Frauen, nichts. Während der Semester dachte er sogar kaum daran. Sein strikter Tagesplan, bestehend aus Sport, Forschung und Vorausplanung hielt ihn genügend auf Trab. Im Übrigen schlief er immer noch gern mit Frauen – allerdings mit fest zugekniffenen Augen und im Dunkeln, während er sich etwas völlig anderes vorstellte – aber das war doch ziemlich normal, nicht wahr?

      Nun wurde Davies bewusst, dass mehr hinter dieser Dunkelheit steckte als seine Einbildung. Sie wirkte stofflich, nahezu greifbar. Die Dunkelheit rings um ihn herum hatte alles vereinnahmt und stocherte nun mit ihren Schattenfingern in den lichtlosen Nischen seines Verstandes herum.

      Panik drohte ihn zu überwältigen. Das passiert wirklich.

      Von allen Seiten setzte ihm eine Intelligenz zu, die das Geheimnis in seinem Geist mit Leichtigkeit aufdecken konnte. Immer deutlicher nahm er eine trotzige Befriedigung wahr, Spott und vor allen Dingen die immense Macht der Dunkelheit. Er schüttelte vehement den Kopf; Panik konnte er sich gerade überhaupt nicht leisten, und dennoch fing sein Herz an, wie wild in seiner Brust zu klopfen. Er hyperventilierte, sodass unkontrolliert Luftblasen aus seinem Atemregler sprudelten.

      Worte gingen ihm nun durch den Kopf: Neurose, etwas Anderes kann es nicht sein. Ich bin neurotisch – einige der Symptome sind vorhanden – und ich denke nicht klar, ich …

      Davies fing an, sich gegen den unerbittlichen Zug der Finsternis zu wehren, und ließ nun alle Sicherheitsbedenken fahren. Sie war jetzt überall, reichte bis in seinen Kopf und rüttelte Erinnerungen wach wie eine Krähe auf einem Fensterbrett, die gegen die Scheibe klopfte. Er versuchte, sich zu drehen; nach einer Wende um hundertachtzig Grad gab sein Bewusstsein nach und ließ ihn schließlich ganz im Stich.

      Davies Körper schwebte erschlafft im Wasser, bis er einige Zeit später begann, zurück in die Dunkelheit zu driften.

      Finsternis breitete sich über dem reglosen Körper aus. Es war so einfach gewesen – so einfach wie immer mit den Schwachen, und sie alle waren schwach. Die Finsternis brauchte bloß die Geheimnisse in den Herzen der Menschen aufzuspüren, so wie sie es von jeher getan hatte. Die Finsternis sickerte abermals ins Unterbewusstsein des Tauchers und weidete sich an der Kälte der anderen, neuen Finsternis, die sie dort vorfand – einer Finsternis, die imstande war, die Unschuldigen für nichts weiter zu manipulieren als oberflächlichste und flüchtigste Befriedigung auf körperlicher Ebene; einer Finsternis, die den Taucher dazu befähigte, die Augen konsequent vor dem zu verschließen, was er geworden war. Körperliche Befriedigung stellte das Mittel schlechthin dar, um Menschen ins Verderben zu stürzen.

      So war es immer schon gewesen, und so würde es immer sein.

      Noch später

      Ich bin tot, dachte er, lauschte gespannt und hielt dabei den Atem an.

      Einzig das tropfende Wasser unterbrach ab und zu die Stille.

      Davies befand sich in vollständiger Dunkelheit, drückte seine linke Gesichtshälfte in den Schlamm beziehungsweise in das, woraus dieser Ort geschaffen sein mochte.

      »Hallo?« Die Akustik hier war dürftig – niedrige Decke. »Ist da jemand?«

      Niemand antwortete.

      Er war nicht mehr im Wasser, aber immer noch nass. Dann fuhr er sich mit den Händen über den Körper, der nach wie vor im Taucheranzug steckte. Er versuchte, sich aufzusetzen, aber sein Rücken verkrampfte sich sofort, also legte er sich wieder hin. Davies wollte rekonstruieren, was geschehen war, bevor er das Bewusstsein verloren hatte. Er erinnerte sich noch an so etwas wie neurotische Anwandlungen: Stimmen hören, paranoide Wahnvorstellungen. Er musste weiter vorangetrieben sein. Also hatte es doch eine Strömung gegeben, von der er vorwärtsbewegt worden war … und dann war er hier gelandet, wo auch immer hier war.

      Seine Lider flimmerten, es gab keine Lichtquelle, nur eine flächendeckende schwarze Wand. Als er mit einer Hand gegen etwas Trockenes, Schuppiges stieß, schreckte er vor Ekel zurück.

      Die Lampe – natürlich. Er entsann sich vage, sein Reservelicht in die Tasche seiner Tarierweste gesteckt zu haben. Er tastete danach, wobei sein Herz vor Hoffnung raste. Nun berührte er es mit den Fingern und stieß unwillkürlich einen freudigen Seufzer aus. Es war eine schwächere Lampe, die mit Alkalizellen betrieben wurde, aber nichtsdestotrotz ein Licht. Wunderbares, herrliches Licht. Er schaltete sie ein, um die Kammer auszuleuchten, und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan.

      Sie war ungefähr fünf Fuß hoch und doppelt so breit. Links befand sich eine künstlich angelegte Kante. Die Wände sahen ebenmäßig aus, menschengemacht und schmierig vor Algen. Der Boden bestand aus schlickigen Pflastersteinen. Zu seiner rechten gab es eine schwere Holztür, die fehl am Platz wirkte. Sie war verriegelt. Es hätte alles sein können, was er sich je erträumt hatte: verborgene Vestibüle, Indizien für etwas Geheimgehaltenes, durch Menschenhand erbaute Durchgänge und Türen, die sich öffnen ließen, um Rätsel zu enthüllen – und noch vieles mehr … stattdessen war es ein purer Albtraum.

      Er zählte sechs Leichen, deren Verwesung schon mehr oder weniger weit fortgeschritten war. Was er mit der Hand gestreift hatte, schien gebröckelt zu haben wie Gebäck, wahrscheinlich das verfaulte Gesicht des nächstliegenden Leichnams. Die Augen waren bereits herausgefressen worden, und die leeren Höhlen glichen Tunneln wie jenem, in den er geschlüpft war. Ein vergilbter Hautlappen hing über der Stirn wie eine Tapete in einem Mietshaus eines Armenviertels, und dunkle Haarbüschel standen vom Schädel ab, während der zerfetzte Stoff rings um den Brustkorb noch die vage Form eines T-Shirts erkennen ließ. Der Körper lag auf der Seite und hatte den unteren Arm zu der Tür ausgestreckt, die Finger fleischlos, längst abgenagt im Gegensatz zu der Leiche rechts neben dem besagten Eingang.

      Hierbei handelte es sich um eine junge Frau; ihr Fleisch war schon so gut wie völlig verwest, die Kleidung aber noch relativ intakt. Ihre Augen waren in den Schädel gesunken, die Haut hingegen war erhalten geblieben; sie hatte sich bloß zurückgezogen, spannte sich nun straff über die Wangenknochen und wellte sich, wo noch Fleischreste vorhanden waren. Die Gebeine der anderen ließen sich längst nicht mehr erkennen, geschweige denn ihr Alter. Sie bildeten separate Haufen inmitten von zerfallenden Kleidern und Staub.

      Davies kam nur mit Mühe auf die Beine, wobei sich das Gewicht der Gasflasche auf unangenehme Weise verlagerte. Deshalb zog er sie kurzerhand aus und legte sie gemeinsam mit seinen Flossen und der Maske weit genug vom schwappenden Wasser des Flusses ab.

      Als er sich vor die Tür stellte, war er wie in Trance. Grund zur Neugierde gab es bestimmt, doch dies hier hatte eine tiefere Bewandtnis. Erneut stellte sich das Gefühl ein, er werde gezogen. Er wusste, er hätte sich vor allem, was er gesehen hatte, fürchten sollen. Auch davor, dass er nicht wusste, wie er überhaupt hergekommen war, aber er spürte nichts außer der erdrückenden Resignation eines Mannes, der sich dem Unausweichlichen fügte.

      Davies legte eine Hand an den alten Riegel, er schob ihn zurück und versuchte, an der Tür zu ziehen. Sie öffnete sich langsam, obwohl der Flussschlamm vieler Jahre an dem uralten Holz klebte. Einen Moment lang glaubte er, da sei etwas hinter der Tür, etwas Grauenhaftes und dann sah er, dass sich der Raum veränderte.

      Er fühlte, wie die Temperatur und die Feuchtigkeit anstiegen; neue Gerüche und Geräusche wirkten plötzlich auf seine Sinne ein. Ein Plappern und Singsang orientalisch anmutender Stimmen, der Gestank von ungeklärtem Abwasser, gemeinsam mit dem anheimelnden Duft von kräftig gewürztem Fleisch in dem Gebäude ringsherum. Der Gedanke, dass er halluziniere, hypnotisiert und kontrolliert wurde, drängte sich ihm eine Millisekunde lang auf, bevor er wieder erlosch, genauso wie jegliches Gespür für Änderungen in Zeit und Raum. Davies konnte ebenso wenig bestimmen, ob dies eine Erinnerung war, wie ein Träumer nicht weiß, dass er träumt.

      Im Geiste betrat er nun einen Raum, in dem er nie zuvor gewesen war. Ein heruntergekommenes Loch in einer stinkenden Gasse.

       Er spürte, dass die Mutter und Zuhälterin hinter ihm stand, dann bemerkte er ihre beruhigende Hand auf seiner Schulter. Die Gestalt des Mädchens lockte ihn, sie hockte auf Knien hinter einem Moskitonetz, das einem Schleier gleichkam. Als er zu ihr ging, ergriff die Finsternis