Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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dann ein Jahr lang die karge, knappe Genauigkeit des Cäsar, die großartige Struktur und Schärfe seines Stils, die Sicherheit seines Satzbaus, ein Studium, das das dumpfe Einteilen in Tagespensen, das mickrige Zerlegen der Sätze in Bestandteile, das rohe Klischee pedantischer Übersetzerei, tödlich machte. Die herrlich-dunkle Lebendigkeit des »Gallischen Kriegs«, die ein großer Lehrer mit ein paar Zügen in den Bericht des großen Realisten hätte bringen können …, sie fehlte. Statt dessen gab es methodische Routine und Gedächtnisarbeit: – Cogitata. Neutrum Pluralis des Partizips als Substantiv verwandt. Quo statt Ut zur Anzeigung der Absicht gebraucht, wenn Komparativ folgt. März letzten Jahres fehlten drei Tage am Pensum. Achtzig Zeilen für morgen durchgehn.

      Sie saßen ein mühseliges Zeitalter über diesem langweiligen Hund Cicero. De Senectute. De Amicitia. Virgil wurde umgangen, weil John Dorsey Leonard ein schlechter Seemann war und sich in virgilanischer Navigation nicht auskannte. Er haßte Forschungsfahrten, mißtraute dem Reisen. Und die großen Namen des Ovid, des Herrn der Bodengeister, des bacchischen Flötenspielers der »Amores« und des Lucretius, der vom Rhythmus der Gezeiten klingt, auch sie wurden umgangen. Nox est perpetua.

      »Höh!« kam es langgezogen aus Leonards Kehle. Er lachte leer. Vom Kinn bis zu den Knien war er mit Kreide beschmiert. Stefan Reinhart, genannt »Pap«, beugte sich vorsichtig vor und stieß Eugen mit dem spitzen Bleistift in die Weichen. Eugen knurrte; es tat weh.

      »Ihr wollt wissen warum?« sagte Mister Leonard und rieb sich das Kinn. »Es ist eben ein ganz andres Latein.«

      »Wieso anders?« fragte Tom Davies hartnäckig. »Schwerer als Cicero?«

      »Na«, entschied Mister Leonard unschlüssig, »eben anders. Jedenfalls noch ein bißchen zu hoch für euch.«

      – est perpetua. Una dormienda. Luna dies et nox.

      »Sind lateinische Gedichte schwer zu lesen?« erkundigte sich Eugen.

      »Na …« Mister Leonard schüttelte den Kopf. »Leicht jedenfalls nicht Horaz zum Beispiel …«, fing er vorsichtig an.

      »Er hat Oden und Epoden geschrieben«, sagte Tom Davies. »Was ist eigentlich 'ne Epode, Mister Leonard?«

      »Wieso? Eine Epode ist eine Gedichtform«, verkündete Mister Leonard nachdenklich.

      »Ei, der Teufel!« flüsterte Pap Reinhart rauh in Eugens Ohr. »Das wußte ich, ehe mein Alter Schulgeld berappte.«

      Leonard lächelte üppig, rieb sich das Kinn und machte es noch kreidiger. Er wollte zur Lektion des Tages zurückkehren.

      »Also hier waren wir stehen geblieben.«

      »Bitte, wer war Catull?« begehrte Eugen heftig zu wissen. Wie ein Speer sauste der Name durch sein Hirn.

      »Ei, ein Dichter!« antwortete Leonard, gedankenlos, schnell, aufgeschreckt. Schon tat ihm die Auskunft leid.

      »Was für Gedichte hat er denn geschrieben?« fragte Eugen.

      Keine Antwort.

      »Ähnlich wie Horaz?«

      »Eigentlich nicht«, sagte Leonard nachdenklich. »Er schrieb anders als Horaz.«

      »Wie denn? Worüber denn?« wollte Tom Davies wissen.

      »Wie Deine Großmutter, wenn sie Bauchgrimmen hat«, flüsterte Pap Reinhart.

      »Er schrieb über Dinge, die damals von allgemeinem Interesse waren«, sagte Mister Leonard leichthin.

      »Über Liebschaften, nicht wahr?« sagte Eugen mit bebender Stimme.

      Tom Davies sah ihn erstaunt an. »Geh fort!« rief er und fing an zu lachen.

      »Ja, er schrieb Liebesgedichte«, behauptete Eugen leidenschaftlich. »Er war in eine Dame namens Lesbia verliebt. Frag Mister Leonard, wenn Du's mir nicht glaubst.«

      Sie sahen den Lehrer an.

      »Na – ja – nein – das weiß ich selber nicht so genau«, sagte der verwirrte Mister Leonard abweisend. »Woher weißt Du denn das, Eugen?«

      »Ich hab's in einem Buch gelesen«, sagte Eugen. Er fragte sich selbst, wo. Wie ein sausender Speer der Name.

      – dessen Zunge wie eine Schlangenzunge gespalten war, dessen Sprache wie eine Lanze der Leidenschaft und Ekstase flog. –

      Odi et amo; quare id faciam …

      »Nicht alle seine Gedichte«, sagte Mister Leonard, »nur einige.«

      … fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior.

      »Wer war sie denn?« fragte Tom Davies.

      »Das war damals so Brauch«, sagte Mister Leonard nachlässig. »Wie mit Dante und Beatrice. Es war die Form, in der Dichter ihre Komplimente abstatteten.«

      Die Schlange flüsterte. Etwas Wildes schoß Eugen ins Blut. Die Gewänder des Gehorsams, der Untertänigkeit, der schicklichen Achtung vor dem Lehrer fielen von ihm ab.

      »Sie war die Frau eines anderen«, behauptete er laut.

      Entsetzliche Stille.

      »Na! Aber schau her! Wer hat Dir denn das gesagt, Junge?« Mister Leonard war bestürzt. Er betrachtete diese Heirat als eine wilde, möglicherweise gefährliche Mythe. »Wer hat Dir das gesagt, Junge?!«

      »Ei, was war sie denn wirklich?« fragte Tom Davies spitz.

      »Nein, das stimmt nicht ganz, daß sie eines anderen Frau war«, brummte Mister Leonard.

      »Sie war ein schlechtes Frauenzimmer«, sagte Eugen. Und dann fügte er verzweifelt hinzu: »Sie war 'ne kleine Schneppe.«

      Pap Reinhart zog scharf den Atem ein.

      »Was?! Was?! Was?!« rief Mister Leonard schrill als er wieder Worte fand. Er kochte vor Wut. Er sprang auf. »Was hast Du da gesagt, Eugen?«

      Aber dann dachte er an Margaret. Wie gelähmt sah er dem Jungen in das bleiche, verstörte Gesicht. Das war zuweit gegangen. Er setzte sich wieder. Er war erschüttert.

      – dessen unzüchtigster Schrei noch von Leidenschaft befeuert war, dessen musikalischster Vers aus dem Schmutz der Gosse blüht. –

      Nulla potest mulier tantum se dicerse amatam. Vere, quantum a me Lesbia amata mea est.

      »Du solltest vorsichtiger mit Deinen Reden sein, Eugen«, warnte Mister Leonard freundschaftlich.

      »Aber vorwärts jetzt«, rief er plötzlich aus und nahm sein Buch. »So kommen wir mit der Arbeit nicht weiter. Also los!« Er spuckte in seine intellektuellen Hände. »Ich weiß, was Ihr vorhabt, Ihr Racker! Ihr möchtet die ganze Lehrstunde mit dieser Fragerei vertrödeln.«

      Tom Davies lachte laut.

      »Also los, Tom!« befahl Leonard scharf. »Du fängst an. Seite 43. Sechster Absatz. Zeile 15.«

      In diesem Augenblick schellte es, und Tom Davies' Lachen schallte durchs Klassenzimmer.

      Nichtsdestoweniger: auf den begangnen Pfaden des Lehrbrauchs gab John Dorsey Leonard verläßlichen Unterricht. Es wäre ihm vielleicht schwer gefallen, eine Seite Latein, Vers oder Prosa, mit der er nicht seit Jahren vertraut war, zu zergliedern. Im Griechischen haperte es noch mehr; aber immerhin hätte er einen zweiten Aorist oder einen Optativ, der ihm schon einmal begegnet war, im Dunkeln wiedererkannt. Zum Abschluß gab es nämlich zwei Jahre Griechisch; sie lasen die Anabasis.

      »Wozu lernen wir das Zeug eigentlich?« bemerkte der diskussionslustige Tom Davies.

      Hier stand Mister Leonard mit sicheren Füßen auf der dauernden, wohlgegründeten Erde. Den Wert der Klassiker kannte er.

      »Es lehrt den Menschen, die höheren Dinge zu schätzen. Es legt den Grund zu einer liberalen Erziehung. Es trainiert den Verstand.«

      »Und was nutzt ihm das, wenn's nachher ans Geldverdienen geht?« fragte Pap Reinhart. »Deshalb kann man doch nicht mehr Mais auf seinem Grundstück bauen!«

      »Nanu! So sicher ist das nicht!« protestierte Mister Leonard lachend. »Ich glaube meinerseits, daß es dazu hilft.«

      Der