Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
Скачать книгу
nervösen Kampf wider und darüber hinaus den Sieg einer steten, stillen Energie über alle Unruhe. Eugen hatte immer das Gefühl, als hielte Margaret Leonard eine Hand aufs Herz gekrampft, um all die widerspenstig gespannten Drähte ihres Wesens gewaltsam zusammenzufassen. Er spürte, wenn sie einmal die Hand wegnähme, würde sie zerbrechen, würde die große Welle ihrer Tapferkeit verebben. Buchstäblich, körperlich empfand er das so. Sie erschien ihm wie ein ruhmbedeckter, sagenhaft ruhiger Feldherr, der, tödlich verwundet, die zerrißne Schlagader mit einem Griff abpressend, seinen Tod um eine Stunde hinhält und die Schlacht weiter lenkt.

      Ihr Haar war grob, ziemlich dicht, mattbraun, leicht angegraut; sie trug es in der Mitte gescheitelt und hinten zu einem Knoten zusammengeknüpft. Alles an ihr war äußerst reinlich, wie ein makellos gescheuerter Küchentisch. Sie nahm seine Hand, und er spürte die nervöse Lebenskraft ihrer Finger und bemerkte, wie sauber und gebürstet diese von Arbeit etwas abgenutzten Hände waren. Wenn er jetzt ihrer Abgezehrtheit überhaupt noch gewahr war, erschien sie ihm als Purifikation. Er fühlte sich nicht mit Krankheit in Verbindung gebracht, sondern mit der größten Gesundheit, die er je gekannt hatte. Ihr Wesen durchdrang ihn wie hohe Musik. Sein Herz hob sich.

      »Das ist der Mister Eugen Gant«, stellte Rektor Leonard vor und streichelte ihn mit der Hand über den Rücken.

      »Schön!« sagte sie, mit einer leisen Stimme, in der es von fernen Drähten summte. »Es freut mich, Dich kennenzulernen.« In ihrer Stimme vernahm er das ruhige Sichwundern, wie er es bei Leuten, die etwas Übernatürliches, etwas Merkwürdiges aus dem Jenseits berichteten, gehört hatte: eine Note des schlichten Hinnehmens. Und plötzlich wußte er, daß dieser Frau alles Leben ewig fremd scheinen müsse, daß sie unmittelbar in die Schönheit, das Mysterium und die Tragödie der Menschenherzen hineinsah, und er spürte, daß er ihr schön erschien.

      Ihr Antlitz verdunkelte sich von der seltsamen, leidenschaftlichen Lebenskraft, die keine Zeichen hat und körperlos wie das Ursein in ihr war. Das Braun ihrer Augen wurde schwarz, so, als sei ein Vogel durch ihren Blick geflogen und hätte den Schatten seiner Flügel darin zurückgelassen. Sie sah Eugens kleines, müdes, traumverlornes Gesicht, sah die brennenden Augen, sah das Gestell aus Haut und Knochen, die geraden, mageren Schenkel und die etwas einwärts gedrehten Füße, sah die Schmutzspuren auf den Knien seiner Strümpfe, die dünnen Arme, die ungelenk aus den Ärmeln der billigen, schlechtsitzenden Jacke hervorkamen, sah die schmalen, armseligen, abfallenden Schultern, sah das dichte Wirrhaar, – sie sah alles, und sie lachte nicht.

      Er hob ihr sein Gesicht entgegen wie ein Gefangner, der in die Freiheit blickt, wie ein lang im Finstern eingekerkerter Mensch, der sich nun im großen Teich des Tages badet, wie ein Blinder, der plötzlich Kern und Wesen unwandelbarer Helle in die Augen empfängt. Sein ganzer Körper trank das Licht ihres Wesens ein, wie ein Ausgestoßener in der Wüste den Regen trinkt. Er schloß die Augen und ließ das Licht über sich hingehen. Und als er wieder aufblickte, sah er, daß ihre Augen feucht glänzten.

      Dann fing sie an zu lachen. »Ei schau!« sagte sie zu ihrem Gatten, »er ist fast so groß wie Du! Stell Dich mal hierher, Junge, ich muß Euch mal aneinander messen.« Mit gewandten Händen stellte sie beide Rücken an Rücken auf. Leonard war sechs oder acht Zentimeter größer als Eugen. Er lachte weinerlich.

      »Was? Der Taugenichts!« rief er. »Der nichtige Wicht!«

      »Wie alt bist Du, Eugen?« fragte sie.

      »Im nächsten Monat werde ich zwölf.«

      »So? Das soll mal einer verstehn!« sagte sie verwundert. Dann fuhr sie fort: »Ich will Dir eines sagen, wir müssen sehen, daß Du etwas Fleisch an die Knochen kriegst. So darfst Du nicht herumlaufen, das gefällt mir nicht.«

      Sie schüttelte den Kopf.

      Diese Bemerkung war ihm unbehaglich. Er war ein wenig gekränkt. Es machte ihn stets schlau und verlegen, wenn jemand sagte, er sei »delikat«; es verletzte seinen Stolz.

      Sie nahm ihn mit in den großen Raum zur Linken, der als Wohnzimmer und Bibliothek eingerichtet war. Sie beobachtete, wie seine Mienen sich aufhellten, als er die fünfzehnhundert oder zweitausend Bücher, die dort auf verschiedenen Gestellen standen, erblickte. Linkisch nahm er in einem Korbsessel am Tisch Platz und wartete, bis sie zurückkam. Sie brachte ihm Dickmilch (die er noch nie gegessen hatte) in einem Glas und einen Teller belegte Brote dazu.

      Als er gegessen hatte, zog sie einen Stuhl neben seinen und setzte sich. Sie hatte Leonard weggeschickt, er solle irgend etwas in der Scheuer erledigen. Man hörte, wie er draußen befehlshaberisch sein Vieh rief.

      »Sag mir mal, Junge, was Du gelesen hast«, fragte sie.

      Er gab einen geschickten Überblick über die Wüsteneien von Gedrucktem, die er durchwandert hatte. Er verweilte absichtlich bei jenen Lieblingsbüchern, von denen er spürte, daß sie ihren Beifall hätten. Und da er alles, Gutes und Schlechtes, aus der Stadtbibliothek verschlungen hatte, konnte er mit seiner Belesenheit Eindruck auf sie machen. Manchmal hielt sie ihn an und fragte etwas über ein Buch; dann erzählte er den Inhalt, großzügig, mit ein paar grellen Details, so daß sie völlig zufrieden war. Sie war aufgeregt, sie brannte darauf, diesen Heißhunger nach Kenntnis, Erfahrung und Weisheit zu stillen. Und Eugen spürte plötzlich die Lust des Gehorsams. Das ungestüme, dumpfe Tappen, das blinde Jagen, die verzweifelte, rastlose Gier, das würde nun aufhören. Er würde geleitet, angewiesen, geführt werden. Der Seeweg nach Indien durch die schmalen Meeresstraßen, den er nie gefunden hatte, würde nun auf der Karte für ihn vorgezeichnet werden. Ehe er wegging, gab sie ihm einen dicken Band von neunhundert Seiten, illustriert, mit lebhaften Darstellungen von Liebesbegegnungen und Kampfszenen, aus dem Zeitalter, das er am meisten liebte.

      Um Mitternacht noch war er tief versunken in den Schicksalen des Mannes, der den Bären erschlug und die Windmühle niederbrannte, der die Geißel der Banditen war … tief versunken in der Landstraßen- und Tavernenwelt des Mittelalters … begeistert von dem tapferen, schönen Gerard, dem Samen des Genius, dem Vater des Erasmus. Eugen hielt Charles Reades »The Cloister and the Hearth« für die schönste Geschichte, die er je gelesen hatte.

      Die Altamont Fitting School war das größte Abenteuer im Leben der Leonards. All den verspäteten Erfolg, von dem er als junger Mann geträumt hatte, gedachte Leonard nun einzuheimsen. Für ihn bedeutete die Schule Unabhängigkeit, Herrschaft, Macht und – so hoffte er – auch Wohlstand. Für Margaret war das Leben Selbstzweck, war die Lust am Menschenbilden der Arbeit hoher Lohn. Lehren war ihre lyrische Musik, ihr Leben, die Welt, in der sie Gutes und Schönes stiften und aufbauen konnte. Lehren war der Herr, der dem Geist Leben gibt, während er den Leib zerbricht.

      Die kleinen Buschmotten der Menschenvergötzung taumelten ins Vulkanfeuer des Bewußtseins und verbrannten. Eugens Götter und Helden wurden alle von der mitleidslosen Sense der Jahre dahingerafft. Welche Hoffnung hatte sich denn im Leben erfüllt? Was hatte dem grausamen Wachstum widerstanden? Warum war das Gold so trüb geworden? Sein ganzes Leben lang – so schien es – fing Eugen mit leidenschaftlichen Beziehungen zu Menschen an und endete vor Bildern. Das Leben, an das er sich zu lehnen gedachte, entwich, und er hielt ein Standbild umarmt. Aber siegreich und wirklich inmitten des von Schatten heimgesuchten Herzens blieb jene Frau lebendig, die seine blinden Augen zuerst mit dem Licht berührt hatte, die seiner verhängten, unbehausten Seele ein Heim gab. Sie blieb.

      O Tod-im-Leben, der uns die Menschen in Steine verwandelt! O Wandel, der gleichmachend über unsre Götter dahingeht! Wenn einer von ihnen noch unter der Asche der verzehrenden Jahre lebt, soll nicht der Staub geweckt werden, soll nicht der tote Glaube wieder entbrennen, sollen wir nicht Gott wieder schauen wie einst auf den Bergen des Morgens? Wer geht mit uns auf die Berge?

      XVII

      Eugen verbrachte seine nächsten vier Lebensjahre in Leonards Schule. Er kannte die entsetzliche Öde in Dixieland …, er sah den dunklen Schmerzensgang, den Gant mit seinen großen Gliedern bergab ging …, er ermaß bereits, daß er in seinem Eigenleben auf ewig eingesperrt sei …, und so erschienen ihm diese vier Jahre wie ein Aufenthalt im Hain, wo goldne Äpfel reifen.

      Was Leonard selbst ihm gab, war sehr wenig: – ein trockner Kriegszug durch die Riesenwüsten lateinischer Prosa; – zuerst eine ruppige, steifgerittne