Und zudem bemerkte er – aberundabermals beschämt –, daß diese Schulbuben, die sich so ruppig, so selbstbewußt, so aggressiv-robust gebärdeten, trotz allen Lippendiensts vom fairen Spiel und vom echten Sportgeist weit entfernt waren. Allerwege war der Schwächere rechtmäßig dem Stärkeren ausgeliefert. Selbst Leonard, wenn ihn ein Schüler etwa beim Disputieren übertraf, machte vom Recht des Stärkeren Gebrauch, um die Richtigkeit seiner Sache darzutun. Solche Schauspiele waren widerlich und empörend. Eugen beobachtete sie wie gebannt; es wurde ihm übel dabei.
Leonard war durchaus kein schlechter Kerl; im Gegenteil, er war ein Mann von beträchtlichem Charakter, besaß Güte, war ehrlich bestrebt. Er liebte seine Angehörigen; er stand mutig gegen die Bigotterie. In der Methodistengemeinde saß er im Gemeinderat; er mußte schließlich zurücktreten, weil seine Meinungen, über die Darwinsche Theorie zu ausgesprochen waren: ein Beispiel für das traurige Los der Liberalgesinnten im Dorf: ein fortschrittlicher Denker unter Methodisten, ein Fackelträger am hellen Mittag, das war er. Ein Fürsprecher für die Duldung von Ideen, die ein halbes Jahrhundert lang anerkannt sind. Seine Lehrpflicht trachtete er in Wahrheit zu erfüllen. Aber er war ein Kind der Erde, nicht des Geists. Seine harthändige Heftigkeit hatte die unbewußte Brutalität der Natur. Obschon er sein Interesse in geistigen Dingen immer wieder zur Geltung brachte, sein Interesse an der Scholle war viel größer. Seit seinem Abgang von der Universität hatte er keine nennenswerten Studien mehr getrieben. Er faßte langsam auf; die sensitive Intuition Margarets fehlte ihm völlig. Aber sie liebte ihn mit so leidenschaftlicher Treue, daß sie alle seine Handlungen vor der Welt guthieß. Eugen hatte selbst sogar gehört, wie sie mit schrillbebender Stimme ausschrie, Leonard solle einen Schüler, der ihm frech entgegnet hatte, »ohrfeigen, daß ihm der Kopf wegfliegt«. Eugen wurde es speiübel, als er sie in diesem Zustand sah. Aber er wußte bereits, wie weit Liebe einen Menschen verändern kann. Leonard hielt sein eignes Tun und Lassen für weise und gut. Er war in einer Tradition erzogen, wo strikter Gehorsam vor dem Meister selbstverständlich war. Sein Vater, ein Patriarch auf einer Farm in Tennessee, der sonntags Laienprediger war, hatte jede Rebellion im Hause mit der Reitpeitsche und strengen Gebeten zu unterdrücken gewußt. Von ihm hatte John Dorsey gelernt, wie vorteilhaft es ist, Gott zu sein. Er war der Meinung, daß kleine Buben, die aufbegehrten, Prügel brauchten.
Natürlich trug Leonard klugerweise Sorge, jene Schüler, die aus wohlhabenden und vornehmen Häusern kamen, ebensowenig wie seine eignen Sprößlinge, körperlich zu züchtigen. Im Bewußtsein ihrer Immunität gaben sich diese jungen Burschen alle erdenkliche Mühe, unverschämt und ungehorsam zu sein. Justin Raper, der Sohn des Bischofs, ein dürrer, langer Bengel von dreizehn Jahren, schwarzhaarig, mit einem trüben, pickeligen Gesicht, tippte dreißig Durchschläge von einer Schmutzballade
»Madam, Ihre Tochter sieht piekfein aus!
Schlappuhn!«
und vertrieb sie zu fünf Cent das Stück unter den Mitschülern.
Außerdem ertappte Leonard diesen Jüngling eines Frühlingsnachmittags im hohen Gras unter den blühenden Hundsholzsträuchern auf der Ostseite des Hügels – und zwar ertappte er ihn im Geschlechtsverkehr mit Miss Hazel Bradley, der Tochter eines Kleinkrämers in der Biltburn Avenue, einem Mädchen, dessen übler Ruf stadtbekannt war. Leonard überlegte sich die Sache; er ging nicht zum Papa Bischof, sondern zum Vater Kleinkrämer.
»Jaja«, sagte Mister Bradley und zwirbelte seinen langen Schnurrbart, »da werden Sie wohl eine Warnungstafel ›Betreten verboten‹ aufstellen müssen.«
Die Zielscheibe für allen Mißbrauch und Unfug, sowohl für Leonard als auch für die Schüler, war der Sohn eines Juden, Edward Michalove. Sein Vater war Juwelier, ein dunkelhaariger, sehr liebenswerter und gepflegter Mann mit guten Manieren und langen, weißen, delikaten Händen. In seinem Schaufenster lagen antike Broschen, mit Gemmen besetzte Spangen, alte, ziselierte Uhren. Der Junge hatte zwei Schwestern, große, sehr schöne Frauen. Die Mutter war tot. Niemand in der Familie sah jüdisch aus. Etwas Dunkles, Weiches floß um ihre Erscheinungen.
Edward war zwölf, ein hochgewachsener, schlanker Knabe mit bernsteinfarbner Haut und der kleinlichen Weibischkeit einer alten Jungfer. Er hatte Angst vor den anderen Jungen. Seine spitze, giftige Altjüngferlichkeit trat in der Notwehr deutlicher zutage. Wenn er gehänselt, bedroht, gequält wurde, brach er in ein unangenehmes, schrilles Lachen oder in hysterische Tränen aus. Sein merkwürdiger, kurzschrittiger Trippelgang, eine komische Handbewegung, so als wolle er den Saum langer Röcke vom Erdboden abheben, und seine leicht belegte Fistelstimme mit dem weibisch-wollüstigen Unterton … das lenkte das schwere Geschütz des allgemeinen Mißfallens auf ihn.
Sie nannten ihn »das Fräulein«. Sie rempelten und rüpelten ihn an, bis er in einen Zustand der Dauerhysterie geriet, so daß er sich wie ein fauchendes Kätzchen benahm und die schmalen Krallenhände mit den langen Fingernägeln vor sich hinhielt, um zu kratzen, wenn sie auf ihn losgingen. Lehrer und Schüler machten etwas Verächtliches aus ihm, um dann den zu hassen, den sie aus ihm gemacht hatten.
Eines Tages war ihm Arrest aufgebrummt worden. Er schluchzte. Plötzlich sprang er auf und lief zur Tür hinaus. Er wollte aus der Schule weglaufen. Leonard, schwerschnaubend, setzte ihm nach, erwischte ihn beim Kragen und schleifte den Heulenden ins Klassenzimmer zurück.
»Setz Dich«, brüllte er und warf den Knaben gegen eine Sitzbank, daß es krachte. Plötzlich gewann die Angst, er könnte den Jungen zum Krüppel machen, die Oberhand über seine sinnlose Wut. »Steh auf!« brüllte er und riß den Jungen hoch.
»Du grüner Lümmel«, schnaufte er, »Du dreister, nichtiger Schmachtfetzen! Jetzt wollen wir mal sehen, wer sich hier aufzuspielen hat.«
»Lassen Sie die Hände von mir!« schrie Edward im Entsetzen aus physischer Übelkeit. »Ich sag's meinem Vater, alter Leonard, daß er herkommt und Sie mit Tritten in den fetten Hintern über den Schulhof jagt, das können Sie mir glauben!«
Eugen machte die Augen zu. Es war ihm eiskalt ums Herz. Er glaubte nicht mitansehn zu können, wie dem Jungen jetzt das Lebenslicht ausgeblasen würde. Aber als er die Augen wieder auftat, stand Edward, tiefrot und schluchzend, noch genau dort, wo er zuvor gestanden hatte. Nichts war geschehn.
Eugen wartete, daß Gottes Strafe über den unseligen Lästerer hereinbrechen würde. Aus der Versteinerung in Leonards Gesicht, aus den erfrornen Mienen der Schwester Amy war zu schließen, daß sie ebenfalls darauf warteten.
Edward lebte. Weiter geschah nichts – nichts.
Jahre später noch dachte Eugen an diesen jungen Juden zurück. Er dachte an ihn mit der alten heißen Scham, dem stechenden Schmerz, mit dem sich ein Mensch an eine feige, ehrlose Tat, die nie zu sühnen ist, erinnert. Nicht nur deshalb, weil er an der Verfolgung des Knaben teilgenommen hatte! Er war von Herzen froh gewesen, daß noch ein Schwächerer als er da war, jemand, auf den die Schlauchspritze der Lächerlichkeit abgelenkt werden konnte. Jahre später war ihm klar, daß auf den schmalen Schultern des jüdischen Knaben die Bürde lag, die andernfalls er hätte tragen müssen, daß dies überladne Herz von einer Qual verzerrt wurde, die sonst seine Qual hätte sein können.
Mister Leonards »Männer von Morgen« taten ihr Bestes. Der Sinn für Gerechtigkeit und körperliche Ehre war ihnen zwar unbekannt, aber sie bekannten sich desto lauter zum Buchstaben. Jeder von ihnen hatte Angst, erwischt zu werden. Jeder, so gut er es vermochte, baute eine Schanze aus Hochstapelei und Anmaßung vor sich auf. Ritterlichkeit, Mut und Ehre, die großen Männertugenden, verrotteten auf dem Müllhaufen. Die große Sippe der »Go-Getter« und »He-Men«, der sich brüstenden Raffer und der prahlenden Kraftmeier, jener lautdröhnenden und heftigdrohenden Gesellen mit den schäbigen Herzen, war im Anmarsch.
Und Eugen, dessen wirkliches Wesen nun ganz in der Schlüsselfestung seiner Phantasie eingeschlossen war, trug seinen Leib täglich zu neuen Niederlagen auf den Tummelplatz, ahmte, so gut er konnte, die Redeweisen und Allüren seiner Mitschüler nach, nahm