Die gesamte Zuhörerschaft ist restlos begeistert. Keine Seele rührt sich. Nicht einmal ein Hund oder ein Pferd wagt sich zu rühren. Als der letzte holde Ton in ein sommerfadenfeines Tremolo zerschmolz, trat jene tiefe Grabesstille, nein!, jene tiefe, tiefe Todesstille tritt ein, die den höchsten Triumph, den ein Künstler hienieden erreichen kann, darstellt. Irgendwo in der Menge seufzt eine Frau auf und sinkt ohnmächtig um. Unverzüglich tragen zwei gerade anwesende Boys Scouts sie davon und leisten ihr auf der Damentoilette erste Hilfe: der eine zündet ein muntres Feuerchen aus Fichtenreisig an, indem er zwei Feuersteine aneinanderschlägt; der andre aber macht aus einem zusammengeknüpften Taschentuch eine Aderpresse. Nun jedoch bricht ein Höllenlärm los. Damen reißen sich die Ringe von den Fingern, die Perlenketten vom Hals, reißen sich Chrysanthemen, Hyazinthen, Tulpen und Gänseblümchen von den kostbaren Büsten, während hochmodisch gekleidete Herren aus den Logen und Rängen ein Dauerbombardement von Tomaten, Salathäuptern, Eiern, Kartoffeln, Ochsentalg, Schweinsknöcheln, Fischköpfen, Seemuscheln, Koteletts und Würstchen unterhalten.
Zwischen den Marktständen wandelten, spähäugig und spürnasig, die Boardinghouse-Keepers von Altamont hin und her. Ob dick oder dünn, ob jung oder alt, die Lippen dieser Damen waren kampfbereit. Der Wille, billig einzukaufen und um alles zu feilschen, stand in ihren Mienen. Sie beäugten die Fische, sie betasteten die Gemüse, die petzten die Kohlköpfe, wogen die Zwiebelbündel in der Hand, öffneten Salathäupter. Man muß die Augen offen halten, oder die Leute ziehen einem die Haut ab. Und auf die faulen, nichtsnutzigen Niggerköchinnen ist gar kein Verlaß; die schmeißen mehr weg, als sie kochen. Mit harten Blicken sahen diese Damen einander ins Gesicht: Mistress Barett vom »Großvenor« der Mistress Neville vom »Glenview«, Mistress Ambler vom »Colonial« der Miss Mamie Featherstone vom »Ravencrest«, Mistress Ledbetter vom »Belvedere« – –
»Ach, Mistress Coleman, ich höre, daß Sie volles Haus haben?« sagte sie fragend.
»Ja, die ganze Zeit schon«, bestätigte Mistress Coleman. »Alles Dauergäste. Mit Touristen gebe ich mich gar nicht ab«, fügte sie hochmütig hinzu.
»Ach, mit Lungenkranken, die sich für gesund ausgeben«, entgegnete Mistress Ledbetter bissig, »könnte ich jederzeit volles Haus haben. Ich nehme sie einfach nicht. Erst neulich sagte ich …« – –
Mistress Michalove vom »Oakwood« der Mistress Jarvis vom »Waverley«, Mistress Cowan vom »Ridgemont« der – –
Unsre Stadt ist glänzend darauf eingerichtet, den Ansprüchen des großen, ständig wachsenden Anstroms der Touristen, die die Gebirgsmetropolis besonders in den Hochsommermonaten besuchen, gerecht zu werden. Außer den Namen von acht großen Luxushotels allerersten Ranges und Rufes enthält das Verzeichnis der Handelskammer vom Jahre 1911 die Anschriften von 250 Privathotels, Boardinghouses und Sanatorien, die sämtlich den Bedürfnissen der Reisenden, die aus Geschäftsgründen oder vergnügungshalber oder auf der Suche nach Gesundheit kommen, zu genügen bestrebt sind.
Haltet das Passagiergut am Bahnhof an!!
Der Zeitungsträger Nummer 3 war mit seiner Route fertig. Leise schlich er über die gelbschleimige Veranda des Hauses an der Valley Street, leise ratterte er an der Tür, leise öffnete er und schlich durch die schwarze, miasmatische Luft zu dem Bett, in dem May Corpening lag. Sie war wie betäubt, sie murmelte etwas. Als er sie berührte, wandte sie sich ihm zu, schloß ihn in ihre üppigen, nackten, kupferglänzenden Arme und zog ihn zu sich.
Nun stapfte, den leeren zinnernen Essenträger schwingend, Tom Cline, der rußige Maschinist, die Treppe zu seiner Wohnung in Bartlett Street hinauf.
Nun kehrte Ben in Begleitung Harry Tugmans ins Zeitungsbüro zurück.
Und nun erwachte plötzlich im Gartenzimmer von Gants Haus in der Woodson Street – auf den lauten Weckruf seines Vaters – Eugen. Er wandte sein Gesicht voll auf, eine Augenblicksvision von rosenbehauchtem Blauhimmel und zarten Blüten, die langsam zu Boden schneiten.
XV
Die Berge waren seine Meister. Sie schlossen sein Dasein ein. Sie waren der Becher der Wirklichkeit. Sie standen über Kampf und Tod erhaben als das eine Absolute inmitten des ewigen Wandels. Alte Gesichter glommen in Eugens Gedächtnis, die Blicke suchten ihn heim. Er entsann sich an Swains Kuh, St. Louis, den Tod, an sich selber in der Wiege. Er verfolgte das Gespenst seiner selbst, er versuchte auf einen Augenblick das Leben, an dem er teilgehabt hatte, zurückzugewinnen. Er verstand das Wachstum, den Wandel nicht. Er stand in der Wohnstube und starrte ein Kinderbildnis von sich an; er wandte sich ab: ihm graute vor seinem Unvermögen, sein Ich auch nur eine Sekunde lang zu fassen, zu greifen, zu halten.
Die körperlosen Schemen des gelebten Lebens erschienen mit gräßlicher Genauigkeit, wahnsinnig nah wie Visionen. Etwas, das sich vor fünf Jahren zugetragen hatte, erstand, wie durch eine Handbewegung heraufbeschworen, und im gleichen Augenblick hörte er auf, an sein eignes Sein zu glauben. Er wartete darauf, daß jemand ihn aufwecken würde; so hörte er abends Gants große Stimme aus dem Garten und ging zu Bett. Aber was ihm zuvor wiedererstanden war, blieb.
Er lauschte auf das spukhafte Ticken seines Lebens. Seine wilde, mächtig brennende Hellsichtigkeit (Anlage durch Elizas schottisches Blut vererbt) reichte Jahre zurück, saugte die Schatten auf und sammelte die Lichtspuren. Da erschienen ein kleiner Bahnhof im Frühlicht … eine Landstraße in der Dämmerung schnurgerade durch einen Tannenforst … die rußige Lampe in einer Hütte … ein Hirtenjunge, der hinter springenden Kälbern herlief … eine wirrhaarige Schlampe in einem Türrahmen … mehlbestaubte Neger, die Säcke aus einem Güterwagen ausluden … der Chauffeur, der den Autobus durch die Weltausstellung in St. Louis fuhr … im Tagesgrauen ein kühllippiger See.
Wie geflochtner elektrischer Leitungsdraht wand sich sein Leben zurück in den braunen Schummer der Vergangenheit. Er, Eugen, war es, der Form und Bewegung in die millionenfachen Erlebnisse brachte, die der Zufall, der Gewinn oder Verlust eines Augenblicks, der ungeheure, ziellose Impuls des Unberechenbaren in die Gluthitze seines Ichs warf. Er, Eugen, war es, der die Auslese traf: die weißen Stecknadelköpfe des Erlebten leuchteten lebhaft, und alles Drum und Dran wurde dann um so gespenstischer. Viele von den Bildern, die in ihm gespensterten, hatte er aus vorbeisausender Landschaft durch das Zugfenster aufgefangen.
Was ihn entsetzte, war die furchtbare Kombination zwischen Feststehendem und Wandelbarem, war der qualvolle, ewig dünkende Augenblick, in dem – wenn man am Leben mit großer Geschwindigkeit vorbeifährt – der Beobachter und das Beobachtete in der Zeitlichkeit erfroren zu sein scheinen. Da gab es diesen Moment des Hängens im Zeitlosen, in dem das Land sich nicht bewegte, der Zug sich nicht bewegte, die Schlampe in der Tür sich nicht bewegte, er selbst sich nicht bewegte. Es war, als ob Gott den Taktstock scharf über das unendliche Orchester der Meere gehoben hätte und so die ewige Bewegung in der zeitlosen Architektur des Absoluten hangend innehielte. Es war wie jene verlangsamten Filmaufnahmen, die einen Schwimmer beim Kopfsprung, ein Pferd beim Nehmen einer Hürde festhalten; – mitten in der Luft ist die Bewegung plötzlich versteinert, eine Handlung, die sich unerbittlich zu Ende vollziehen muß, ist aufgefangen. Dort freilich wird dann die Bewegung vollends ausgeführt, der Schwimmer schießt ins Wasserbecken, das Pferd setzt auf die andre Seite des Hindernisses. Aber die Bilder, die in Eugen brannten, existierten ohne Anfang und Ende, ohne das wesentliche Eingefügtsein in den Zeitablauf. Ohne jeden Übergang, ins Zeitlose festgebannt verschwand die Schlampe in der Tür.
Eugens Empfindung der Unwirklichkeit wurde durch Zeit und Bewegung erzeugt. Er stellte sich nämlich vor, die Schlampe ginge, nachdem der Zug vorübergesaust war, in die Hütte und nähme einen Kessel vom Herd. Und sofort verging das Bild in Schatten, alles wurde gespenstisch. Der Junge, der hinter den Kälbern herlief, wo war er später, wo jetzt?
Ich bin – dachte er – ein Teil von allem, was ich erlebt habe, was mich erlebt hat. Und das Erlebte hat kein Sein, außer dem, das ich ihm gewährte. Es wurde verwandelt und vermischte sich mit dem, was ich damals war, und ist jetzt wieder etwas anderes geworden, denn nun ist es mit dem verschmolzen,