Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Wolfe
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075830562
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Gespenst, kehre zurück, so wie ich Dich einst kannte im zeitlosen Tal, daß wir einander wieder spüren, im Zauber des Juni gebettet. Da war ein Platz, wo alle Sonne in Deinem Haar glänzte, und oben auf den Bergen hätten wir einen Stern mit dem Finger greifen können. Wo ist jener Tag, der in einen einzigen vollen Laut zusammenschmolz? Wo ist die Musik Deines Fleisches, der Reim der Zahnreihen, die klare Sehnsucht Deiner Beine, wo sind die jungen, kleinen, festen Arme mit den schlanken Fingern, Fleisch, in das man beißen konnte wie in einen Apfel? Wo die beiden Kirschen Deiner weißen Brust? Wo all die langen Strähnen Deines feingesponnenen Mädchenhaars? Schnell taut sich der Rachen der Erde auf, schnell malmen die Zähne, die am Lieblichen zehren. Die Du für Musik gemacht warst, Du wirst keine Musik mehr hören; um Dein dunkles Haus schweigen die Winde. Gespenst, Gespenst, kehre zurück aus dieser Heirat, nicht ins Leben, sondern in den Zauber, in dem wir nie gestorben sind, in den verwunschenen Wald, in dem wir noch immer liegen im hohen Gras! Komm in die Berge, o meine junge Liebe! Kehre zurück! O Du verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!

      XXXI

      Eines Tages gegen Ende Juni sprach Laura James:

      »Nächste Woche muß ich heimfahren.«

      Dann, als sie seine gequälte Miene sah, fügte sie hinzu:

      »Aber es ist nur auf ein paar Tage. Nicht länger als 'ne Woche.«

      »Aber warum? Der Sommer fängt doch erst an. Da unten wirst Du vor Hitze umkommen.«

      »Ja, ich weiß, es ist albern. Aber meine Leute erwarten mich zum Nationalfeiertag. Ich hab Dir ja gesagt, wir sind eine Riesenfamilie, Hunderte von Onkeln und Vettern und Schwägerinnen und Basen. Und jedes Jahr am vierten Juli ist Familientag, mit Ausflug, Picknick und Freudenfeuer im Freien. Ich hasse den Betrieb. Aber sie würden mir nie verzeihen, wenn ich nicht käme.«

      Er sah sie einen Augenblick an, furchtsam.

      »Du kommst sicher zurück, Laura, gelt?« fragte er ruhig.

      »Aber gewiß«, sagte sie. »Reg Dich nicht auf.«

      Er zitterte heftig. Er hatte Angst, sie weiter auszufragen.

      »Sei doch ruhig! Reg Dich nicht auf, Liebster!« flüsterte sie und legte ihre Arme um seinen Hals.

      Er fuhr mit ihr zum Bahnhof in der Knallhitze des Nachmittags. Die Straßen rochen teerig vom aufgeweichten Asphalt. Sie hielt seine Hand in der ratternden Trambahn, preßte sie von Zeit zu Zeit, um ihn zu trösten, und flüsterte:

      »In einer Woche, Liebster. Nur eine Woche!«

      »Ich seh nicht ein warum«, murmelte er. »Eine Reise von sechshundert Kilometern bloß auf ein paar Tage!«

      Da er ihr Gepäck trug, passierte er den einbeinigen Mann an der Sperre des Bahnsteigs ohne Beanstandung. Dann setzte er sich bis zur Abfahrt des Zugs neben sie in die beengende Hitze des grünen Pullmanwagens. Ein kleiner elektrischer Fächer surrte nutzloserweise im Gang. Eine schicke, junge Dame, die er kannte, kam ins Abteil, richtete sich unter dem neuen gelben Leder ihres Handgepäcks ein. Elegant, ein wenig hochmütig erwiderte sie seinen Gruß und wandte sich zum Fenster, um sich beredt grimassierend mit ihren Eltern zu unterhalten, die bewundernd vom Bahnsteig zu ihr aufstarrten. Ein paar wohlhabende Kaufleute kamen den Gang entlang; das Knarren ihrer teuren gelben Schuhe überknirschte das Gesurr des Fächers.

      »Sie gehn nicht von hier weg, Mister Morris, wie?«

      »Hallo, Jim. Nein, ich reise nur auf 'n paar Tage nach Richmond.«

      Aber selbst das graue Wetter ihres Lebens vermochte es nicht, die Erregung in diesem heißen Wagen, der nach Osten fahren sollte, zu dämpfen.

      »Einsteigen!«

      Zitternd stand er auf.

      »In ein paar Tagen, Lieber!« Sie sah auf, nahm seine Finger in ihre schmale, behandschuhte Hand.

      »Du wirst mir schreiben, sobald Du dort bist, ja? Bitte!«

      »Ja! Morgen sofort.«

      Er neigte sich plötzlich zu ihr herab und flüsterte: »Laura! Du wirst zurückkommen?! Du wirst ganz bestimmt zurückkommen?!«

      Sie wandte ihr Gesicht ab, weinte bittre Tränen. Er setzte sich wieder neben sie. Sie umarmte ihn, preßte ihn an sich, als wäre er ein Kind.

      »Mein Lieber! Mein Lieber! Vergiß mich nie!«

      »Nie! Komm wieder! Kehre zurück!«

      Die Salzspuren ihrer Küsse lagen auf seinen Lippen, seinem Gesicht, seinen Augen. Er wußte, was das war. Die blakenden Kerzenstummel der Zeit. Der Zug zockelte ab. Blindlings sprang er den Gang hinauf, einen Schrei in der Kehle.

      »Komm wieder zurück!«

      Aber er wußte. Ihr Schrei folgte ihm. Ein Schrei, als ob er ihr etwas entrissen hätte.

      Drei Tage später hatte er seinen Brief. Kriegsbriefpapier, vier Bogen, von kleinen, siegreichen amerikanischen Bannern umrahmt. So:

      Mein Lieber! Ich kam um halb 2 heim. Einfach zu müd, um 'nen Finger zu rühren. Ich konnte die ganze Nacht im Zug nicht schlafen: Mir scheint, es wurde immer heißer unterwegs. Ich war so kaputt, als ich hier ankam, daß ich fast weinte. Little Richmond ist einfach fürchterlich, alles versengt und ausgedörrt. Und alle Leute ins Gebirg oder an die See verreist. Wie werde ich das nur eine Woche aushalten können! (Gut, dachte er, wenn das Wetter so bleibt, wird sie umso früher heimkommen.) Nun wäre es Himmel für mich, einen Atemzug frischer Bergluft zu schöpfen. Könntest Du den Weg zu unserm Platz im Bergtälchen wiederfinden? (Ja! und wenn ich blind war! dachte er.) Du mußt mir versprechen, Lieber, daß Du Dich um Deine Hand bekümmerst. Ich machte mir so Sorge im Zug, weil ich gestern vergaß. Dir den Verband zu wechseln. Mein Papa hat sich sehr gefreut, mich, wiederzusehen. Er will mich nicht wieder weglassen. Aber mach Dir keine Gedanken, er gibt immer nach und läßt mich schließlich doch tun, was ich will. Hier kenn ich keinen Menschen mehr. Die jungen Männer sind alle eingezogen oder arbeiten auf den Werften in Norfolk. Die meisten Mädchen, die ich kenne, wollen heiraten oder sind schon verheiratet. So bleiben nur die ganz jungen. (Er zuckte zusammen. Die so alt sind wie1 ich, vielleicht älter, dachte er.) Bitte grüße Mistress Barton und richte Deiner Mutter von mir aus, daß sie nicht den ganzen Tag in der heißen Küche arbeiten soll. Und all die kleinen Kreuzchen da unten sind für dich. Rate was sie bedeuten sollen.

      Laura.

      Er las diesen prosaischen Brief mit unbeweglicher Miene, er verschlang die Worte, als läse er ein lyrisches Gedicht. Sie würde bald wiederkommen. Zurückkommen. Bald. Bald.

      Die Aufregung war von ihm gewichen. Er lehnte sich matt zurück. Aber den vierten Briefbogen hatte er noch nicht gelesen. Nun sah er ihn an. Dort fand er, fast unleserlich geschrieben, endlich in der ihr eignen Redeweise abgefaßt, so als überspränge ihr Ton die absichtliche Ziellosigkeit des Briefs, diese Nachschrift:

      4. Juli. Richard kam gestern. Er ist 25, arbeitet in Norfolk. Wir sind fast ein Jahr verlobt. Morgen fahren wir nach Norfolk, um in aller Stille zu heiraten. Mein Lieber! Mein Lieber! Ich konnte es Dir nicht sagen. Ich gab mir alle Müh, aber ich brachte es nicht fertig. Ich wollte Dich nicht belügen, wirklich nicht. Und alles andere war wahr, Wort für Wort wahr, ganz so wie ich es sagte. Wenn Du nur nicht so jung gewesen wärst. Aber was hilft das jetzt? Versuch es, mir zu vergeben. Aber vergiß mich nicht, bitte. Lebwohl und Gott schütze Dich. Ach mein Liebster, es war Himmel! Ich werde Dich nie vergessen.

      Als er diese Nachschrift gelesen hatte, las er sie langsam und bedächtig noch einmal. Dann faltete er den Brief zusammen, steckte ihn in die innere Brusttasche und verließ Dixieland. Er ging dreiviertel Stunden, bis er an den Bergsattel über der Stadt kam. Die Sonne ging hinter den Bergen im Westen unter, glutrandig, blutrot; weithin leuchtete ihr Scheideglanz über das braune, dunstige Land. Die reingewaschne, süße Luft schimmerte und leuchtete von Perlen und Gold. Die Berge schmolzen in ein tiefes Rotviolett; einsam lagen sie da; es war wie Kanaan und reife Trauben. Ein paar Autos klommen die Hufeisenkurve der Landstraße herauf. Die Dämmerung kam. Die kleinen, blinzelnden Lichter der Stadt zuckten auf. Die Dunkelheit fiel wie Tau über die Erde.