DUNKLER FLUSS. Nicholas Bennett. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicholas Bennett
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958350373
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selten sah er Ratten zwischen den Mülltonnen stöbern, während sich die ausländischen Kellner, Köche und Putzkräfte unterhielten, rauchten und sich gegenseitig anstießen, wenn er vorbeikam. Er dachte dann immer wieder, er könne jetzt eigentlich überall auf der Welt sein: New York, Bangkok, Mexico City oder auch Hongkong. Während des halben Jahres, in dem er eine Wohnung im zweiten Stock über einer Feinbäckerei im Erdgeschoss und einem zweifelhaften Buchversandhandel darüber bezogen hatte, war ihm genügend Schäbigkeit untergekommen, um blasiert zu werden: Hier jemand, der Drogen kaufte, dort ein Fick im Stehen an der Wand, aber es war vor allem die Brutalität in dieser Gegend, wegen der er sich sorgte. Nichts Dramatisches heute Nacht, zum Glück.

      Er ging an mehreren großen Metalltonnen vorbei und hatte wie üblich Schwierigkeiten, die Tür zum Treppenhaus zu öffnen. Seit einiger Zeit fühlte er sich aufgrund der Gewalttaten, die mit diesem Bezirk in Verbindung gebracht wurden, noch unsicherer. Die Schlimmste, deren Zeuge er geworden war, hatten drei Teenager begangen, indem sie einem Mann im mittleren Alter beide Unterarme gebrochen hatten. Dazu hatten diese reizenden jungen Männer Golfschläger benutzt. Weaver war in jener Nacht in Gesellschaft gewesen, nämlich von Mad Mick. Er wurde so genannt, weil er schon auf zahllose Aufenthalte in Brightons psychiatrischen Einrichtungen – stets nach Selbsteinweisung – zurückblickte. Mad Mick hatte die Schweine in einer Art verjagt, die wie es Weaver vorgekommen war, beinahe schon an Ausgelassenheit gegrenzt hatte. Das Opfer war ausgeraubt worden. Weaver hatte sich neben den schluchzenden Mann gekniet, versuchte dabei, nicht auf die kaputten Arme zu schauen und ihn durch ein Gespräch abzulenken, bis der Notarzt kam. Sein Name hatte Charlie gelautet. Er war ein netter Kerl, ein Musiker, der den Blues allerdings für eine ganze Weile nicht mehr spielen würde.

      Weaver ertastete den Zeitlichtschalter, drückte darauf und schloss hinter sich ab, ehe er zur Treppe ging, die nach oben zu seiner Bude führte. Den beständigen Duft von gebackenem Brot und hausgemachter Suppe aus dem Centre Ville im Erdgeschoss roch er sehr gern. Er fand, hier wohne es sich doch ganz lauschig, während er den ersten Treppenlauf nahm. Nach Ladenschluss hoben sie manchmal nicht verkauftes, noch frisches Brot oder Bagels für ihn auf. Er wog ab, wie wahrscheinlich es sei, heute Nacht etwas davon vor seiner Tür zu finden, als er plötzlich Schritte aus dem oberen Stockwerk hörte.

      Jemand war mit ihm im Gebäude.

      Er blieb mitten auf der Treppe stehen. Nach Einbruch der Dunkelheit hatte nur er hier Zugang. Der Unbekannte ging noch einen Augenblick lang weiter, stockte dann aber ebenfalls. Weaver hielt den Atem an, und ein Schub heißes Adrenalin pulsierte plötzlich in seinem Kopf. Er starrte geradeaus. Da war noch jemand auf der Treppe, aber wieso? Lauerte er ihm auf? Er lauschte angestrengt. Wer auch immer es war, tat das Gleiche.

      Weaver glaubte, ein Keuchen von oben zu hören. Er nahm all seinen Mut zusammen.

      »Hallo?«, rief er die Treppe hinauf.

      Keine Antwort. Seine Stimme kam ihm selbst schwach vor. Er versuchte es wieder, während er möglichst gefasst klingen wollte: »Sie wissen, dass Sie hier nichts zu suchen haben, oder?«

      Immer noch nichts.

      »Ich werde jetzt die Polizei rufen!«

      Dann vernahm er ein leises, unterdrücktes Kichern, jedenfalls hörte es sich so an. Weaver hielt weiterhin die Luft an und umfasste das Geländer nun krampfhaft mit der linken Hand.

      Ein leises Klicken ertönte und dann ging plötzlich das Licht aus. Der Zeitschalter.

      Daraufhin setzte sich Weaver in Bewegung. Er kehrte trotz der Dunkelheit mit drei Sprüngen und ohne Angst, sich zu verletzen, nach unten zurück. In seinem aufgekratzten Zustand, verursacht durch den Schrecken, im Dunkeln zu tappen, hörte er polternde Schritte vom oberen Treppenlauf. Am Fuß des Aufstiegs stieß er so fest gegen die Wand, dass ihm kurz die Luft wegblieb, und er trudelte fast zur Tür … die verschlossen war. Scheiße! Er schlug auf den Lichtschalter, während er versuchte seinen Schlüssel aus der Tasche zu ziehen. Sie fielen ihm natürlich auf den Boden. Er wagte kurz einen Blick zur Ecke an der Treppe, sah aber kein Anzeichen von irgendjemandem. Er achtete auf etwaige Schritte, während er am Schloss herumstocherte.

      Der Unbekannte war anscheinend stehengeblieben.

      Er will mich einschüchtern, dachte er und drehte den Schlüssel um. Als er die Tür öffnete, schaute er noch einmal zurück.

      Immer noch nichts.

      Als er nach draußen eilte und den klirrenden Meereswind spürte, vernahm er wieder das gleiche Kichern.

      Er lief hinaus in die Nacht, während das Gelächter in seinem Kopf immer lauter wurde. Nachdem er durch die Gasse gesprintet war, blieb er an der ersten anständigen Straßenlaterne an der Ecke Second Avenue stehen. Von dort aus konnte er die Reihe Mülltonnen vor seinem Gebäude auch im Dunkeln gut sehen. Er schaute angespannt hin und wartete darauf, dass sich ihm der – Übeltäter, Witzbold oder Verbrecher – zeigte.

      Dann schämte er sich, denn seine eigene Schwäche war ihm peinlich, aber die Vorstellung, in die Dunkelheit zurückzukehren und irgendeinem Irren entgegenzutreten, hielt er für machohaften Unsinn. Nach zehn Minuten ging sein Atem immer noch schwer. Es war schon fast zwei Uhr morgens, kein Lokal in der Nähe hatte noch geöffnet, und ihm fehlte sowieso die Kohle dafür. Davon abgesehen musste er sehr dringend aufs Klo.

      Dennoch verharrte er weiterhin. Niemand ließ sich blicken. Der Unbekannte könnte immer noch da drinnen sein, dachte er, und auf seine Gelegenheit warten.

      Also schlug sich Weaver erneut ins Nachtleben.

      – 3 –

      Südlich von Measton, im exakt gleichen Moment, als Weaver zweihundert Meilen entfernt die dunkle Treppe hinuntersprang, war Andrew Davies einer ganz anderen Art von Düsterkeit ausgesetzt.

      Seine eigene Schattenseite wurde ihm nun zum Verhängnis.

      Zu der Zeit, als er in den azurblauen Wassern der Andamanensee die Freuden des Tauchsports für sich entdeckt hatte, wobei ihm dank seines athletischen Körpers und resoluten Wesens rasche Fortschritte beschieden waren, hatte sich auch seine Bereitschaft offenbart, das Undenkbare zu wagen. Jahrelang hatte er sie unterdrücken können, allerdings nicht, ohne dass sie sich gelegentlich in der Gegenwart seiner Nichten durch verräterische Erektionen geäußert hätte, und sich mit vom Alkohol, dem er zum Glück selten frönte, befeuerten Fantasien begnügen musste.

      Im Tunnel unter der Klosterruine, zurückgeworfen auf das beschränkte Sichtfeld, das ihm die Lampe gewährte, holte ihn seine dunkle Seite wieder ein. Er erinnerte sich an seine Erste in Vietnam, unglaublich jung, aber auch unglaublich erfahren. Junge und doch alte Augen, die zu ihm aufschauten, entrückt und trotzdem gleichgültig. Nie wieder, das hatte er sich damals geschworen. Niemals. Er hatte vor Schmach geweint, in jenem beengenden Zimmer mit Klimaanlage im Stadtviertel für Rucksacktouristen – geweint vor Schmach, geweint um den Tod der Unschuld und dabei nicht gewusst, ob es seine oder jene des Mädchens gewesen war. In der folgenden Nacht war er aber wieder unterwegs gewesen, um nach noch jüngeren Augen zu suchen: Augen, die jene schreckliche Gleichgültigkeit nicht hervorkehrten. Und in dieser Nacht hatte er nicht geweint.

       Er schüttelte abermals den Kopf, um diese quälenden Reminiszenzen zu verdrängen, sodass abermals Wasser in seine Tauchermaske strömte. So einfach funktionierte es jedoch nicht.

      Denn dort unter der Klosterruine beschlich Davies das Gefühl, ihm werde genau auf den Zahn gefühlt. Gedanken, die im Zaum zu halten er sich antrainiert hatte, brachen sich plötzlich in seinem Bewusstsein Bahn.

      Er atmete die komprimierte Luft tief und langsam ein, während er den Tunnel unmittelbar voraus mit der Lampe erhellte. Die Finsternis schien sich jedoch noch zu verdichten, falls dies überhaupt möglich war. Sie nahm zu und ließ sich mit jedem Schlag seiner Fußflossen schwieriger durchschauen. Er sollte umkehren, das wusste er, aber sein Verlangen erlaubte es ihm nicht. War es andererseits für ihn nicht schon immer so gewesen? Verlangen führte in die Finsternis.

      Wieder gewann er den Eindruck, nicht seine eigenen Gedanken zu denken, so als schwappe sein tiefes Geheimnis wieder und wieder an die Oberfläche. Eine Neurose, ganz bestimmt.