Geduldig belagerte Leonard Eliza und Gant. Gant wich aus, war und blieb unverbindlich, wies ihn schließlich an Eliza. »Sie müssen mit der Mutter reden!« Privatim äußerte er sich sehr aufgebracht über den Antrag und hielt laute Reden über die Verdienste der Volksschule als einer Brutstatt rechtschaffnen Staatsbürgersinns. Die Familie rümpfte die Nase: »Privatschule?! Mister Vanderbilt, was?! Dem Bürschlein große Rosinen in den Kopf setzen, so daß sein Lebtag nichts aus ihm wird!«
Woraufhin Eliza nachdenklich wurde. Eine gediegne Strähne Snobismus war in ihr. Mister Vanderbilt?! Ei warum nicht?! War sie etwa etwas Geringeres? Keineswegs! Sie würde es schon beweisen.
»Haben Sie schon Kunden zusammengetrommelt? Wessen Söhne werden in Ihre Schule kommen?« fragte sie.
Leonard nannte ein paar modische und reiche Leute, die ihm ihre Söhne schicken würden: – Dr. Kitchener, der Ohren-, Rachen-, Nasen- und Augensoezialist; Mister Arthur; der Syndikus einer Großfirma; Bischof Raper von der episkopalischen Diözese.
Eliza wurde noch nachdenklicher: Sie dachte an Pett, Will Pentlands Frau. Hatte die es vielleicht nötig, so dickzutun?
»Wie hoch ist das Schulgeld?« fragte sie.
Hundert Dollar im Jahr, erklärte er. Sie schürzte die Lippe statt einer Antwort. Sie lächelte neckisch und sah Eugen an.
»Hm, das ist ein ganzer Haufen Geld«, sagte sie schließlich. »Wissen Sie«, – ihr Lächeln wurde wehleidig – »wie die armen Nigger so sagen, wir sind ein poweres Volk.«
Eugen zuckte zusammen.
»Na, was ist denn, Junge?« sagte Eliza scherzhaft zu ihm, »glaubst Du, daß Du das Geld wert bist?«
Mister Leonard legte seine weiße, trockne Hand gönnerisch auf Eugens Schulter und fuhr ihm, überall Kreidespuren zurücklassend, den Rücken hinunter. Dann packte er den Jungen fest bei den schmalen Handgelenken.
»Dieser Bursche ist es wert«, versicherte er und schüttelte ihn langsam hin und her.
Eugen lächelte peinlich verlegen. Eliza schürzte wieder die Lippe. Sie spürte eine starke, seelische Verwandtschaft mit Leonard. Sie beide gehörten zu der Sorte, die sich zu allem Zeit läßt. Sie lächelte schlau, rieb sich die gerötete Nase.
»Ja, sagen Sie mal«, legte sie los, »ich war mal selber Schullehrerin, das wissen Sie wohl gar nicht, was? Aber dafür bekam ich längst nicht so viel Geld, wie Sie da verlangen. Ich war herzlich froh, wenn ich 'nen Freitisch und zwanzig Dollar im Monat bekam.«
»Ei was? Wirklich. Mistress Gant?« entgegnete Mister Leonard höchst interessiert. »Na also!« Er lachte leer und schüttelte Eugen heftiger, wobei er ihn so hart anpackte, daß er ihm fast die Adern abschnürte.
Eliza begann wieder:
»Jaja, ich erinner' mich noch ganz genau … da war mein Vater, es war lange vor Deiner Geburt …« – bemerkte sie zu Eugen, – »denn Deinen Papa hatte ich damals noch mit keinem Auge gesehn, und wie die Kerle so sagen. Du warst damals weiter nichts, wie ein schmutziges Spüllümpchen, das im Himmel zum Trocknen aufgehängt ist … jaja, damals hätte ich jedem ins Gesicht gelacht, der mir was vom Heiraten vorgeschwätzt hätte. Also, was ich sagen wollte …« – hier schüttelte sie traurig den Kopf und verzog den Mund vor Wehmut – »wir waren damals sehr, sehr arm, kann ich nur sagen, ich hab erst neulich wieder dran gedacht, wie oft wir damals nicht wußten, wo die nächste Mahlzeit herkommen sollte. Also wie gesagt …« – sie wandte sich immer noch an Eugen – »Dein Großvater kam eines Abends heim und fragte mich: ›Also rat mal, wen ich heut getroffen habe?‹ Ich erinnere mich so genau, als stünde er leibhaftig vor mir im Zimmer. Na also, mir schwante so was, wissen Sie …« – hier wandte sie sich an Leonard mit einem fragenwollenden Lächeln – »… so Ahnungen sind schon merkwürdig, wenn man später darüber nachdenkt. Also, ich hatte gerade meiner Tante Jane beim Tischdecken geholfen; sie wohnte in Yancey County und war damals bei uns zu Besuch … es war gerade ein Jahr, daß ich fast an doppelseitiger Lungenentzündung gestorben wäre, und mein Vater hatte mir einen großen Sack Äpfel mit heimgebracht. Da rief ich aus: ›Ei Papa! Da hast Du mir ja Äpfel mitgebracht.‹ er aber sah so sonderbarlich aus und sagte einfach: ›Ich habe gute Nachricht für Dich, Eliza. Und nun rate mal, wen ich heut getroffen habe!‹ ›Aber ich habe nicht die geringste Idee, wen!‹ antwortete ich, und da sagte er: ›Der alte Professor Trueman war es. Er ist in der Stadt auf mich zugekommen und sagte: ›Hör mal, ich hab 'ne Stelle für die Eliza. Wenn sie will, kann sie den Winter über in Beaverdam Schule halten.‹ ›Ach was‹, sagte mein Vater, ›sie hat ja nie im Leben einen Tag Schule gehalten‹, aber der alte Professor Trueman lachte einfach laut heraus und sagte: ›I bewahre, das macht nichts, die Eliza kann alles, was sie will …‹ jaja … so ist es denn zustand gekommen …«
Mit höchst besorgter Miene hielt sie inne. Ihre Gedanken wanderten auf den überwucherten Wegen der vergangnen Jahre.
»Also, hallo, mein Junge«, sagte Mister Leonard unsicher, gab Eugen, einen Stoß und lachte selbstgenüßlich vor sich hin.
Eliza schürzte langsam die Lippe.
»Schön!« entschied sie, »ich werde Ihnen den Jungen auf ein Jahr schicken.«
Dies war ihre Art, Geschäfte zu erledigen. Die Flut stieg in Sargasso.
So: auf den haarfeinen Spuren von Millionen kleiner Impulse wirkte das Schicksal auf Eugens Leben ein.
Mister Leonard hatte ein großes, altmodisches, leicht baufälliges Haus vor der Stadt gepachtet. Es war vor dem Bürgerkrieg gebaut und stand breitaufgesetzt in einem Hain großer Eichen auf einem Hügel. Die Fronten gingen nach Westen und Süden, gegen Biltburn hin und gegen das Südende der Stadt mit dem Bahnhofsviertel und den Mietskasernen, in denen Neger wohnten.
Eines Tages, früh im September, nahm er Eugen mit hinaus. Sie sprachen gewichtig von Politik, als sie die Hatton Avenue herunterschritten. Sie gingen durch die Stadt und die gewundne Straße hügelan zum Hause hinauf. Wehmütige Vorherbstmusik rauschte in den alten Bäumen, als sie in das große Grundstück eintraten.
In der geräumigen Wohndiele sah Eugen zum erstenmal Rektor Leonards Frau. Sie hatte eine Schürze vorgebunden und trug einen Besen in der Hand. Eugens erster Eindruck war überraschend. Margaret Leonard war ein ungemein zartes, schier zerbrechliches Wesen.
Sie war damals vierunddreißig. Sie hatte zwei Kinder, einen sechsjährigen Sohn und eine zweijährige Tochter. Als sie vor ihm stand, die lange, feine Hand um den Besenstiel gelegt, bemerkte Eugen, daß die Spitze ihres rechten Zeigefingers flach war, so, als sei sie mit einem Hammer unheilbar plattgeschlagen worden. Jahre später erst erfuhr er, daß Tuberkulöse zuweilen solche Finger haben.
Sie war mittelgroß, etwa 1,6o Meter. Als Eugens Verlegenheit abflaute, merkte er, daß sie höchstens siebzig oder achtzig Pfund wiegen könne. Von den Kindern hatte er reden hören; nun fielen sie ihm ein. Zwangsläufig, mit kaltem Entsetzen dachte er an Leonards schweren, weißen Muskelwulst. Die Vorstellung der geschlechtlichen Beziehungen zwischen den beiden drängte sich ihm jählings auf: furchtsam und ungläubig wehrte er den Gedanken ab.
Sie trug ein Kleid aus steifem, grauem Gingham, das keineswegs lose oder füllig um ihre abgezehrte Gestalt fiel, sondern ihren Körper so verhüllte, als wäre er ein drapierter Stock.
Während Eugen noch in diesen qualvollen Eindrücken befangen war, hörte er ihre Stimme. Beschämt blickte er auf und sah ihr ins Gesicht. Es war das stillste und gleichermaßen leidenschaftlichste Gesicht, das er je gesehen hatte. Unter der aschfahlen, dünnen Haut zeichneten sich die zarten Linien der Gesichts- und Schädelknochen klar ab. Die merkwürdige Gespanntheit, die die Gesichter Sterbender haben, war gerade überwunden. Dieser Mensch hatte soweit zurückgefunden, daß das Leben ihm die Waagschale von Krankheit und Genesung im Gleichgewicht hielt. Alles, was sie tat, müßte diese Frau erwägen und bemessen.
Eine sehr gerade Nase und ein langes, feingeschnittenes Kinn gaben dem schmalen Gesicht einen Anflug weltkluger Entschiedenheit. Um winzige Grübchen in der schlaffen Wangenhaut und um die Mundwinkel