Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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vergiß drauf!« sagte Helene düster. »Ich wenigstens habe mein Bestes getan, das steht fest. Ich bin seit zwei Tagen nicht ins Bett gekommen. Was auch kommen mag, ..ich habe mir keine Vorwürfe zu machen.« Ihre Stimme war hart von gehässiger Genugtuung.

      »Ich weiß! Ich weiß!« Der Seemann wandte sich aufgeregt in der Luft herumfuchtelnd, an Eugen. »Die Helene hat sich bis auf die Knochen abgerackert. Wenn sie nicht gewesen wäre …« Tränen traten ihm in die Augen, er wandte sich ab und schneuzte seine Nase.

      »Ach, um Christi willen!« gellte Eugen und sprang vom Tisch auf. »Hört auf damit! Ich bitt Euch, hört auf damit! Verschiebt es auf später.«

      In dieser Weise vergingen ihnen die gedehnten Morgenstunden. Sie versuchten alles, um aus dem tragischen Netz, in dem sie gefangen saßen, zu entweichen. Ihre Gemüter schwangen sich in kurzen Augenblicken zu wahnsinniger Freude und Begeisterung auf und fielen dann wieder auf Stunden ins Dunkel der Hysterie und Verzweiflung zurück. Nur Eliza schien beständig zu hoffen. Eugen und der Seemann schritten bebend vor nervöser Überreiztheit in der Diele auf und ab, unzählige Zigaretten rauchend, sich sträubend wie Kater, wenn sie aufeinander zugingen, ironisch höflich, wenn einer den andern am Ärmel streifte. Gant verdöste den Vormittag im Empfangszimmer und in seiner Stube, wachte und schlief abwechselnd, stöhnte wehleidig, war allem fern, war sich meist nur ungenau klar über die Ursache der Aufregung, grollte, weil er nun so gleichgültig behandelt wurde. Helene ging im Krankenzimmer aus und ein; sie beherrschte den Sterbenden kraft ihres Lebenswillens; ihr Herzensmut beströmte ihn; schenkte ihm auf Augenblicke Hoffnung und Vertrauen. Aber wenn sie aus dem Zimmer kam, klappte sie sofort zusammen vor Hysterie; sie weinte, lachte, brütete, liebte und haßte abwechselnd.

      Eliza ging nur einmal ins Krankenzimmer. Sie drang mit einem Heißwassergummibeutel ein, scheu, linkisch, wie ein Kind; sie verschlang Bens Gesicht mit ihren dumpfen, schwarzen Augen. Aber als der fiebrige Blick des Lautröchelnden auf sie fiel, krallten sich seine weißen Finger fester ins Bettzeug, und er keuchte vor Entsetzen:

      »Raus mit Dir! Raus! Ich will Dich nicht!«

      Eliza verließ das Zimmer. Sie wankte ein wenig, als versagten ihr die Füße den Dienst. Ihr weißes Gesicht wurde aschgrau, ihre stumpfen Augen wurden hell und starr. Als die Tür hinter ihr zuging, lehnte sie sich gegen die Wand und schlug eine Hand vors Gesicht. Dann, einen Augenblick später, ging sie gefaßt in die Küche.

      Gereizt wie sie waren, verlangte eins vom andern, es solle sich beherrschen. Sie bestanden darauf, daß man dem Krankenzimmer fernbleiben müsse, aber es war, als wenn ein mächtiger Magnet sie hinzöge. Immer wieder standen sie vor der Tür, auf den Zehenspitzen, und lauschten mit angehaltnem Atem, lüstern-gebannt auf das gräßliche Geröchel, mit dem Ben ruckweise Luft in seine verstopften Lungen zwang. Eifersüchtig vor Begier suchten sie einer vor dem andern ins Zimmer zu gelangen, wenn es galt, Wasser, Handtücher oder sonst etwas hineinzubringen.

      Mistress Pert, die im Boardinghouse gegenüber Zuflucht gefunden hatte, rief Helene alle halbe Stunde an. Helene sprach mit ihr am Telephon, während Eliza aus der Küche kam und mit gefalteten Händen, geschürzter Lippe und haßfunkelnden Augen daneben stand.

      Helene weinte und lachte am Apparat.

      »Ja, ja, ja …, es ist schon recht, Fatty … Ich weiß, wie mir deswegen zu Mute ist … Ich habe immer gesagt, daß Sie der einzige wahre und treue Freund sind, den er auf der Welt hat … und denken Sie ja nicht, daß wir alle unerkenntlich sind für das, was Sie getan haben …«

      Während der Pausen hörte Eugen über den Draht, wie die andre Frau drüben am Apparat seufzte.

      Und Eliza sagte grimmig: »Wenn sie nochmal anruft, dann läßt Du mich sprechen! Ich werde ihr heimleuchten!«

      »Um Himmels willen, Mama!« kreischte Helene ärgerlich. »Du hast schon genug verpatzt. Du hast sie rausgeschmissen, nachdem sie mehr für ihn getan hatte, als die ganze Familie zusammen.« Ihre Miene verkrampfte sich. »Ach, es ist lachhaft!«

      In Eugen, wenn er rastlos in der Diele auf und ab schritt oder im Haus herumschlich auf der Suche nach irgendeinem Eingang, den er nie gefunden hatte, krümmte und wand sich unausgesetzt ein helles, uraltes, wundes Etwas wie ein Vogel in einer Falle. Dieses helle Etwas, der Kern seines Wesens, sein Fremdling, verrenkte unaufhörlich den Kopf, außerstande, das Gräßliche anzusehn, bis es schließlich unentwegt gebannt in die Augen von Tod und Finsternis starrte. Und als er auf und ab ging, verrenkte er seinen eignen Hals und schlug mit seinen Armen wie mit Flügeln die Luft, als wäre ihm ein furchtbarer Schlag ins Kreuz versetzt worden. Er spürte, daß er rein und frei sein könne, wenn er in einer einzigen brennenden Leidenschaft aufginge, hart, heiß und glitzernd: Liebe oder Haß oder Entsetzen oder Ekel. Aber er war verstrickt in ein Gewebe der Vergeblichkeit. Kein Augenblick des Hasses war, in dem ihn nicht auch ein Dutzend Speere des Mitleids trafen; er war machtlos; er wollte seine Angehörigen packen, sie puffen, sie abschütteln, wie man einen lästigen Balg abschüttelt, und zur selben Zeit drängte es ihn, sie zu streicheln, sie zu lieben, sie zu trösten.

      Als er an den sterbenden Bruder oben im Zimmer dachte und an das gräßlichste, die Familie, die winselnd daneben stand, während Ben erstickte, dann würgten ihn Wut und Ekel. Ein Umstand aus, seiner Kindheit fiel ihm ein: er erinnerte sich seines Hasses auf das halbprivate Badezimmer, den Abscheu, den er beim Stuhlgang empfand, als er dahockte und auf die Badewanne starrte, in der schmutzige Wasche eingeweicht war, schlapp, schlampig und zu Ballonen aufgepufft in einer kalten, grauen Seifenbrühe … Daran entsann er sich nun, als Ben starb.

      Die Hoffnung flackerte auf, als vormittags die Nachricht kam, daß die Temperatur des Patienten niedriger, sein Puls stärker und die Kongestion in der Lunge zurückgegangen sei. Aber gegen ein Uhr, während eines Hustenanfalls, verfiel Ben ins Delirium, die Temperatur stieg, die Atembeschwerden nahmen ständig zu. Eugen und Lukas rasten in Hugo Bartons Wagen in Woods Drogerie und holten einen Sauerstofftank. Als sie zurückkamen, war Ben am Ersticken.

      Sie trugen geschwind den Apparat ins Zimmer und stellten ihn am Kopfende des Betts auf. Bessie Gant nahm das Mundstück, wollte es Ben in den Mund stecken. Wie ein Tiger stieß er sie weg. Sie befahl Eugen, Bens Hände festzuhalten.

      Eugen packte Ben bei den heißen Handgelenken; das Herz drehte sich ihm im Leib um, als er zugriff. Ben richtete sich wild aus dem Kissen auf, krümmte sich, um die Hände freizubekommen, und keuchte entsetzt:

      »Nein! Nein! Eugen, nein!«

      Eugen gab nach. Er ließ ihn los, wandte sich mit blutlosem Gesicht ab von den anklagenden, hellentsetzten Augen des Sterbenden. Jemand anders hielt ihm die Hände. Der Apparat verschaffte ihm zeitweilige Erleichterung. Dann verfiel er wieder ins Delirium.

      Um vier Uhr war es offenbar, daß der Tod nahe war. Ben hatte kurze Perioden von Bewußtsein, Delirium und Ohnmacht – aber die meiste Zeit lag er im Delirium. Sein Atem ging leichter, er summte Bruchstücke von populären Melodien vor sich hin, einige davon alt und vergessen, die er nun aus dem Adyton seiner Kindheit hervorrief. Immer aber kam er mit seiner stillen, summenden Stimme auf »Grad so ein Kindergebet im Zwielicht« zurück, einen kitschig-sentimentalen Kriegsschlager, ein billig gemachtes, aber nun tragisch rührendes Ding:

      »… Wenn die Lichter leise werden,

      Deine Jahre, armes Kind,

      Voller Tränen sind …«

      Helene trat ins Zimmer.

      Alle Furcht war aus Bens Augen gewichen. Er röchelte, zog Luft ein, runzelte die Stirn herunter und sah sie ernsthaft mit seinem alten, fragenden Kinderblick an. Sein Bewußtsein zuckte auf einen Nu auf, er erkannte sie. Er lächelte sein wunderbares Lächeln, ein dünnes, schnelles Flackern huschte über seinen Mund.

      »Hallo, Helene! Ja! Du bist's, Helene!« rief er erfreut.

      Ihr Gesicht war qualverzerrt, als sie aus dem Zimmer kam. Sie unterdrückte ein erschütterndes Stöhnen, bis sie halb die Treppe herunter war.

      Als die Dunkelheit auf den grauen, naßkalten Tag herniederfiel, saß die Familie im Empfangszimmer: die letzte, furchtsame Versammlung vor dem Tod: stillschweigend, abwartend. Gant schaukelte eigensinnig im Stuhl, dann und wann spuckte er