Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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großen Schlaf der Weißen und Schwarzen. Seine Taschen waren nun leer. Am Abend waren sie noch voll gewesen, voll von dem Geld, das der Pfandverleiher Saul Stein dem Moses für einige Gegenstände gegeben hatte, die dieser im Haus des Rechtsanwalts Mister George Rollins gestohlen hatte, nämlich: eine Golduhr, 18 Karat, Marke Waltham, mit schwerer Goldkette; den Diamant-Verlobungsring der Mistress Rollins; drei Paar feine Seidenflorstrümpfe und zwei Herrenunterhosen. Eine halbleere Flasche Whisky, Marke »Cloverleaf Bonde Kentucky Rye«, mit der sich Moses hinter den Bretterzaun zurückgezogen hatte, lag unberührt in der entspannten Hand. Die breite schwarze Gurgel klaffte, von Ohr zu Ohr geschlitzt. Jefferson Flack, Moses' verhaßter und hassender Nebenbuhler, 28 Jahre alt, Neger, hatte mit dem Rasiermesser saubere Arbeit gemacht. Er lag nun friedlich, unverdächtigt, unverfolgt bei Molly Fiske, ihrer gemeinsamen Geliebten, in deren Appartement an der East Pine Street. Moses war im Mondschein ermordet worden.

      Eine halbverhungerte Katze strich lautlos den Bretterzaun entlang. Als die Glocke vom Amtsgericht sechs harte Schläge dröhnte, trappten acht Negerarbeiter vorbei, die Hosenböden ihrer Arbeitsanzüge steif von verhärtetem Zement. Jeder trug sein Mittagessen in einem zinnernen Träger. Die acht Mann marschierten in geschloßner Keilformation, wie ein sechzehnbeiniges Tier.

      Mittlerweile vollzogen sich gleichzeitig folgende Ereignisse in der Nachbarschaft: –

      Dr. H. M. McRae, 58 Jahre alt, aus Schottland gebürtig, Pfarrer der First Presbyterian Church, wusch seinen flechsigen Leib, kleidete sich an mit Stärkhemd und schwarzem Tuchanzug, rasierte sein hageres, sauberes, nicht alterndes Gesicht und verließ das Schlafzimmer seiner Wohnung in der Cumberland Avenue, um sein Frühstück, bestehend aus Haferbrei, trocknem Toast und gekochter Milch, einzunehmen. Sein Herz war rein, sein Sinn aufrecht, sein Glaube und sein Leben waren wie ein mit Bimsstein blankgescheuerter Tisch. Er betete ohne Anmaßung, er betete dreißig Minuten lang, er betete für das Heil aller Menschen und für den Erfolg aller guten Unternehmungen. Er war eine weiße, unauslöschliche Flamme, die von Liebe über den Tod hinaus leuchtet. Was er sprach, klang von steter Inbrunst, wie Stahl auf Stahl.

      Im Dampfbad von Dr. Frank Engels Sanatorium an der Liberty Street sank Mr. J. H. Brown, der reiche Sportsmann und Verleger des »Altamont Citizen«, in traumlosen Schlaf. Er war fünf Minuten im Dampf und zehn Minuten in der Badewanne gewesen und hatte sich eine halbe Stunde lang im Trockenraum der fachmännischen Osteopathie des beliebten »Colonel Andrews« (so hieß Dr. Engels trefflicher Negermasseur) von den Sohlen seiner gichtischen Füße bis zu dem ädrigen Seidenglanz seines leicht blauroten Gesichts unterzogen.

      Schräg gegenüber, im »Altamont City Club«, Ecke der Liberty Street und der Federal Avenue, sammelte ein verschlafner Neger in weißer Dienerjacke die verstreuten Spielmarken auf dem Tisch ein und verstaute sie säulenweis sortiert in Schachteln. Zu der Pokerpartie, die vor nicht ganz einer Stunde beendet wurde, hatten unter anderen Mister Henry Pentland junior und der vorerwähnte Mister J. H. Brown gehört.

      Beim Verlassen der Frühstücksstube sprach Harry Tugman zu Ben: »Herrje, ich dachte, mir platzt 'ne Ader, als ich las, daß sie den Alten dort im Klosett aufgestöbert haben! Nachdem er andauernd in seiner blöden Zeitung druckte, die Stadt müsse von Lasterhöhlen gesäubert werden.«

      Ben meinte: »Mich sollte es nicht wundern, wenn Judge Sevier eine Haussuchung bei ihm abhielte.«

      Harry Tugman wurde ungeduldig: »Aber gewiß, das muß er doch! Übrigens, ich wette, daß ›Queen Elizabeth‹, die Puffmutter, hinter der Sache steckt. Sie weiß und erfährt alles und läßt sich so 'ne Konkurrenz nicht bieten. Der Alte hat schon seit 'ner Woche den Mund nicht aufgemacht, kaum daß er sich traut, den Kopf aus dem Büro zu strecken.«

      In der Klosterschule der Heiligen Katharina an der Sankt Clements Road ging Schwester Theresa, die Mutter-Vorsteherin, behutsam durch den Schlafsaal und ließ neben jedem Bett die Fensterblende in die Höhe. Der Duft der Apfel- und Kirschblüte wehte sanft und kühl herein über die Reihe der schlafenden Rosenfräulein. Der Atem flog leis von den tauigen, halboffnen Mündern; rosiges Licht fiel auf die kissengestützten Armbeugen, die schmalen jungen Hüften, die krausen Nelkenknospen der Brüste. Am äußersten Ende des Saals lag ein dickes Mädchen, alle viere von sich gestreckt und schnarchte laut durch die bibbernden Lippen.

      Erst in einer Stunde wird geweckt.

      Von einem der kleinen weißen Tischchen zwischen den Bettstellen nahm Schwester Theresa ein Buch, das unvorsichtigerweise am Abend dort liegen geblieben war. Sie schlug es auf und las den Titel: The Common Law by Robert W Chambers. Unter dem grauen Bartanflug, über das ganze, große und grobknochige Gesicht huschte ein stilles, inniges Lächeln. Schnell nahm sie einen Bleistift in die knochige, erdfleckige Hand und kritzelte mit ihrer zackigen, männlichen Handschrift aufs Vorsatzblatt: »Schund, mein Kind! Lies es, damit Du es selbst merkst.«

      Dann ging sie still, vollfüßigen Schritts ins Erdgeschoß hinunter, wo sie in ihrem Arbeitszimmer von Schwester Louise (Französisch), Schwester Berenice (Geschichte) und Schwester Mary (Alte Sprachen) zur Morgenbesprechung erwartet wurde. Als die Lehrerinnen gegangen waren, setzte sie sich an den Schreibtisch und arbeitete eine Stunde am Manuskript jenes Buches, das, bescheidnerweise als »Leitfaden für Höhere Schulen« bezeichnet, später ihren Namen überall, wo die edle Architektur der Prosa gewürdigt wird, berühmt gemacht hat: der großen »Biology«.

      Es gongte im Schlafsaal, sie hörte das hohe, helle Lachen der jungen Mädchen. Sie erhob sich und sah durchs Fenster. Eine junge Nonne, Schwester Agnes, den Arm voll Pflaumenblüten, kam durch den Garten.

      Drunten im Baumversteck, auf der Sohle des Biltburn-Tals, donnerte ein Zug auf den Schienen mit einem langgezognen, schrillen Pfiff.

      Die Marktstände im Untergeschoß des Stadthauses wurden aufgemacht. Metzger in gestreiften Schürzen schwangen Hackbeile auf kaltes Frischfleisch, schmissen dicke Koteletts auf marmoriertes Fettpapier, schoben rascheingeschlagne Bündel den wartenden schwarzen Lieferjungen zu.

      Der rassenbewußte Neger J. H. Jackson stand in seiner viereckigen Gemüseauslage. Seine zwei ernsten Söhne und seine bebrillte geschäftsmäßige Tochter halfen bedienen. Auf den Brettergestellen lagen, noch nach Morgenerde riechend, große krause Endivien, dicke Rettiche, noch Humusklümpchen an den zarten Wurzeln, quirlstielige junge Zwiebeln, frisch aus dem Beet gezupft, Spätsellerie und Frühkartoffeln, dünnrindige Citrusfrüchte aus Florida.

      Am Stand nebenan verkaufte Sorrell Fische und Austern. Mit dem Schöpflöffel holte er aus der Tiefe einer in Eis gepackten Emailkanne Ladungen von Austern heraus und leerte sie in dicke Pappschachteln. Auf Eisbrocken gebettet, die ausgeweideten Bäuche weit geschlitzt, lagen Karpfen, Alsen, Forellen, Barsche.

      Mister Michael Walter Creech, Metzgermeister, hatte sein Frühstück – Kalbsleber, Speck-und-Eier, heiße Biskuits und Kaffee – beendet. Er gab einem aus der Reihe der schwarzen Lieferjungen ein Zeichen. Die ganze Reihe sprang vorwärts wie eine Meute. Mit gehobnem Hackbeil und einem Fluch jagte er sie zurück. Der Glückliche, den er begünstigt hatte, kam nun und nahm das Auftragbrett mit den üppigen Überresten der Mahlzeit und einer halbvollen Kanne Kaffee. Da er gerade auf Lieferfahrt wegmußte, stellte er das Brett auf das Sägmehl am Ende der Schlächterbank, spuckte Speise und Trank ausgiebigst an, um sie vor dem Heißhunger seiner Kameraden zu bewahren, und fuhr laut und triumphierend lachend auf dem Fahrrad davon. Mister Creech blickte seine Nigger finster an.

      Die Stadt hatte Mister Creechs afrikanisches Blut – ein Achtel seitens seiner väterlichen Großmutter »Yellow Jenny«, der Mulattin – so weit vergessen, daß sie bereit war, ihm einen politischen Posten einzuräumen. Aber Mister Creech selber vergaß es eben nie. Er schoß seinem Bruder Jay einen bittern Seitenblick zu. Jay, glückselig unwissend, daß des Hasses Ätzgift selbst eines Bruders Herz verzehren könne, stand vor seinem muldigen Holzblock, hackte begeistert Speerrippchen aus und sang dazu in seinem vollen Tenor das Lied vom »kleinen grauen Vaterhaus im Westen«:

      »… wo blaue Augen blinken,

      wenn sie den meinen winken …«

      Giftig blickte Mister Creech auf Jays gelbe Backen, auf das fettige Muskelgeschlabber der gelblichen Kehle, das versengte, krallige Haar. Bei Gott, dachte er in seiner Herzensnot, man