DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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Dunkelheit verschwand, aber mehr nicht.

      Seine Nervosität bescherte ihm eine erhöhte Adrenalinausschüttung.

      Er war allein: solo – kein Kumpel, kein Gehilfe an der Oberfläche, nur er selbst. Genau so wollte er es andererseits auch. Als überzeugter Junggeselle hatte er den Großteil seines Erwachsenenlebens allein verbracht, zufrieden mit sich selbst als einziger Gesellschaft und seiner Routine. Einige Jahre zuvor war er ein paar Monate lang mit einer Frau zusammen gewesen, doch die Beziehung hatte sich als katastrophal erwiesen. Er war es gewohnt, seinen eigenen Weg zu gehen, und mochte es überhaupt nicht, wenn ihm etwas dazwischenfunkte – eine falsche Einstellung, das wusste er selbst. Seine erste Nacht, die er allein verbracht hatte, nachdem sie sich getrennt hatten, war von einem überwältigenden Gefühl der Erleichterung bestimmt worden. Nicht dass er keine Frauen mochte, das tat er sehr wohl; er teilte nur schlichtweg ungern und darin bestand sein Problem. Einem Freund hätte er sein letztes Hemd gegeben, aber darum ging es nicht, denn das Ganze reichte über das Materielle hinaus. Die Stichworte lauteten Zeit und Erfahrung. Im gemeinsamen Alltag hatte es Momente gegeben, wo es ihm so vorgekommen war, als leide seine Lebensqualität beträchtlich darunter – als würden seine Freuden gemindert und seine Gepflogenheiten einfach belanglos. Es dauerte nicht lange, bis ihm die geringschätzigen Reaktionen auf seinen regelmäßigen Tagesablauf auffielen, nach dem man die Uhr hätte stellen können. Seine Partnerin schien sich über sein Gesundheitsbewusstsein lustig zu machen, seine vorhersehbare Ernährung und die jeweils halbe Stunde zweimal jeden Abend, wo er in der Garage verschwand, um Gewichte zu heben. Wenn Davies in schlechter Stimmung war, befürchtete er, die Leute wüssten sogar von seinem Geheimnis.

      Und das beunruhigte ihn, denn es war ein besonders unschönes Geheimnis.

      Er hatte sich selbstsicher mit der Taschenlampe zwischen den dünnen Bäumen von Ross' Wald durchgeschlagen. Das Gewicht der Gasflasche und der Sporttasche machte ihn nicht langsamer; jahrelanges Eisenpumpen zahlte sich anscheinend aus. Irgendwann blieb er stehen und lauschte aufmerksam. Er glaubte, das hallende Lachen eines Mädchens durch das Gehölz gehört zu haben. Das war gut möglich, aber er lief trotzdem weiter, denn bei Nacht und mitten im Wald konnte man sich auch schon mal so manche Geräusche einbilden. Dennoch blieb er vorsichtig, denn er wollte nicht gesehen werden. Niemand durfte wissen, was er tat. Nachdem man ihm untersagt hatte, in den Tunneln bei der Kirche zu tauchen, lief das, was er jetzt tun wollte, auf ein Strafvergehen hinaus – aber drauf geschissen. Als Präsident der Gesellschaft für Geschichte hatte er den Kirchenrat um Erlaubnis gebeten, die gefluteten Tunnel unter der Klosterruine zu erkunden. Der Ort gab nun schon seit Jahrhunderten Anlass zu Spekulationen; Gerüchte von Schätzen, die angeblich dort verborgen worden waren, bevor die Soldaten des Königs das Gold aus den Kapellen stehlen konnten, gingen einher mit den unvermeidbaren Sagen von spukhaften Gestalten mit Kapuzen, für die sich seine Schüler so sehr erwärmten. Einige stellten das Kloster sogar in den Kontext von Legenden über den Heiligen Gral, aber das fand Davies wirklich lachhaft. Ihm ging es weder um Schätze noch um Märchen; er würde sich schon mit ein paar Papierfetzen begnügen, die sich radiometrisch datieren ließen, um seine Theorie zu beweisen. Falls er etwas Bemerkenswertes dort unten fand, wollte er einen Artikel für History Today schreiben, vielleicht sogar ein Buch. Welchen Schaden konnte ein wenig Forschungsarbeit schon anrichten? Außerdem rechtfertigte er sich damit, dass das Kloster zum Erbe der Menschen hier gehöre.

      Beim Fortschreiten durch den Wald orientierte er sich an den Geräuschen von der Staustufe her, ohne auf das Geklirr und Gekicher ringsherum zu hören. Er war sich des Namens, den die Jugend in der Gegend diesem Ort verliehen hatte, sehr wohl bewusst: Fickforst. Plump, aber plausibel.

      Das Lachen hatte ihn ein wenig an Patsy erinnert, eine seiner Schülerinnen mit ungewöhnlich üppigen Brüsten. Dadurch kam er auf andere Gedanken, die er aber schnell wieder verdrängte.

      Er wusste nur zu gut, wohin sie ihn gebracht hätten.

      Der Pfad führte auf eine Lichtung und diese wiederum ans Flussufer. Die Eisenbahnbrücke befand sich zu seiner Rechten, ein Schattenriss gegen den dunkelblauen Nachthimmel. Er hastete flussabwärts, mied den bewaldeten Bereich und hielt sich dabei stets im Schatten. Boote und Frachter lagen in Abständen vertäut am Ufer, dazwischen möglicherweise die Plätze von Nachtanglern. Er wollte auf keinen Fall gesehen werden. Als er an der Staustufe vorbeikam, verließ er den Schutz der Baumgrenze und ging an der Böschung weiter. Hier lagen weder Schiffe, noch gab es Stellen zum Angeln; der Uferrand bestand einzig und allein aus Schilf und Morast, das Ergebnis des anhaltenden Gefälles hinter dem Damm. Auf diesem versuchte sich zwar hin und wieder ein Angler, weil es sich anbot, um Forellen zu fangen, aber nicht heute Nacht. Am gegenüberliegenden Ufer machte Davies die Umrisse des Schrottplatzes aus. Bald drang ihm der Geruch der Nahrungsmittelproduktion von Open Farms in die Nase. Jeder Städter hatte schon zu dieser oder jener Gelegenheit mal dort gearbeitet. Spuren von Industriebetrieben verschwanden kurz darauf, genauso wie das Rauschen der Staustufe. Hinter dem Kloster gab es nichts außer Ackerland und vereinzelte Überreste eines Dorfes, das entstanden war, um die Mönche zu ernähren und ihnen Dienste zu leisten. Er wusste, dass man es im Mittelalter aufgrund eines Aberglaubens verlassen hatte. Jetzt eignete es sich nur noch für gelegentliche Exkursionen mit höheren Schulklassen. Belege für Zivilisation, die bis zu den Knöcheln reichten …

      Davies machte den Hals lang, als er auftauchte, und sah das Bogentor zum Klostergelände, dessen altes Mauerwerk sofort wie ein graues Mahnmal in der Dunkelheit aufragte. Dahinter fand man jetzt nichts weiter als eingefallene Wände und schief aufgeschichtete Steine; die letzten beharrlichen Hinweise darauf, dass dort einmal ein riesiges, prachtvoll gestaltetes Gebäude gestanden hatte, weit weg vom Zentrum der katholischen Kirche und dennoch ein würdiger Rivale der Kathedrale von Canterbury.

      Und Davies befand sich nun nur noch wenige Zoll vom Unterwassereinstieg in den verbotenen Tunnel entfernt.

      Erneut konzentrierte er sich auf seine Atmung, bis er sich entspannt fühlte. Er betrachtete die Öffnung genau; sie war fast rund mit einem Durchmesser von zwei Metern. Er würde in der Lage sein, sich mit den Fingern an den Wänden vorwärtszubewegen. Um sich vor spitzen Kanten zu schützen, nahm er seine Handschuhe aus der Brusttasche und zog sie an. Dann sammelte er sich und versuchte sich einzureden, dass er freudige Erregung und nicht deren Gegenstück, nämlich Furcht empfand.

      Beinarbeit wie beim Kraulen, dachte er, innerhalb eines rechten Winkels bleiben, um nicht gegen den Boden zu stoßen. So glitt er in den Tunnel hinein, während er die gewölbte Wand unter seinem Torso mit der linken Hand ertastete.

      Sich vorwärtszuziehen war relativ leicht. Mitunter brauchte er seine Füße überhaupt nicht zu bewegen. Die Strömung allein genügte schon, um ihn durchzuschleusen. Die uralten Steine fühlten sich selbst durch die Handschuhe glatt an, seit Ewigkeiten mit Gott weiß was überzogen, das an den Wänden haftete. Das Licht der Lampe, die er festhielt, offenbarte ihm nichts außer dem fließenden Verlauf des Tunnels. Er war schon dreißig Meter tief eingedrungen, ohne auf Abzweigungen gestoßen zu sein.

      Binnen kürzester Zeit zauberte seine Fantasie immer häufiger schattenhafte Formen an den Rand des Kegels, den seine Lampe warf – eine geisterhafte Hand, die aus dem Zwielicht auftauchte, oder auch ein Gesicht mit von Fischen zerfressenen Augen.

      Er spürte einen Anflug von Panik, allein im Dunkeln unter Tausenden von Tonnen schwerer Erde und Gesteinsmassen. Schließlich wusste niemand, dass er hier war, und er selbst hatte keine Ahnung, was sich sonst noch mit ihm in der Tiefe herumtrieb.

      Hör doch auf, rügte er sich selber und achtete darauf, weiterhin gleichmäßig zu atmen. Du benimmst dich wie ein kleines ängstliches Kind.

      Trotzdem stimmte es: Er war allein in einer zunehmend dunkler und kälter werdenden Vergangenheit.

      Vergangenheit? Er schüttelte sich in der Finsternis. Darüber wollte er erst recht nicht nachdenken.

      Es war ein Fehler gewesen, er sollte nicht hier unten sein. Am besten tauchte er sofort wieder auf. Vorsichtig drehte er seinen Körper und untersuchte die Tunneldecke. Ein Einbruch in dieser uralten Konstruktion – mehr war nicht vonnöten, und Beweise für solche Stürze hatte er bisher schon mehrfach gesehen, also wusste er, dass es passieren konnte. Selbstmitleid machte