Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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kam aus der Badeanstalt. Sie ging langsam auf ihn zu. Sie ging stolz, die weichen Kurven ihres Körpers zeichneten sich im Badeanzug ab. Sie trug grünseidne Badestrümpfe.

      Draußen, außerhalb der Sicherheitsleine, tauchte Max Isaacs durch den grünen Wasserwall der Brandung. Sein gedrungener, weißer Körper leuchtete einen Augenblick lang grün. Dann stand er aufrecht, wischte sich die Augen, schüttelte sich das Wasser aus den Ohren.

      Eugen nahm Louise bei der Hand und führte sie ins Wasser. Sie watete langsam, stieß kleine, erschreckte Schreie aus. Eine hereinrollende Welle schwoll an, ging ihr bis ans Kinn, nahm ihr den Atem. Sie schnappte Luft, klammerte sich an ihn. Nun war sie eingeweiht. Sie tauchten durch heranbrüllende Wasserwälle. Es war köstlich. Wenn sie die Augen noch geschlossen hatte beim Auftauchen, küßte er sie. Junge, salzige Küsse.

      Dann lagen sie zusammen auf dem warmen Sand. Sie schauerte. Er häufte weißen Sand über ihre Hüften und ihre Beine, bis sie halb begraben war. Er küßte sie mit bebendem Mund.

      »Ich liebe Dich«, sagte er. »Sehr!«

      »Was haben Dir denn die andern von mir erzählt?« fragte sie. »Haben sie von mir gesprochen?«

      »Das ist mir gleich«, sagte er. »Das ist mir alles ganz gleich. Ich lieb Dich.«

      »Du wirst mich vergessen, wenn Du erst mal anfängst, mit den Mädchen zu gehen. Du wirst Dich überhaupt nicht mehr erinnern. Eines Tages wirst Du an mir vorüber gehn und mich nicht einmal mehr kennen.«

      »Nein! Nein!« sagte er. »Ich werde Dich nie vergessen, Louise! So lange ich lebe nicht!«

      Sie waren in den Bergen geboren. Und nun waren ihre Herzen vom einsamen Donner der See erfüllt. Sie küßte ihn.

      Ende September kam er heim. Im Oktober fuhr Gant, von Helene und Ben begleitet, nach Baltimore. Die allzulang aufgeschobne Operation war nun unvermeidlich. Sein Krankheitszustand hatte sich ständig verschlimmert. Er hatte wochenlang furchtbare Schmerzen ausgestanden. Er war sehr geschwächt. Er hatte Angst.

      Nachts stand er auf, weckte das schlafende Haus mit seinem Gebrüll. In seiner furchtbaren Großartigkeit war er dann ganz der Alte.

      »Das Messer! Das Messer! Ich seh's! Siehst Du den Schatten? Da! Da! Da!«

      Wie ein pathetischer Schauspieler krümmte er sich und deutete ins unanfechtbare Nichts.

      »Da!! Siehst Du ihn dort im Schatten stehn? So? Du bist also gekommen, um den Alten zu holen?! Da steht er ja, der Sensenmann, der grimme Raffer, … ich habs ja gewußt, daß er kommt! O Jesus, erbarme Dich meiner Seele!«

      Gant lag in der urologischen Klinik im John Hopkins Institute. Jeden Tag kam energisch-freundlich ein kleiner Herr herein, sah die Fieberkarte an. Er sprach vergnügte, aufheiternde Worte. Dann ging er wieder. Er war einer der größten Chirurgen im Land.

      Die Krankenschwester machte Gant Mut: »Nur keine Bange«, sagte sie. »Die Sterblichkeit ist nur vier Prozent. Sie war dreißig Prozent. Er hat sie heruntergebracht.«

      Gant stöhnte und reichte Helene seine große Rechte zu einem aufmunternden, lebenspendenden Händedruck.

      »Mut! Mut! alter Junge!« sagte Helene »Wenn Du die Sache hinter Dir hast, wird es Dir besser gehn als je.«

      Sie schenkte ihm ihre Lebenskraft, ihre Hoffnung, ihre Liebe. Er war fast ruhig, als man ihn in den Operationssaal rollte.

      Aber der kleine, grauhaarige Herr sah nach, schüttelte bedauernd den Kopf und schnitt mit geschickter Hand.

      »Gut soweit«, sagte er vier Minuten später zu seinem Assistenten. »Schließen Sie die Wunde!«

      Gant würde sterben. Am Krebs.

      Gant saß im fahrbaren Krankenstuhl auf der Veranda des fünften Stocks. Durch die klare Oktoberluft sah er über die Stadt, die sich drunten ausbreitete und sich im Fernendunst verlor. Er sah verklärt, fast zart aus. Ein mattes Lächeln der Glücksal und der Erleichterung umspielte seinen Mund. Er rauchte, frischerweckter Sinne, eine lange Zigarre.

      »Da unten«, sagte er und deutete, »da habe ich einen Teil meiner Jugend verbracht. Old Jeff Streeters Hotel stand ungefähr dort.« Er deutete.

      »Ja, grab nur Erinnerungen aus«, sagte Helene. Sie grinste.

      Gant dachte an die Jahre, die seitdem vergangen waren, an die unberechenbaren Wege seines Schicksals. Sein Leben dünkte ihm seltsam.

      »Wir werden diese Plätze alle aufsuchen, sobald Du aus dem Krankenhaus entlassen bist. Übermorgen darfst Du hier weg. Weißt Du, was das heißt? Weißt Du überhaupt, daß Du fast ganz gesund wieder bist?« Sie lächelte ihn groß an.

      »Ja, jetzt bin ich wieder ein gesunder Mann«, sagte er. »Ich fühle mich zwanzig Jahre jünger.«

      »Armer alter Papa!« sagte sie. »Armer alter Papa!«

      Ihre Augen waren feucht. Sie nahm sein Gesicht in ihre großen Hände und zog seinen Kopf an ihre Schultern.

      XXVII

      Mein Shakespeare, stehe auf! Er stand auf, der Barde. Durch die ganze Länge und Breite seiner tapfern Neuen Welt stand er auf. Nicht einer Zeit nur war er, nein für alle Zeiten. Und außerdem: seine Tricentenarfeier fand nur einmal statt – nämlich nach dreihundert Jahren. Sie wurde von Maryland bis Oregon feierlich begangen. Einundachtzig Mitglieder des House of Repräsentatives, von gebildeten Journalisten nach ihrem Lieblingsvers befragt, antworteten unverzüglich mit der Poloniusstelle: »Dies über alles: bleib Dir selber treu.« Der Schwan war auferstanden. In jedem Schulhaus durchs ganze Land wurden deswegen Stücke aufgeführt, Festzüge veranstaltet, Aufsätze geschrieben.

      Eugen riß das Chandos-Porträt des Barden aus den Seiten des »Independent« und heftete es an die getünchte Wand des Hinterzimmers. Ganz erfüllt vom Echo des großen Preislieds des Ben Jonson kritzelte er in großen Zügen darunter: »Mein Shakespeare, stehe auf!« Das große, feiste Gesicht – »so 'ne verdammt alberne Fresse hab ich in meinem Leben noch nicht gesehn« – starrte ihn öde an mit Stielaugen, Bocksbart und Bauerndünkel. Aber die bildliche Anwesenheit des zu Feiernden feuerte ihn zu dem Schulaufsatz an, über den gebeugt er am Tische saß.

      Die Tat ward ruchbar. Er ließ – unklugerweise – das Bild an der Wand hängen, als er einmal auf einen Sprung wegging. Als er zurückkam, hatten Ben und Helene die gekritzelte Unterschrift gelesen. Von diesem Tag an wurde er nur noch poetisch zu Tisch, ans Telephon, zu einer Besorgung gerufen.

      »Mein Shakespeare, stehe auf!«

      Er stand auf, rot vor Ärger im Gesicht.

      »Will mein Shakespeare die Liebenswürdigkeit haben, mir die Biskuits zu reichen?« oder »Darf ich meinen Shakespeare um die Butter bemühen?« sagte Ben, die Brauen ganz finster gerückt.

      »Mein Shakespeare, willst Du noch ein Stück Kuchen?« fragte Helene. Und dann bemerkte sie, reumütig lachend: »Es ist weiß Gott 'ne Schande, den Kleinen so zu hänseln!« Sie kratzte sich das lange Kinn, starrte zum Fenster hinaus, lachte geistesabwesend. Reumütig lachte sie.

      Aber:

      – »seine Kunst war universal. Er sah das Leben klar und als Ganzes. Er war ein intellektueller Ozean, dessen Wellen an alle Gestade des Denkens schlugen. Er war alles in einem: Jurist, Kaufmann, Soldat, Arzt, Staatsmann. Männer der Wissenschaft stehen erstaunt vor der Tiefe seines Wissens. Im ›Kaufmann von Venedig‹ behandelt er rein technische, juristische Fragen mit der Geschicklichkeit eines Rechtsanwalts. Im ›König Lear‹ verschreibt er kühn den Schlaf als Heilmittel gegen Wahnsinn. Er hat die letzten Erkenntnisse der modernen Wissenschaft vor drei Jahrhunderten bereits vorausgesehen. In seinem sympathisch bewegten, wohlgerundeten Sinn für Charaktergebung lacht er mit seinen Gestalten, nicht über sie. –«

      Eugen gewann die Medaille. Aus Bronze oder einem noch dauerhafteren Material. Das Profil des Barden unklar darauf eingegraben. W. S. 1616–1916. Ein langes und nützliches Leben.

      Die Maschinerie des Festzugs war schön und schlicht. Der Verfasser, Dr. George B. Rockham – (das Gerücht lief, daß er einst zu einer