Sein wacher, mitleidloser Verstand lag auf der Lauer wie eine geringelte Schlange: sie bemerkte jede Gebärde, erfaßte jeden schnellen Blick über seinen Kopf hinweg, durchschaute das billige Gewebe jeder Täuschung. Aber Leute wie die Leonards existierten für ihn jenseits des menschlichen Irrens. Er hatte für Margaret ein Fenster seines Herzens aufgetan, und nun wandelten sie gemeinsam im heiligen Hain der Dichtung. Aber all seine dunklen Wünsche, die Sehnsucht nach schönen Gestalten und all die Misere seines Familienlebens verbarg er bange vor ihr. Er hatte Angst, sie könne davon hören. Verzweifelt fragte er sich oft, wieviele von seinen Mitschülern darum wußten. Alles was Margaret zu den gemeinen Tatsachen des Lebens hätte herabziehen können, schien ihm unwahr, war ihm entsetzlich wie ein Alp.
Daß sie beinah an Schwindsucht gestorben war, daß die laute und geschwätzige Sheba an einen brüchigen Greis verheiratet war, der mit ihr zwei Kinder gezeugt hatte und nun starb, daß die ganze Leonardsippe treulich zusammenhaltend ihre offenen Wunden geheimhielt und vor den scharfen Augen und den rasselnden Zungen der Schuljungen eine Scheidewand aus durchsichtigem Betrug und schalen Ausflüchten errichtete, das lähmte ihn, gab ihm ein Gefühl der Unwirklichkeit.
Eugen glaubte an den Ruhm und das Gold.
Er wohnte nun hauptsächlich in Dixieland. Seit sie ihn zu den Leonards geschickt hatte, fühlte er sich stärker mit Eliza verbünden. Gant, Helene und Lukas waren darüber aufgebracht, daß er die Privatschule besuchte. Die Geschwister grollten; es war Neid dabei. Die Mißgunst hatte ihren Stachel:
»Du hast ihn ganz verdorben, seit Du ihn auf die Privatschule geschickt hast.« Oder: »Er darf sich unmöglich die Finger schmutzig machen, nachdem er in so eine feine Schule geht.«
Eliza trieb ihn unermüdlich zur Arbeit an. Oft erwähnte sie, wie schwer es ihr bei ihrer Armut falle, das Schulgeld aufzubringen … er müsse hinter der Arbeit her sein und ihr in seiner Freizeit helfen … im Sommer solle er zum Bahnhof gehen und unter den ankommenden Touristen Kunden zusammentrommeln.
»Zum Donnerwetter, was ist denn los mit Dir?« spottete Lukas. »Schämst Du Dich etwa, ein bißchen ehrliche Arbeit zu scha-schaffen?«
Pension Dixieland! Drei Schritt vom Stadtplatz! Besitzerin: Mistress Eliza Gant! Hierher, meine Herrschaften! Jawoll, Herr Kap'tän, aller Komfort der Neuzeit, ganz wie in einem modernen Gefängnis. Und Kuchen und Biskuits im Haus gebacken, ganz wie's bei Muttern hätte sein sollen, aber nicht war!
Geschäftstüchtiger Bursche das!
Zum Schluß des ersten Schuljahrs sagte Eliza zu John Dorsey Leonard, daß sie das Schulgeld nicht länger zahlen könne. Er besprach sich mit Margaret, kam wieder und willigte ein, den Jungen um den halben Preis zu behalten.
»Er kann Ihnen helfen, neue Kundschaft zusammenzutrommeln«, sagte Eliza.
»Ja«, pflichtete Leonard bei, »das ist das Richtige.«
Ben hatte sich ein Paar neue Schuhe gekauft. Sie waren hellbraun. Er hatte sechs Dollar dafür bezahlt. Er kaufte stets gute Sachen. Aber diese Schuhe verbrannten ihm die Fußsohlen. Er kam heim, die Stirn wütend geballt, hupfte in sein Zimmer und zog die Schuhe aus.
»Gott verdammt noch einmal!« gellte er und schmiß die Schuhe an die Wand. Eliza erschien in der Tür.
»Du wirst es nie zu was bringen, Junge, wenn Du das Geld in dieser Weise zum Fenster hinauswirfst.« Sie schüttelte den Kopf und zog eine Schnute.
»Um Gottes willen!« fauchte er. »Nun hör Dir das an, bitte! Habe ich je Geld von Euch verlangt?« Er war wütend.
Sie nahm die Schuhe und gab sie Eugen.
»Es wäre schade um die teuren Schuhe«, sagte sie. »Probier sie mal, Junge.«
Eugen zwängte sie an. Seine Füße waren bereits größer als Bens. Er tat ein paar vorsichtige, schmerzliche Schritte.
»Na, gehn sie?« fragte Eliza.
»Vielleicht«, sagte er. »Sie sind sehr eng.«
Er liebte den guten Schnitt, das starkriechende, körnige Leder. Er hatte nie so gute Schuhe gehabt.
Ben kam in die Küche.
»Dummes Vieh!« sagte er zu Eugen. »Du hast ja Hufe wie ein Maulesel!« Stirnrunzelnd kniete er hin und tastete das gespannte Oberleder über den Zehen ab. Eugen zuckte zusammen vor Schmerz.
»Um Gottes willen, Mama«, schrie Ben. »Zwing dem Kleinen doch nicht diese Schuhe auf, sie sind zu eng. Ich will ihm ein Paar neue kaufen, wenn Du zu knauserig bist, das Geld dran zu hängen.«
»Ach was! Was soll denn mit diesen Schuhen los sein?« sagte Eliza. Sie fühlte mit den Fingern Eugens Fuß ab. »Alle neuen Schuhe drücken; sie müssen erst ausgetreten werden.«
Aber nach sechs Wochen mußte Eugen auf die Schuhe verzichten. Das harte Leder gab nicht nach; seine Füße schmerzten täglich mehr. Er hinkte herum, Schritt für Schritt, wie ein Gepeinigter, dem die Beine in Holzstöcke gepreßt sind. Seine Füße waren lahm und leblos, die Zehenballen wund. Eines Tages packte ihn Ben, warf ihn wütend zu Boden und zog ihm die Schuhe aus. Es dauerte Tage, bis Eugen wieder bequem gehen konnte. Die Zehen, die ihm von Kind auf gerade und lang gewachsen waren, waren verklumpt, die Knochen verkrüppelt, die Nägel abgestorben.
»Ewig schad um die guten Schuhe!« seufzte Eliza.
Aber sie hatte merkwürdige Anfälle von Freigebigkeit. Eugen verstand das nicht.
Aus dem Westen kam ein Mädchen nach Altamont. Sie sagte, sie wäre aus Sevier, einer Stadt im Gebirg. Sie war groß und braun und hatte das schwarze Haar, die schwarzen Augen der Cherokee-Indianer.
»Paßt mal auf«, sagte Gant, »die Person hat sicher Cherokesenblut in den Adern.«
Sie nahm ein Zimmer. Tagelang wiegte sie sich im Schaukelstuhl vorm Kamin des Wohnzimmers. Sie war scheu, furchtsam, ein bißchen muffig. Sie benahm sich ländlich-umständlich. Sie sprach nie, wenn sie nicht angesprochen wurde.
Manchmal war sie krank und blieb im Bett liegen. Eliza brachte ihr dann Essen und war äußerst gütig zu ihr.
Tag um Tag schaukelte das Mädchen, den ganzen stürmischen Vorherbst hindurch. Eugen konnte den Rhythmus ihrer Füße hören, die den Schaukelstuhl unablässig in Gang hielten. Sie nannte sich Mistress Morgan.
Eines Tages, als Eugen gerade Kohle auf das Feuer legte, vor dem sie saß, kam Eliza ins Zimmer. Mistress Morgan schaukelte unverdrossen weiter. Eliza stand eine Weile vorm Feuer, schürzte nachdenklich die Lippe, faltete still die Hände überm Bauch. Sie sah durchs Fenster auf den wolkenstürmenden Himmel, auf die windbefegte, kahle Straße hinaus.
»Sieht aus«, sagte sie, »als käm' ein harter Winter für die Armen.«
»Ja, Madam«, sagte Mistress Morgan muffig und schaukelte weiter.
Eliza schwieg eine Weile.
»Wo ist eigentlich Ihr Mann?« fragte sie dann.
»In Sevier«, sagte Mistress Morgan. »Er ist bei der Eisenbahn angestellt.«
»Ei was!« sagte Eliza. Schnell, komisch. »Ein Eisenbahner, sagen Sie?« fragte sie scharf.
»Ja, Madam.«
»Na, das sieht mir sonderbar aus, daß er nicht mal herkommen kann, um nach Ihnen zu sehen«, stellte Eliza mit einer ungeheuer anklägerischen Ruhe fest. »Ein Kerl, der sich so benimmt, kommt mir recht wie ein Lump vor.«
Mistress Morgan sagte nichts. Ihre pechschwarzen Augen glitzerten im Feuerschein.
»Haben Sie Geld?« fragte Eliza.
»Nein, Madam.«
Eliza stand gediegen da, wärmte sich, schürzte die Lippe.
»Wann erwarten Sie Ihr Baby?« fragte sie unvermittelt.
Mistress Morgan blieb eine Weile stumm und schaukelte weiter.
»Diesen Monat noch, glaub