38 war das Polizeirevier. Das erweckte unangenehme Erinnerungen. Schon zweimal hatte Steve im Rausch im Stadtgefängnis gesessen. Er raste noch ärger als zuvor, schrie ihr gemeine Worte ins Gesicht, hob die Hand, um sie zu schlagen. In diesem Augenblick trat Lukas ein, er war unterwegs nach der Woodson Street.
Die Abneigung zwischen Lukas und dem Ältesten war tief und tödlich. Seit Jahren schon. Zitternd und zornentbrannt kam der Großherzige seiner Mutter zu Hilfe.
»Enta-a-a-a-arteter elender M-mensch!« stotterte er, unbewußt in Gantsche Rhetorik verfallend. »Mit der Reitpeitsche sollte man Dich zü-zü-züchtigen!«
Er war neunzehn, ein gutgebauter, muskulöser Bursch, aber viel zu empfindlich für die Tabus der Bruderliebe, um überhaupt zu argwöhnen, daß Steve ihn anfallen würde. Steve fiel in der gemeinsten Weise über ihn her, traf ihn mit den Fäusten ins Gesicht, trieb den Schnaufenden, Halbblinden aus der Küche. Unrecht ewig auf dem Thron!
Eugen, von Angst gepackt, von Wut besessen, hörte aus dem Wohnzimmer die Stimme Bens, der ein Lied summte und Klavier dazu klimperte.
»Ben!!« schrie er, tanzte wild und ergriff einen Hammer.
Dem Lukas schoß das Blut aus der Nase.
Ben kam mit einem Satz herein, lautlos wie eine Katze.
»Ran mit Dir, Du Bastard! Jetzt kommst Du dran!« heulte Steve siegesbefeuert und warf sich in pathetische Boxerstellung. »Keine Aussicht für Dich, Jungchen«, prahlte er, »ich schlag Dir den Kopf in Stücke, armes Schwein.«
Ben sah ihn ruhig an, furchte die Braue, tanzte um ihn herum und schnickte die Fäuste im Stil der Polizeiboxer. Jählings packte ihn eine rasende Wut. Der Stille sprang den Amateurfaustkämpfer an und legte ihn mit einem einzigen Hieb glatt zu Boden. Steves Kopf schlug auf den Fußboden auf. Das tat gut! Eugen, wahnwitzig vor Freude, hüpfte und schrie, während Ben fauchend über Steve herfiel und ihn verdrosch. Ben war herrlich gründlich, wenn er mal loslegte.
»Hurra für Ben! Hurra für Ben!« jauchzte Eugen, irrlachend.
Eliza, die laut »Hilfe« und »Polizei« gerufen hatte, gelang es schließlich mit Lukas' Beistand, Ben von seinem halbohnmächtigen Opfer wegzureißen. Sie weinte bitterlich. Lukas, seine blutige Nase vergessend, untröstlich darüber, daß hier ein Bruder den andern verprügelt hatte, half Steve auf die Beine und bürstete ihn ab.
Sie schämten sich alle entsetzlich, sie konnten einer dem andern nicht ins Auge sehn. Ben war schlohweiß im Gesicht, er zitterte am ganzen Körper. Als er Steves verschwiemelte Augen einen Augenblick erhaschte, räusperte er sich trocken, ging zum Spülstein und trank ein Glas Wasser.
Eliza greinte: »Ein Haus, das mit sich selber uneins ist, kann nicht bestehen.«
Helene kam aus der Stadt; sie brachte warmes Brot und Gebäck mit.
»Was ist los?« fragte sie, obschon sie auf den ersten Blick erkannte, was vorgefallen war.
»Ich weiß nicht«, sagte Eliza kopfschüttelnd mit zuckender Miene. »Gottes Zorn muß über uns hereingebrochen sein. Mein ganzes Leben habe ich nichts wie Elend auszustehen. Und alles, was ich mir wünsche, ist ein bißchen Frieden.« Sie weinte leise, aus glanzlosen, verschwommenen Augen. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
»Na, vergiß es!« sagte Helene ruhig. Ihre Stimme war gleichgültig, trübselig, kummervoll. »Wie geht's jetzt, Steve?« fragte sie.
»Ich mach weiß Gott keinem Menschen Schwierigkeiten, Helene«, wimmerte er kläglich. Seine Stimme klang düster. »Nein, dem Steve hat man nie was gegönnt. Meine eignen Brüder sind über mich hergefallen, krank wie ich bin, und haben mich verhauen. Gut! Ich werde weggehen und es zu vergessen suchen. Ich trage nicht nach. Nein, so einer bin ich nicht.« Er drehte sich herum und streckte Ben die Hand hin. »Gib mir die Hand, Brüderchen. Hier! Du hast mich geschlagen, aber ich will Dir's vergeben und vergessen.«
»O Du mein Gott!« sagte Ben und preßte die Hand auf den Magen. Ihm wurde schwach. Er beugte sich über den Spülstein und trank schnell noch ein Glas Wasser.
»Nein, nein, ich trage wirklich nicht nach«, fing Steve wieder an. »So einer bin ich nicht …« Er hätte unendlich in dieser Tonart weitergewimmert, aber die entschiedne Helene verstand es, dem Ausbruch seiner Zimperlichkeit einen Riegel vorzuschieben.
»Gut! Schluß! Hör Jetzt damit auf!« befahl sie. Und zu den anderen sagte sie: »Vergeßt die Sache, das Leben ist ohnehin zu kurz.«
In der Tat, das Leben war ohnehin zu kurz. Nach solchen Explosionen kam für sie alle eine Stunde der Stille, in der sie sich einander betrübt und ruhig erkannten. Sie waren wie Männer, die, verzweifelt einer Fata Morgana nachjagend, plötzlich stillstehen, sich umblicken und ihre Fußspuren unendlich weit zurück in der Wüste verlaufen sehen. Oder vielleicht wie Leute, die irrsinnig gewesen sind und dem Irrsinn auch wieder verfallen werden und sich eines Morgens still und vernünftig, mit traurigen, ungetrübten Augen im Spiegel anschauen.
Ihre Gesichter waren traurig. Großes Alter war in ihnen. Sie wußten plötzlich um den weiten Weg, den sie gekommen waren, spürten die Menge Leben, die sie gelebt hatten. Ein Augenblick des Zusammenhalts, ein Augenblick tragischer Zuneigung und Einigkeit kam, der sie zu einem Kranz kleiner, spitzer Flämmchen gegen den Nihilismus, gegen das Sinnlose des Daseins zusammenzwang.
Margarete kam verängstigt herein, die Augen rotgeweint, das breite, deutsche Gesicht blaß und von Tränen verschmiert. Eine Gruppe Pensionsgäste flüsterte aufgeregt in der Diele.
»Die werde ich alle verlieren«, quengelte Eliza. »Das letztemal haben drei Leute gekündigt. Über zwanzig Dollar die Woche weniger, wo das Geld jetzt so rar ist. Ach Gott, ich weiß wahrhaftig nicht, wie das noch mit uns enden soll.«
»Heiliger Himmel!« herrschte Helene sie an, »hör doch einmal mit Deinen Kostgängern auf!«
Steve sank dumpf auf einen Stuhl vor dem langen, unaufgeräumten Küchentisch. Von Zeit zu Zeit murmelte er etwas Schlabberiges vor sich hin. Lukas stand mit geschwollenem Gesicht beschämt und gekränkt neben ihm, wartete ihm auf, brachte ihm ein Glas Wasser.
»Gib ihm doch 'ne Tasse Kaffee, Mama«, verlangte Helene gereizt. »Um Gottes willen! Soviel kannst Du wirklich für ihn tun.«
»Ja, aber ja! Gleich!« stammelte Eliza. Sie eilte unbeholfen zum Gasherd und zündete den Brenner an. »Ich hab nur nicht dran gedacht, ja, gleich, in einer Minute.«
Margarete saß auf einem Stuhl am anderen Ende des Küchentischs, das Gesicht in die Hand gestützt und weinte. Ihre Tränen zogen kleine Bäche durch die dicke Decke von Puder und Rouge, die sie auf ihre grobe Haut zu legen pflegte.
»Komm, sei wieder lustig, mein Honig!« mahnte Helene und fing an zu lachen. »Es wird bald wieder Weihnachten.« Sie tätschelte tröstend den breiten Rücken der Deutschen.
Ben ging auf die Küchenveranda hinaus. Es war eine kühle, sternklare Augustnacht. Er zündete eine Zigarette an; seine weiße Hand zitterte, als er das Streichholz hielt. Von sommerlichen Veranden wehten schwache Geräusche her, Frauengelächter, ein paar Takte Tanzmusik. Eugen stellte sich neben ihn und sah ihn mit freudigtrauriger Bewunderung an. Halb ängstlich, halb übermütig pokte er ihn in die Rippe.
Ben fauchte leis, hob die Hand zum Schlag, ließ sie sinken. Schnell flackerte ein Lichtschein über seinem Mund. Er rauchte.
Steve zog mit seiner Deutschen nach Indiana. Zuerst kamen Nachrichten von Fett und Fülle, von Wohlleben und Pelzmänteln (mit Photographien!) – später von Streitigkeiten mit ihren ehrlichen Brüdern, von Scheidungsplänen, Versöhnung und Wiederaufleben. Steve gravitierte zwischen den beiden Polen seines Unterhalts, Margarete und Eliza. Jeden Sommer erschien er in Altamont und ergab sich eine Zeitlang dem Alkohol und Rauschgiften. Sein Aufenthalt endete regelmäßig mit Familienkrach, Gefängnis und Sanatorium.
»Die Hölle reißt ihren Rachen auf«, heulte Gant, »wenn dieser Elende heimkommt. Ein Fluch und eine Sorge, so