Auf der Marinestation konnten sie die andern nirgends finden. Ein junger Matros führte sie auf ein Kanonenboot. Louise kletterte eine Leiter hinauf. Ihre wohlgeformten Schenkel schwangen leise. Schamlos lange betrachtete sie das aus irgendeiner illustrierten Zeitung ausgeschnittene Bild einer Soubrette. Der junge Matros wackelte mit den Augen, ein Ausdruck unschuldiger Geilheit kam in sein Gesicht. Er blinzelte Eugen an.
Auf der Kommandobrücke des »Oregon«. Berühmtes Schiff aus dem spanisch-amerikanischen Krieg.
»Was ist denn das?« fragte Louise. Sie deutete auf den mit blankköpfigen Nägeln nachgezognen Umriß von Admiral Deweys Fuß.
»Da stand der Admiral während der Schlacht«, sagte der Matros.
Louise stellte ihren kleinen Fuß in die Spur des größeren. Der Matros blinzelte Eugen zu.
»Feuern Sie, wenn Sie schußfertig sind, Gridley!« hatte der Admiral gesagt.
»Sie ist ein nettes Mädchen«, sagte Eugen.
»Sicher«, sagte Max Isaacs. »Ein feiner Kerl.« Er renkte den Hals, verzog das Gesicht. »Wie alt mag sie sein, ungefähr?«
»Achtzehn«, sagte Eugen.
Malvin Bowden starrte ihn an.
»Du bist nicht bei Trost«, sagte er. »Sie ist einundzwanzig.«
»Nein«, bestand Eugen, »sie ist achtzehn. Sie hat's mir selber gesagt.«
»Ist mir piepe«, sagte Malvin Bowden. »Sie ist einundzwanzig. Meine Mutter kennt sie schon seit fünf Jahren. Sie hatte ein Kind, als sie achtzehn war.«
»Was?« fragte Max Isaacs.
»Jawohl«, sagte Malvin Bowden. »Ein Handlungsreisender hat sie verführt und dann sitzen lassen.«
»Was?« fragte Max Isaacs. »Ohne sie zu heiraten oder sonst was?«
»Jawohl«, sagte Malvin Bowden. »Er hat sich einfach nicht mehr um sie gekümmert. Ihre Eltern ziehen das Kind auf.«
»Donnerwetter!« sagte Max Isaacs langsam. Dann bemerkte er streng: »So ein Kerl sollte einfach totgeschossen werden.«
»Sicher!« sagte Malvin Bowden.
Sie gingen am Kai spazieren. Da lagen die alten Herrschaftshäuser, halb im Verfall.
»Schöne, alte Häuser das«, sagte Max Isaacs. »Damals waren sie gut zum Wohnen.«
Eugen bestaunte die schmiedeeisernen Torgitter. Schon als Kind hatte er Eisentrümmer geliebt.
»Das sind die berühmten alten Herrschaftshäuser der Südstaaten«, sagte er ehrfurchtsvoll.
Die Bucht war ganz still. Es stank grün nach warmem, stehendem Wasser.
»Schade, daß hier alles so verfällt«, sagte Malvin Bowden. »Die Stadt ist heute nicht größer als sie vor dem Bürgerkrieg war.«
»Sie brauchen Kapital aus den Nordstaaten«, sagte Max Isaacs. Ja, das brauchten sie alle.
Eine alte Lady, von einer schwarzen Wärterin geführt, erschien auf einer Hochveranda. Sie trug ein kleines Bonnett. Sie setzte sich in einen Schaukelstuhl und starrte blind in die Sonne. Eugen sah sie voll Sympathie an. Ihre Kinder hatten ihr wohl nicht gesagt, wie unglücklich der Bürgerkrieg für die Südstaaten geendigt hatte. Frommer Betrug! Und nun sparten und darbten sie, damit die alte Lady alle Bequemlichkeiten, an die sie gewöhnt war, haben konnte. Was sie wohl speiste? Das bißchen Fleisch von einem Hühnerflügel und ein Glas Sherry. Und all die kostbaren Erbstücke der Familie waren verkauft oder verpfändet. Ein Glück, daß sie fast blind, war und das Hinschwinden des Vermögens nicht mitansehen mußte. Ob sie wohl manchmal an die Zeit zurückdachte, als die Ritterlichkeit in Blüte stand, an die Tage des Weins und der Rosen?
»Seht mal, die alte Lady dort!« sagte Malvin Bowden.
»Ja«, sagte Max Isaacs, »da sieht man gleich, daß sie 'ne Lady ist. Sie hat sicher nie im Leben 'nen Finger krumm gemacht.«
»Alte Aristokraten«, sagte Eugen. Verehrungsvoll. Ja, die altvornehmen Familien der alten Südstaaten.
Ein Negergreis kam vorbei. Kindlich-gütiges Gesicht, von silberweißen Locken umrahmt. Guter Dunkelhäuter, das. Stammt sicher noch aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg. Freigelassner Sklave. Es sind nur noch wenige übrig.
Eugen dachte an die Schönheit der Sklaverei, jener Einrichtung, die seine mütterlichen Vorfahren so tapfer verteidigt hatten, obschon sie nie einen Sklaven besaßen. Sklaverei, ja, das dünkte ihm Philanthropie, reine Philanthropie. Er wischte sich eine Träne aus dem Aug.
Sie fuhren durch den Hafen zur Palmeninsel hinaus. Der Dampfer kirnte um den runden, roten Backsteinzylinder des Forts Sumter. Berühmt aus den Tagen des Bürgerkriegs. Malvin Bowden sagte:
»Sie hatten mehr Leute als wir. Hätten wir soviel Leute gehabt wie sie, dann hätten wir sie geschlagen.«
»Sie haben uns gar nicht geschlagen«, sagte Max Isaacs. »Unsre Kräfte waren erschöpft, weil wir sie dauernd geschlagen haben.«
»Wir haben den Krieg verloren, aber geschlagen sind wir nicht worden«, stellte Eugen ruhig fest.
Max Isaacs sah ihn bewundernd an.
»Stimmt«, sagte er.
Sie stiegen vom Dampfer und nahmen die Straßenbahn zum Badestrand. Das Land war gelb und ausgedörrt von der sengenden Sommerglut. Staub lag dick auf den Blättern der Bäume. Der Wagen ratterte an den Strandhäusern vorbei, – ausgetrocknet das Holz, der Anstrich blasig und abgeblättert, klein, windig, billig gebaut, auf Stelzen in den Sand gesteckt, unzählig wie Ungeziefer; alle mit hölzernen Aushängetafeln: »Ishkabibbel«, »Seeblick«, »Ruhhafen«, »Atlantic Inn«. Eugen kannte den verblaßten müden Humor dieser Namen.
»Es gibt 'nen Haufen Boardinghouses in der Welt«, stellte er fest.
Ein heißer Wind rauschte in die dürren Fächer der hohen Palmen. Der Vergnügungspark kam in Sicht. Eugen sah die rostigen Speichen des großen Schwungrads. St. Louis, dachte er. Sie kamen am Badestrand an. Sie sprangen vergnügt aus dem Wagen.
Der Strand war leer. Zwei oder drei Buden waren noch geöffnet.
Der ausgeglühte, wolkenlose Himmel wölbte sich wie eine blaue Schale über dem polierten Smaragd des offnen Meers. Schwer rollte die Brandung herein. Die breiten Wellen wuschen Sand hoch; als sie brachen, leuchtete es gelb in der Sonne.
Die Jungen gingen langsam auf die Badeanstalt zu. Der ungeheure, ruhige, unaufhörliche Donner des Meers erfüllte sie mit einsamer Musik. Sie starrten durch das grelle, fast schmerzende Licht hinaus auf die See.
»Ich geh zur Marine, Eugen«, sagte Max Isaacs. »Komm, mach mit!«
»Ich bin nicht alt genug«, sagte Eugen. »Und Du auch nicht« »Ich werde ja schon sechzehn im November«, sagte Max Isaacs. »Hilft Dir nichts. Dann nehmen sie Dich immer noch nicht.« »Ich lüg einfach, um reinzukommen«, sagte Max Isaacs. »Sie machen überhaupt keine Scherereien. Du kannst rein. Komm, Eugen, mach mit!«
»Nein«, sagte Eugen, »ich kann nicht.«
»Warum nicht?« fragte Max Isaacs. »Was hast Du denn vor?«
»Ich will auf die Universität, Rechtswissenschaft studieren.«
»Ach, das hat doch Zeit!« sagte Max Isaacs. »Das kannst Du nach Deiner Entlassung aus der Marine auch noch. Und Du kannst 'nen Haufen bei der Marine lernen. Und mit der Flotte kommt man in der ganzen Welt herum.«
»Nein«, sagte Eugen, »ich kann nicht.«
Aber sein Herz schlug höher, als er dem einsamen Donner des Meeres lauschte. Er sah fremde, schimmerhäutige Menschengesichter, sah Palmenufer, hörte die kleinen, klinkernden Küstenlaute Asiens. Er glaubte letzten Endes an Häfen.
Mistress Bowdens Nichte und die Kellnerin kamen mit der nächsten Straßenbahn.