Aber das nun war etwas Neues. Sie marschierten in die Aula, nahmen klassenweise Platz. Die Tür zum Rektorzimmer zur Linken – wo die kleinen Buben Prügel bekamen – ging auf. Der Rektor kam heraus, trat schnell aufs Katheder und fing an zu reden.
Dieser Rektor war neu. Der junge Armstrong, der so delikat an der Blume gerochen, Daisy besucht und Eugen einmal beinahe wegen schmutziger Reimereien verhauen hatte, war versetzt. Der neue Rektor war älter, achtunddreißig etwa. Er war groß und stark, fast zwei Meter hoch. Er stammte aus einer kinderreichen Farmerfamilie in Tennessee. Sein Vater war arm, hatte aber seinen Kindern zu einer guten Erziehung verholfen. Das alles wußte Eugen bereits, denn der Rektor sprach jeden Morgen zu der versammelten Schule. Er sagte dann, er hätte es nie so gut gehabt wie die Schüler. Mit einem gewissen Stolz stellte er sich ihnen als Vorbild hin. Mit spaßigem Ernst mahnte er die kleinen Buben, »nicht wie das dumpfe Vieh auf der Trift, sondern wie Helden im Kampf zu stehen«. Das war ein poetisches Zitat, nämlich Longfellow.
Der Rektor hatte schwere, stämmige Schultern und dicke, ungelenke Arme mit wulstigen Bauernmuskeln. Eugen hatte ihn einmal im Schulgarten mit der Hacke arbeiten sehen, damals, als jedes Kind eine Pflanze zum Einsetzen bekommen hatte. Diese Muskeln hatte der Rektor auf der Farm bekommen. Die Jungen sagten, daß es bei ihm sehr harte Hiebe setze. Er hatte einen plumpen, vollfüßigen Schleichgang, der äußerst komisch und ungeschickt wirkte. Aber er konnte einen Jungen »tappen«, ehe der es recht gewahr ward. Otto Krause nannte ihn den »Kriecherchristus«. Eugen war ein wenig schokiert darüber. Aber die Buben waren eine rohe Bande, der Spitzname blieb.
Der Rektor hatte ein wächsern weißes Gesicht, flache Wangen, ähnlich wie die Pentlands, eine bläulich-bleiche Nase, einen dünnlippigen, leichtgeschwungnen Mund. Sein grobes, dichtes, schwarzes Haar ließ er nie zu lang wachsen. Er hatte kurze, breite, kräftige Hände; sie waren sehr trocken und immer mit Kreide beschmiert. Wenn Eugen an ihm vorüberging, fing er stets den Geruch von Kreide und Schulhaus auf. Vor solcher Autorität wurde ihm kalt ums Herz: Da war der Mann, der schlagen konnte, ohne daß man zurückschlagen durfte, das war etwas wie die Blitze schleudernde Hand Gottes. Phantastische Qual: Eugen stellte sich vor, daß er Widerstand leisten und zurückschlagen würde … Dann sah er sich vorsichtig um, ob der Gewaltige nicht etwa seine verruchten Gedanken erraten habe.
Der Rektor hieß Leonard. Jeden Morgen, nach einem Gebet von zehn Minuten, hielt er eine längere Ansprache an die Schüler. Er hatte eine hohe, laute Stimme. Manchmal vergaß er sich und verfiel in eine komische, bäurisch-rauhe, langgedehnte Sprechweise. Es geschah oft, daß er den Faden verlor und mitten im Satz zu träumen anfing. Dann starrte er mit halboffnem Mund vor sich hin, lachte plötzlich ein leeres, karges, verständnisloses Lachen und kehrte, die Gedanken immer noch unterwegs, zur Sache zurück.
Jeden Morgen, zwanzig Minuten lang, ließ er ein planloses, langweilig-pompöses Gerede auf die Kinder los. Die Lehrer gähnten vorsichtig in die Hände, die Kinder kritzelten etwas vor sich hin oder schrieben einander Zettelchen. Der Rektor sprach von »höherem Leben« und von den »Dingen des Geistes«. Er versicherte, die Schüler seien »Männer und Frauen des morgigen Tags«, »die Hoffnung der Welt«. Woraufhin er Longfellow zitierte.
Ein rechtschaffner, dumpf-ehrlicher Mann, dieser Leonard. Es war ein gut Stück erdhafter Roheit an ihm. Abgesehen von seiner Leidenschaft für die Schulmeisterei ging ihm nichts über eine Farm. Er hatte ein großes, baufälliges Haus vor der Stadt gepachtet; es stand auf einem Hügel in einem Hain alter, stattlicher Eichen. Dort hauste er mit einer Frau und seinen zwei Kindern. Er hielt eine Kuh, denn ohne Kuh konnte er nicht leben. Frühmorgens und abends molk er sie mit eigner Hand.
Leonard war ein harthändiger Herr. Er duldete keinen Widerspruch. Wenn ein Junge frech war, packte er ihn beim Kragen und schleppte den Zappelnden schweratmend ins Rektorzimmer, wo er dem Gefangnen mit scharfen Meerrohrhieben eine strenge Lehre erteilte.
Heute nun hatte er die Schüler versammelt, um einen kleinen Aufsatz schreiben zu lassen. Mit leeren Gesichtern dösten die Kinder vor sich hin, als er ihnen aufs Geratewohl auseinandersetzte, was sie schreiben sollten. Schließlich verkündigte er, daß er einen Preis ausgesetzt habe. Er würde aus eigner Tasche demjenigen, der die beste Arbeit abliefre, fünf Dollar geben. Sofort war das Interesse geweckt.
Der Aufsatz war über ein französisches Bild, das »Das Lied der Lerche« hieß. Auf dem Bild war ein Bauernmädchen dargestellt. Es war barfuß; in der Hand hielt es eine Sichel. Das Morgenlicht lag auf den Feldern. Das Mädchen hob das Gesicht gen Himmel und lauschte den Trillern des Vogels. Die Kinder sollten schreiben, was das Gesicht des Mädchens ausdrücke. Sie sollten schreiben, was ihnen das Bild bedeute. Es war im Lesebuch reproduziert; zudem hing es nun groß und in Buntdruck zur Besichtigung an der Wand. Gelbe Papierbogen wurden verteilt. Die Kinder stierten, kauten an ihren Bleistiften. Es wurde still im Saal, man hörte das feine Gekratz der Schreibenden.
Der warme Wind flog um die Giebel. Draußen, leise sausend, wellte das Gras.
Engen schrieb:
»– Das Mädchen lauscht dem Lied der Lerche. Es weiß, das bedeutet, der Frühling ist da. Das Mädchen ist ungefähr siebzehn oder achtzehn. Seine Leute sind arm; es ist nie woanders gewesen. Im Winter trägt es Holzpantinen. Das Mädchen spitzt den Mund ein wenig, als ob es pfeifen wolle. Aber es pfeift nicht, damit der Vogel nicht merkt, daß es ihn beobachtet. Seine Leute kommen hinter ihm her; sie steigen auf dem. Feldweg den Hügel hinan, darum sehen wir sie nicht. Das Mädchen hat einen Vater, eine Mutter und zwei Brüder. Alle haben sie ihr Lebtag gearbeitet. Das Mädchen ist das jüngste Kind in der Familie. Es hegt den Wunsch, woandershin zu reisen und die Welt zu sehen. Manchmal hört es einen Zug pfeifen, der nach Paris geht. Es ist noch nie Eisenbahn gefahren. Es möchte gern mal nach Paris. Es möchte schöne Kleider haben und reisen. Vielleicht möchte es in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ein neues Leben anfangen. Das Mädchen hat es nicht gut gehabt; seine Angehörigen verstehen es nicht. Wenn sie jetzt sähen, wie es der Lerche lauscht, würden sie es verspotten. Das Mädchen hat nie die Vorteile einer guten Schulbildung genossen. Seine Leute sind zu arm dazu. Wenn ihm aber diese Gelegenheit gegeben wäre, dann würde es sie mehr nützen, als manche andere Kinder tun, denen diese Vorteile geboten werden, denn am Gesicht sieht man, daß das Mädchen klug und verständig ist.«
Das war Anfang Mai. In vierzehn Tagen sollten die Abschlußprüfungen sein. Eugen freute sich sehr darauf. Er hatte das Pauken, das Überfliegen des Lehrstoffs gern; es machte ihm Spaß, seine aufgespeicherten Kenntnisse zu Papier zu bringen; die hochgespannte, nervöse Atmosphäre im Prüfungssaal regte ihn an. Und dann würden die trägen, heißen Ferienmonate kommen. Ach, wenn er dann hier sein könnte, mit dem großen Gipsabdruck der Minerva allein, oder mit Bessie Barnes oder mit Miss –, mit Miss –
»Den Jungen müssen wir kriegen«, sagte Margaret Leonard und reichte ihrem Gatten Eugens Aufsatz. Sie wollten eine Privatschule für Knaben aufmachen; aus diesem Grunde hatte der Rektor den Aufsatz schreiben lassen.
Leonard tat so, als läse er eine halbe Seite, starrte geistesabwesend in die Ewigkeit und kratzte sich am Kinn, wobei er sein Gesicht kreidestaubig machte. Dann, als er ihren Blick auffing, lachte er ein kurzes, blödes Lachen und bemerkte: »Wie? Den kleinen Nichtsnutz? Ach was? Glaubst Du wirklich …?« Er beugte sich vornüber, mit eingezognem Atem lachend und klatschte sich auf die Knie, wo er Kreidespuren zurückließ. Er brachte einen fetten Schmalzlaut hervor und sagte schließlich: »Barmherziger Heiland!«
.»Hier, vorwärts, sieh Dir das an und mach keine Flausen!« sagte sie und lächelte zärtlich amüsiert über ihn. »Faß Dich und geh und besuch die Eltern dieses Jungen!« Sie liebte ihren Gatten sehr; er liebte sie.
Ein paar Tage später versammelte Leonard die Oberklassen abermals in der Aula. Er hielt eine wirre Rede, in der er den Schülern kundtat, daß einer unter ihnen den Preis gewonnen