»Schweig sofort still!« befahl hitzig wütend Helene. »Augenblicklich hältst Du's Maul! Ich will nichts mehr von Dir hören! Ich hab Dir mein Leben dargebracht. Alles ist für Dich getan worden. Und Du wirst noch herumlaufen, wenn wir andern alle unterm Boden sind. Nicht Du bist der Kranke hier im Haus!« Ihr Gefühl für ihn war in diesen Tagen zänkisch und bitter geworden.
»Wo ist Mama?« fragte Eugen.
»In der Küche«, antwortete sie. »Sag ihr erst guten Tag, eh Du zu Ben rauf gehst.« Beim Hinausgehn flüsterte sie heiser: »Also vergiß drauf! Es ist jetzt nichts mehr dran zu ändern.«
Er fand Eliza vor dem Gasherd. Sie hantierte mit mehreren Kesseln kochenden Wassers herum. Sie schwankte, war unbeholfen, schien überrascht und verwirrt, als sie ihn sah.
»Wie? Um alles in der Welt! Aber Eugen! Wann bist Du angekommen?«
Er umarmte sie. Durch die Maske der Sachlichkeit hindurch gewahrte er das Entsetzen in ihrem Herzen. In ihren stumpfen, schwarzen Augen blitzten die Messer der Angst.
»Wie geht's dem Ben, Mama?« fragte Eugen ruhig.
»Ei – – – ei – –!« Sie schürzte nachdenklich die Lippe. »Ich hab gerade, eh Du reinkamst, mit Doktor Coker gesprochen. ›Schaun Sie‹, hab ich gesagt, ›ich will Ihnen was sagen: ich glaube, es steht nicht halb so schlimm um ihn, als es aussieht. Wenn wir ihn jetzt bis zum Morgen durchbringen können, dann, glaub ich, wird eine Wendung zum Bessern eintreten.‹«
»Mama! Um Himmels willen!« platzte Helene zornig heraus. »Wie bringst Du's nur fertig, so zu reden? Bist Du Dir denn wirklich noch nicht klar darüber, daß Bens Zustand höchst kritisch ist? Wirst Du denn nie aufwachen?«
Ihre Stimme klang geborsten vor Hysterie.
»Nun, ich will Dir was sagen, Sohn«, begann Eliza wieder. Sie lächelte mit bebenden Lippen. »Wenn Du zu ihm reingehst, dann stell Dich so, als wüßtest Du gar nicht, daß er krank ist. Ich an Deiner Stelle würde einfach einen herzlichen Spaß machen. Ich würde fröhlich herauslachen und frisch von der Leber weg zu ihm sagen: ›Da schau einmal an! Da dachte ich, ich käme einen Kranken besuchen, und was seh ich? Pah! Ei, ei!‹ würde ich sagen. ›Dir fehlt ja überhaupt nichts. Gut die Hälfte ist nichts wie Einbildung!‹«
»Ach, Mama, um Christi willen!« sagte Eugen außer sich vor Wut. »Um Christi willen!«
Er wandte sich ab. Das Herz zog sich ihm zusammen. Er griff sich an die Gurgel.
Dann ging er mit Helene und Lukas leise in den ersten Stock. Vor dem Krankenzimmer blieben sie stehn. Eugens Glieder waren kalt und blutlos; ihm war, als hätte sein Herz ausgesetzt. Sie flüsterten, ehe er eintrat. Die elende Verschwörerei angesichts des Todes entsetzte ihn.
»Bleib nur 'ne M-m-minute«, wisperte Lukas. »M-m-mach ihn nicht nervös.«
Eugen riß sich zusammen und folgte Helene blindlings ins Zimmer.
Ihre Stimme klang herzhaft: »Guck mal, wer da zu Besuch kommt!« sagte sie. »Die lange Latte ist's!«
Einen Augenblick lang konnte Eugen vor lauter Angst nichts sehn. Ihm schwindelte. Das Licht war mit einem grauen Lampenschirm so stark abgeblendet, daß das ganze Zimmer außer dem Bett im Halbdunkel lag. Alsbald erkannte Eugen die Krankenpflegerin Bessie Gant und Cokers langen gelben Totenschädel, der ihn, eine lange, angekaute Zigarre zwischen den Zähnen, trübselig angrinste. Und dann, unter dem grellen, furchtbaren Licht, das unmittelbar auf das Bett fiel, sah er Ben. Und in diesem Augenblick verzehrender Erkenntnis sah er, was sie alle gesehn hatten: Ben lag im Sterben.
Bens langer, dürrer Leib stak dreiviertels unterm Bettzeug; der hagere Umriß, vor Qual und Anstrengung verrenkt, zeichnete sich unter der Decke ab. Dieser Körper schien nicht mehr zu Ben zu gehören; abgetrennt und verkrümmt war er wie der Rumpf eines Enthaupteten. Und das fahle Gelbweiß des Gesichts war grau geworden. Und um dieses granitne Todesgrau, beflackert von zwei kleinen roten Fieberfahnen, wuchs der schwarze Ginster eines dreitägigen Stoppelbarts. Dieser Bart war gräßlich; er drängte einem den Gedanken auf an die verruchte Lebenskraft des Haares, das noch an verwesenden Leichen weiter wächst. Ben bleckte die weißen, unheimlich und wie tot wirkenden Zähne; seine Lippen waren in der qualstarren Grimasse des Erstickens verzerrt. Stoßweise und keuchend zog er ein bißchen Luft in die Lunge. Und dieses Nachluftschnappen, dieses Röcheln, – laut, rauh, heiser, schnell, unglaublich –, das von Augenblick zu Augenblick das ganze Zimmer wie ein Orchester erfüllte, gab der Szene die abschließende Note des Grauenhaften.
Ben lag auf dem Bett, im gesammelten grellen Licht, und sie sahen, auf ihn herunter: er lag wie ein riesenhaftes Insekt auf dem Tisch eines Naturforschers und kämpfte, während sie zusahen, um seinem armen, verzerrten Leib das Leben zu erhalten, das keine Macht der Welt halten konnte. Es war ungeheuerlich und roh.
Als Eugen hinzutrat, fiel Bens angstheller Blick zum erstenmal auf den jungen Bruder. Und körperlos, ununterstützt hob er seine gepeinigte Lunge aus den Kissen, packte Eugen wild an den Handgelenken mit heißen, weißen verkrampften Fingern und keuchte wie ein furchtsames Kind: »Warum bist Du da, Eugen? Warum bist Du zu Haus?«
Eugen stand bleich und stumm, von Mitleid und Entsetzen gelähmt.
»Wir haben Ferien, Ben«, sagte er. »Sie mußten die Universität schließen wegen der Grippeepidemie.«
Dann wandte er das Gesicht jäh ab und starrte in das grauschwarze, schlammige Halbdunkel, geschlagen vor Scham über seine armselige Lüge, unfähig, Ben länger ins Auge zu sehn.
»Jetzt aber raus mit Dir, Eugen!« befahl Bessie Gant. »Vorwärts, raus! Du auch, Helene! Ich habe genug an einem verrückten Gant im Zimmer. Zwei weitere sind mir zuviel.« Sie sagte das ruppig, unangenehm lachend.
Sie war eine dürre Person, 38 Jahre alt, mit Gants Neffen Gilbert verheiratet. Sie stammte aus dem Gebirg; sie war grob, hart, vulgär. Es war wenig Mitgefühl in ihr. Elend, Krankheit und Tod genoß sie mit kalter Lust. Ihre Unmenschlichkeit bemäntelte sie mit ihrer Berufsauffassung: »Wenn ich als Krankenschwester meiner Gefühlsduseligkeit nachgäbe«, sagte sie, »was sollte dann aus den Patienten werden?«
Als sie wieder draußen auf dem Gang waren, sagte Eugen ärgerlich zu Helene:
»Warum habt Ihr dieses gemeine Biest hier? Ich kann sie nicht ausstehn! Kein Mensch kann gesund werden, wenn diese Person um ihn herum ist.«
»Du kannst sagen, was Du willst, sie ist eine ausgezeichnete Pflegerin.« Dann, ganz leise, fragte sie ihn: »Was hältst Du von ihm?«
Eugen wandte sich ab mit verkrampfter Gebärde. Sie brach in Tränen aus und ergriff seine Hand.
Lukas wippte und tändelte und kicherte und zappelte verlegen herum; er schnaufte laut und zog nervös an einer Zigarette. Eliza verzog andauernd den Mund und lauschte gespannt nach der Tür des Krankenzimmers. Sie hatte, vollkommen zwecklos, einen Kessel mit heißem Wasser in der Hand.
»Heh-huh-hah? Was sagt Ihr da?« fragte sie, ehe noch jemand was gesagt hatte. »Wie geht's ihm denn?« Ihre Augen wanderten schnell von einem zum andern.
»Geht doch fort! Fort!« knurrte Eugen wild. Seine Stimme wurde hart. »Könnt Ihr denn nicht wenigstens weggehn?«
Der Seemann mit seinem nervösen Geschnauf und seinen großen, linkischen Füßen machte ihn wütend. Und Eliza mit ihrem sinnlosen Wasserkessel, ihrem vergeblichen Lauschen, ihren Huhs und Hahs und Hehs reizte ihn noch mehr.
»Wißt Ihr nicht, daß er nach Luft ringt? Wollt Ihr ihn denn erwürgen?«
Die Häßlichkeit und die Qual des Sterbens schnürten ihm die Kehle. Und die Familie, die mit ihrem Geflüster und ihrem zwecklosen Gepussel herumstand und ihren furchtbaren Todeshunger an Bens Sterben sättigte, machte ihn wahnsinnig, bald aus Mitleid, bald vor Wut.
Nach einer Weile gingen sie unschlüssig, immer noch auf das Geröchel aus dem Krankenzimmer horchend, ins Erdgeschoß hinunter.
»Also, ich will Euch was sagen«, begann Eliza hoffnungsvoll, »ich hab so ein Gefühl, ich weiß nicht recht, ob ich es so nennen soll,