»Hm«, sagte Eliza und lächelte neckisch. »Warum willst Du da mitfahren? Du bist ja noch ein Baby!« Baby? Seit Jahren nicht mehr. Sie lächelte schmerzlich.
»Ja, Mama«, sagte Eugen, »darf ich mit? Es dauert nur fünf Tage. Das Geld hab ich.«
Er steckte die Hand in die Tasche, um sich zu vergewissern, ob die Scheine noch da wären.
»Ich will Dir was sagen«, sprach Eliza und verzog den Mund. »Eh noch der Winter rum ist, wirst Du mehr als einmal wünschen, daß Du das Geld noch hättest. Du brauchst neue Schuhe und einen dicken Wintermantel, wenn das kalte Wetter kommt. Du mußt sehr reich sein. Ich wünschte nur, ich könnte mir auch mal so 'nen Ausflug leisten.«
»Ach, Du mein Gott!« sagte Ben. Er lachte kurz. Er warf seinen Zigarettenstummel in die Glut; es war einer der ersten Tage, an denen das Feuer im Kamin brannte.
»Ich möchte Dir sagen, mein Sohn«, bemerkte Eliza sehr ernst, »daß Du den Wert eines Dollars kennenlernen mußt, oder Du wirst nie ein eignes Dach überm Kopf haben. Natürlich gönne ich Dir ein Vergnügen, aber Du solltest Dein Geld nicht vergeuden.«
»Ja, Mama«, sprach Eugen.
»Um Himmels willen«, fuhr Ben auf. »Es ist doch sein selbstverdientes Geld. Damit kann er wahrhaftig machen, was ihm beliebt. Wenn er es zu diesem verdammten Fenster da rausschmeißt, ist es immer noch seine eigne Angelegenheit.«
Sie starrte, die Hände auf dem Bauch gefaltet, die Lippe geschürzt, nachdenklich ins Leere.
»Nun«, entschied sie, »ich nehme an, daß die Sache in Ordnung ist. Mistress Bowden wird ja gut auf Dich aufpassen.«
Es war die erste Reise nach einem ungekannten Ziel, die er allein machte. Eliza packte umständlich einen alten Handkoffer für ihn, verstaute eine Schachtel mit belegten Broten und Eiern darin. Er reiste abends. Als sie ihn gewaschen, gebürstet und aufgeregt bei dem Handkoffer stehen sah, flennte sie ein bißchen. Wieder war er, das spürte sie, ein Stück weiter von ihr weggerückt. Der Hunger nach Reisen stand in seinem Gesicht.
»Halt Dich brav, Junge!« ermahnte sie ihn, »und daß Du mir keine Dummheiten anstellst.« Sie dachte einen Augenblick lang angestrengt nach und blickte weg. Dann griff sie in ihren Strumpf und holte eine Fünfdollarnote heraus.
»Geh sparsam mit Deinem Geld um«, riet sie ihm an. »Hier ist noch ein bißchen, vielleicht wirst Du es brauchen.«
»Her mit Dir, Du kleiner Lump!« sagte Ben, die Brauen finster gerückt. Mit geschickter Hand band er ihm die verkordelte Krawatte zurecht und holte mit einem schnellen Griff einen Zehndollarschein aus seiner Weste und steckte ihn in Eugens Tasche. »Benimm Dich«, knurrte er, »oder ich schlag Dir die Knochen kaputt.«
Max Isaacs pfiff vorm Haus. Eugen sagte Lebwohl und zog ab.
Mistress Bowdens Reisegesellschaft bestand aus sechs Teilnehmern: Max Isaacs, Malwin Bowden, Eugen, zwei Mädchen, namens Josie und Louise, und Mistress Bowden. Josie war Mistress Bowdens Nichte; sie lebte mit ihr zusammen. Sie war eine Bohnenstange von einem Gör, zwanzig Jahre alt, mit einem hervorstehenden Gebiß voll grinsender Zähne. Das andre Mädchen, Louise, war Kellnerin: eine kleine, rundlich-mollige Brünette. Mistress Bowden war eine verhutzelte, alte Frau mit sehr viel falschem braunem Haar und müden, braunen Augen. Sie war Schneiderin. Ihr Gatte, ein Zimmermann, war im Frühjahr gestorben. Eine kleine Lebensversicherung war ihr zugefallen. So kam sie auf den Gedanken, diese Reise zu machen.
Wieder einmal fuhr Eugen durch die Nacht in den Süden. Das Abteil war heiß; es roch unangenehm nach dem alten, roten Plüsch. Die Fahrgäste dösten vor sich hin, schmerzlich aufgeschreckt durch das Geklingel der Zugschelle und das Schleifen der Bremsen, wenn der Zug an den vielen Stationen hielt. Ein kleines Kind weinte. Die Mutter, eine Frau aus dem Gebirg, hager und wirrhaarig, breitete eine Zeitung auf den Plüschsitz und wechselte dem Kind die Windeln. Das Kind weinte sich in Schlaf. Vorn im Wagen saß in einem Rippelsamtanzug und Ledergamaschen ein junger Farmerbursch, hervorstehende Backenknochen im sonnverbrannten Gesicht; er aß unablässig Erdnüsse und warf die Schalen auf den Boden. Es gingen unausgesetzt Leute durch den Wagen; die Schalen knirschten unter ihren Tritten. Die drei Jungen langweilten sich. Sie gingen abwechselnd zum Trinkwasserbehälter am Ende des Wagens. Benutzte Papierbecher lagen am Boden; es stank aus den Toiletten.
Die beiden Mädchen schliefen fest mit feuchten, halboffnen Lippen auf den verbreiterten Sitzpolstern; die kleine Brünette atmete warm und süß.
Die Buben drückten sich am rußbefleckten Fenster die Nasen platt und sahen aus heißen, schlaflosen Augen auf das dunkle, vorbeigleitende Land hinaus: – Waldklumpen, Ackerflächen, wellendes Gehügel, runde Talwannen –: amerikanische Erde: roh, unermeßlich, formlos, gewaltig.
Eugens Sinne waren gebannt vom magischen Gang der Waggonräder. Klacketi-klack, klacketi-klack, klacketi-klack. Sein Leben kam ihm vor wie etwas, was sich seit vor langer Zeit zugetragen hätte. Er hatte endlich in seine verlorne Welt gefunden. Aber lag sie hinter ihm, oder lag sie vor ihm? Beim Rhythmus des fahrenden Zugs fiel ihm die Art ein, wie Eliza über Längstvergangnes lachte. Er sah eine knappe, vergeßne Gebärde, die breite, weiße Stirn, das Gespenst eines Kummers in ihren Augen. Er hörte Gant, er hörte Ben; ihr seltsames Lachen, ihre traurigen Stimmen. Verloren. Nun schwammen sie auf ihn zu, durch die hellgrünen Wasserwände der Phantasie. Sie griffen nach seinem Herzen, zwickten es. Der grüne Geisterflimmer ihrer Augen rollte davon. Verloren, verloren.
»Gehn wir 'ne Zigarette rauchen!« schlug Max Isaacs vor. Sie traten auf die geschlossne Plattform hinaus, standen spreizbeinig, weil der Zug schlingerte, rauchten.
Am trüben Osthorizont, fern, brach die Sonne auf und fraß sich durchs Dunkel. Eugen und Max, noch in Nacht begraben, sahen unbeteiligt zu. Dann traf es sie wie ein scharfes Messer: grelles, leidenschaftliches Licht schoß in Strahlengarben durch den Vorhang der Dämmerung. Es graute; der Tag schmolz nun mild übers Land, wie Tau. Der Osten flammte. Die kleine Kellnerin im Wagen atmete tief auf, seufzte, öffnete die klaren Augen.
Max Isaacs sah Eugen freundlich grinsend an. Er rauchte täppisch, renkte den Hals aus dem engen Hemdkragen, schnitt eine nervöse Grimasse dazu. Er hatte ein hellhäutiges, blondflaumiges Gesicht, blonde Augenbrauen, dichtes, mattgoldblondes Strähnenhaar. Es war viel Güte in ihm. Die beiden hegten eine plumpe Zärtlichkeit füreinander. Sie dachten an die verschollenen Jahre in der Woodson Street. Verwundert und linkisch waren sie sich ihrer Pubertät bewußt. Das stolze Tor der Zukunft tat sich vor ihnen auf. Sie spürten, einer im andern, das Vereinsamende, das Licht. Sie sagten sich lebewohl.
Charleston, fettes Schlingkraut, das an den Ufern der Lethe verrottet, lebte in einer andern Zeit. Die Stunden waren Tage, die Tage Wochen.
Sie kamen morgens an. Als es Mittag wurde, waren sie schon Wochen da, und sie sehnten sich nach dem Abend. Sie wohnten in einem kleinen Gasthof in der King Street, das die oberen Stockwerke eines alten Hauses einnahm. Im Erdgeschoß waren Läden. Die Zimmer waren sehr groß. Nach dem Mittagessen war ein Spaziergang durch die Stadt geplant. Max Isaacs und Malvin Bowden wollten zur Marinestation. Mistress Bowden ging mit ihnen. Eugen war sehr schläfrig. Er verabredete sich auf später mit ihnen.
Als die andern gegangen waren, zog er Schuhe, Rock und Hemd aus und streckte sich aufs Bett. Durch Schlitze in den Fensterläden fiel das Licht in dünnen Bohlen ins verdunkelte Zimmer. Schlafsüchtig wie eine Herbstfliege summte die Zeit sich zu Tod.
Um fünf Uhr kam Louise, die kleine, brünette Kellnerin, um ihn zu wecken. Auch sie hatte geschlafen. Sie pochte leis an die Tür. Als keine Antwort kam, schlich sie leis herein und schloß die Tür. Sie trat an sein Bett, sah ihn eine Weile an.
»Eugen!« flüsterte sie. »Eugen!«
Er murmelte verschlafen und dehnte sich. Louise lächelte und setzte sich aufs Bett. Sie beugte sich über ihn, kitzelte ihn an den Rippen,