»Hast Du den Sweater gesehn, den sie anhat? Du hast ihn gesehn, nicht wahr? Er ist so-o-o schmutzig!« Sie brütete einen Augenblick vor sich hin. »Weißt Du auch, daß er ihren Anblick nicht ausstehn kann? Sie kam gestern rauf an sein Bett, und ihm wurde ganz übel. Er drehte das Gesicht weg und sagte ›Oh Helene, um Gottes willen. schick sie raus!‹ Da hast Du's jetzt gehört, verstehst Du? Du weißt es jetzt, nicht wahr? Er will sie nicht im Zimmer haben, er kann ihre Gegenwart nicht ertragen.«
»Hör auf! Um Gottes willen, Helene, hör auf!« sagte Eugen und krallte sich an der Kehle.
Helene war in diesem Augenblick irrsinnig vor Haß und Hysterie.
»Es ist gewiß furchtbar, daß ich so was sage, aber wenn er stirbt, werde ich sie hassen. Glaubst Du, ich könnte es je vergessen? Wie sie an ihm gehandelt hat! Glaubst Du, ich könnte das?« Sie keifte halblaut mit aufgerauhter, überschrieener Stimme. »Sie hat ihn vor ihren Augen sterben lassen. Gestern noch, als seine Temperatur auf 104 Grad Fahrenheit stand, unterhielt sie sich mit dem alten Doctor Doak über ein Baugrundstück. Kannst Du Dir so was vorstellen?«
»Vergiß drauf«, sagte er. »Sie wird immer so bleiben. Man kann es nicht ändern. Sie ist nicht dran schuld. Siehst Du das nicht ein?« Und dann, ganz außer sich, stöhnte er: »Mein Gott! Wie entsetzlich!«
Helene fing an zu greinen.
»Die arme, alte Mama!« sagte sie. »Sie wird es nie verwinden. Sie steht Todesängste aus. Hast Du ihre Augen gesehn? Sie weiß alles, natürlich weiß sie es.« Sie schwieg lang. Dann plötzlich mit finster brütendem, wahnsinnigem Gesicht sagte sie: »Ich hasse sie! Manchmal glaube ich wirklich, ich hasse sie.« Sie petzte sich geistesabwesend das große Kinn. »Also, wir sollten nicht so sprechen«, erklärte sie. »Es gehört sich nicht. Nur Mut! Wir sind alle nervös und überspannt. Ich glaube, daß es immer noch gut gehn kann.«
Grau und kalt mit trübem Nebelbrodem kam der Tag. Eliza, pathetisch-rührig, betätigte sich in der Küche mit der Vorbereitung des Frühstücks. Einmal lief sie mit einem Heißwasserkessel hinauf und stand eine Sekunde lang vor der Tür. Bessie Gant öffnete, Eliza spähte schnell hinein auf das furchtbare Bett. Bessie stellte sich in den Türspalt, verwehrte ihr den Zutritt, machte ihr die Tür vor der Nase zu. Eliza ging weg, verworrne Entschuldigungen vor sich hinmurmelnd.
Denn, was Helene gesagt hatte, war wahr; und Eliza wußte es. Sie wurde nicht gewünscht im Krankenzimmer, der sterbende Ben wollte sie nicht sehn. Sie hatte es sehr wohl gesehn, wie er sein gepeinigtes, verzagtes Gesicht abwandte, als sie zu ihm trat. Hinter ihrer weißen Miene wohnte das Grauen; aber sie gestand nichts und klagte nicht. Rührig-sachlich beschäftigte sie sich mit zwecklosen Dingen. Und Eugen, einen Augenblick von der Wut gewürgt und an den Rand der Raserei gebracht über ihren plumpen Optimismus, wurde im nächsten Augenblick plötzlich blind vor Mitleid, als er die Angst und Pein in ihren stumpfen, schwarzen Augen sah. Als sie so am heißen Ofen stand, ging er unvermittelt auf sie zu, ergriff ihre rauhe, abgenutzte Hand, küßte sie und plapperte hilflos:
»Ach Mama, Mama, es ist ja schon recht, es ist ja schon recht!« Und Eliza, jählings aller Vorgeblichkeit entkleidet, hing sich an ihn, begrub ihr weißes Gesicht an seinem Rockärmel und weinte bittre, hilflose, kummervolle Tränen. Sie weinte über die verlornen, die traurig vergeudeten Jahre, die unwiderruflichen Jahre, jene unsterblichen Liebesstunden, die nicht gelebt werden konnten, jenes große Übel der Vergeßlichkeit und Gleichgültigkeit, das sich nie wieder gutmachen läßt. Wie ein Kind war sie dankbar für seine Zärtlichkeit. Und sein Herz verkrampfte sich wie ein wildes, wehes, zerbrochnes Wesen, und er murmelte in einem fort:
»Es ist ja schon recht! Es ist ja schon recht!« und wußte ganz genau, daß es nicht ja-schon-recht war, daß es nie ja-schon-recht werden könne.
»Ach, wenn ich gewußt hätte, Kind, wenn ich gewußt hätte!« weinte sie. Sie weinte, wie sie vor langem, bei Grovers Tod, geweint hatte.
»Raff Dich auf, Mama«, sagte er, »er wird es schaffen. Das Schlimmste ist wohl herum.«
»Also ich will Dir was sagen«, sagte Eliza und trocknete sofort ihre Augen, »ich glaube es ganz bestimmt, ich glaube, der Wendepunkt war gestern abend. Ich sagte zu Bessie …«
Das Licht nahm zu. Der Tag kam und brachte Hoffnung. Sie saßen und frühstückten in der Küche. An jedem bißchen Mut, das ihnen Arzt und Krankenpflegerin machten, bauten sie sich auf. Coker ging weg, seine Unmitteilsamkeit ließ ihnen Hoffnung. Bessie Gant kam zum Frühstück und war berufsmäßig optimistisch.
»Solang ich die verdammte Familie aus dem Zimmer rausschmeißen kann, besteht Aussicht, daß er durchkommt.«
Sie lachten hysterisch und dankbar über die grobe Person.
»Wie steht's denn heut morgen?« fragte Eliza.
»Temperatur? Nun, das Fieber ist ein bißchen gefallen.«
Sie alle wußten, daß niedrigere Temperatur am Morgen ziemlich bedeutungslos ist, aber sie nährten sich von diesem Brosamen; ihre krankhaft erregten Gemüter verschlangen ihn. Im Nu hatten sie sich auf den Hoffnungsgipfel geschwungen.
»Und sein Herz ist gut«, sagte Bessie Gant. »Wenn das Herz durchhält und er weiter kämpft, wird er es schaffen.«
»Kämpfen!« sagte Lukas lobrednerisch. »Der Ben wird kämpfen, solang noch ein A-a-a-a-a-atemzug in ihm ist.«
»Aber gewiß!« fing Eliza an, »ich entsinne mich ganz genau, als, er noch klein war,.. er war damals sieben Jahre, ja … da stand ich eines Tags auf der Terrasse … ja … ich erinnere mich deswegen, weil gerade Mister Buckner mit Butter und Eiern kam … und Euer Vater hatte gerade …«
»Ach Du mein Gott!« stöhnte Helene mit einem gelösten Lächeln. »Nun kriegen wir's zu hören!«
»Wha! Wha!« lachte Lukas, fauchend wie ein Verrückter, und gickste Eliza in die Rippen.
»Ich schwöre es, Junge, Du benimmst Dich wirklich wie ein Idiot«, sagte Eliza ärgerlich. »Ich würde mich schämen!«
»Wha! Wha! Wha!«
Helene kicherte; sie stieß Eugen mit dem Ellenbogen an.
»Ist er nicht verrückt? Wahrhaftig! T-t-t-t-t!« Dann, mit Tränen in den Augen, zog sie Eugen rauh in ihre große, knochige Umarmung.
»Armer, alter Eugen! Ihr zwei habt Euch immer so gut verstanden. Dich trifft es schwerer als uns.«
»Er ist ja noch nicht begraben!« schrie Lukas herzhaft. »Es kann sein, daß er noch lange hier herumläuft, wenn wir andern längst den Gänseblümchen zum Gedeihen verhelfen.«
»Wo ist Mistress Pert?« fragte Eugen. »Im Haus?«
Eine erbittert gespannte Stille trat ein.
»Ich hab sie rausgeschmissen«, sprach Eliza grimmig nach einer Weile. »Und ich hab ihr ganz genau gesagt, was sie ist: – eine Hure!« Sie sagte das mit der alten Strenge, aber einen Augenblick später verzog sie das. Gesicht und brach in Tränen aus. »Diese Person hat ihn auf dem Gewissen, das schwör ich. Wenn sie nicht gewesen wäre, dann säße er heut stark und gesund hier unter uns!«
»Mama, um Himmels willen, wie wagst Du es nur, so was zu behaupten?« fuhr Helene wutschnaubend hoch. »Sie war die einzige freundliche Menschenseele, die er auf der Welt hatte, die sich wirklich um ihn bekümmert hat. Als er krank wurde, hat sie ihn gepflegt. Nein! So eine Vorstellung! So eine Vorstellung!!« Sie seufzte vor aufrichtiger Entrüstung. »Wenn Mistress Pert nicht gewesen wäre, dann wäre er jetzt tot. Niemand sonst hat das mindeste für ihn getan. Du warst sehr gern bereit, sie hier im Haus zu haben und ihr Geld einzustecken, bis er krank wurde. Nein! Nein!!« erklärte sie mit allem Nachdruck. »Ich persönlich mag die Fatty sehr. Ich werde sie nicht schneiden.«
»'ne verda-da-dammte Schande so was!« sagte Lukas, der fest und treu zu seiner vergötterten Helene hielt. »Wenn Mistress Pert nicht gewesen war, dann war der Ben hinüber. Niemand sonst hat irgendwas für ihn getan. Niemand sonst hat sich im geringsten um ihn geschert. Und wenn er stirbt, dann ist's, weil er nicht die rechte Aufwartung bekam, als es was geholfen hätte. Da wird sich so