Eugen und Laura saßen Hand in Hand auf der leise knirschenden Schaukel. Er legte seinen Arm um ihre Schultern. Als er sie zu sich zog, berührten seine Finger ihre Brüste. Erschreckt zog er die Hand zurück und murmelte eine Entschuldigung. Sein Fleisch war schwach, und sie war Jungfrau: er hatte Angst, sie zu entweihen. Ihm schien, als sei er bei weitem der Ältere, obschon er sechzehn und sie einundzwanzig war. Seine dunklen Wahrnehmungskräfte und die Einsamkeit – spürte er – machten ihn älter. Er hatte das graue Wissen um die Sünde, eine Wüste, die er kannte. Wenn er bloß ihre Hand in der seinen hielt, war ihm schon, als hätte er sie verführt. Sie hob ihm ihr liebliches Antlitz entgegen, dieses Antlitz, das keck und häßlich und wie ein Knabengesicht war. Er erkannte darin die wahrhafte und stete Anständigkeit ihres Wesens, und seine Augen wurden feucht. Die ganze jugendliche Schönheit der Welt wohnte für ihn in diesem Antlitz, diesem Antlitz, das das Wunder und die Unschuld bewahrt hatte, das in unsterblicher Blindheit vor dem Entsetzlichen und der Gemeinheit der Welt gelebt hatte. Er war vor ihr wie ein Wesen, das nach lebenslänglicher Wanderung durch den dunklen Weltraum für einen Augenblick des Friedens und der Gewißheit auf dem einsamen Planeten angekommen war, auf der weiten, verzauberten Ebne aus Mondlicht, vor der Mondlichtblüte ihres Gesichts. Denn, wenn ein Mensch vom Himmel träumte, und er fände beim Erwachen eine Blume in seiner Hand zum Zeichen, daß er dortgewesen … was wäre dann? Was wäre dann?
»Eugen«, sagte Laura nach einer Weile, »wie alt bist Du, Eugen?«
Seine Pulse gingen schnell, das Blut schoß ihm in die Augen. Die Antwort fiel ihm schwer.
»Gerade sechzehn«, sagte er einen Augenblick später.
»O Du Kind!« rief sie aus. »Ich dachte, Du wärst älter.«
»Ich bin alt für mein Alter«, murmelte er. »Wie alt bist Du denn?«
»Einundzwanzig«, sagte sie. »Schade, nicht?«
»Das ist kaum ein Unterschied«, sagte er. »Ich kann nicht einsehn, daß es was ausmacht.«
»Ach, Du Lieber!« sagte sie. »Es ist ein Unterschied. Es macht sehr viel aus.«
Er wußte, daß sie recht hatte. »Wie sehr recht sie hatte, wußte er nicht. Aber er stand über dem Augenblick. Er hatte keine Angst vor Schmerzen, bangte nicht vor Verlust. Die praktischen Dinge des Lebens gingen ihn nichts an. Er wagte es, das Seltsame und Wunderbare zu sagen, das im Dunkel in ihm aufblühte.
»Laura«, sagte er. Und er hörte seine leise Stimme über der Ebne aus Mondlicht. »Laura, laß uns immer einander lieben und ganz so wie jetzt. Laß uns nie heiraten. Ich will, daß Du mich immer lieben, immer auf mich warten sollst. Ich werde über die ganze Erde wandern. Ich werde oft jahrelang wegbleiben. Ich werde berühmt werden. Aber ich werde immer zu Dir zurückkehren. Du wirst ein Haus haben, weit weg, in den Bergen. Da sollst Du wohnen und auf mich warten und Dich immer für mich bewahren. Willst Du das?«
Er hatte sie um ihr ganzes Leben gebeten, so gelassen, als hätte er um eine Stunde ihrer Freizeit gefragt.
»Ja«, sagte Laura im Mondlicht. »Ich werde immer auf Dich warten.«
Sie war ihm ins Fleisch gewachsen. Sie kreiste in seinen Adern. Sie war Wein in seinem Blut, Musik seines Herzens.
»Er nimmt überhaupt keine Rücksicht, weder auf Dich noch auf andre Menschen«, grollte Hugo Barton. Er hatte so spät noch im Büro gearbeitet und war vorbeigekommen, um Helene abzuholen. »Wenn das nicht anders wird, werde ich ein Haus für uns mieten. Es fällt mir nicht ein, einfach zuzusehn, wie Du Dich für ihn krank rackerst.«
»Vergiß drauf!« sagte Helene. »Er ist ein alter Mann.«
Sie kamen auf die Terrasse heraus.
»Komm morgen rüber, Lieberchen«, sagte Helene zu Eugen. »Und Sie, Laura, bitte, kommen Sie auch. Ich lade zu einem richtigen Schmaus ein. Es geht ja nicht immer so bei uns zu wie heute«, sagte sie lachend und tätschelte Laura mit ihrer großen Hand.
Hugo Barton ließ das Auto lautlos, ohne die Maschine anzulassen, den Hügel hinuntergleiten.
»Was für eine liebe Person Deine Schwester ist!« sagte Laura James. »Bist Du nicht einfach toll begeistert von ihr?«
Eugen antwortete nicht gleich.
»Ja«, sagte er dann.
»Sie ist restlos begeistert von Dir, das merkt jeder«, sagte Laura.
Er griff sich im Dunkeln an die Gurgel.
»Ja«, sagte er.
Der Mond zog leise seine Bahn über den Himmel. Eliza, scheu und zögernd, erschien wieder auf der Terrasse.
»Wer ist da? Wer denn?« fragte sie aus dem Dunkel. »Ist es Eugen? Ach so, ich wußte es nicht. Gelt, Du bist es, Sohn?« Sie wußte es sehr wohl.
»Ja«, sagte er
»Warum setzen Sie sich nicht ein bißchen zu uns. Mistress Gant?« fragte Laura. »Wie Sie es nur den ganzen Tag in der heißen Küche aushalten können?! Sie müssen todmüde sein.«
»Ich will Ihnen was sagen«, sagte Eliza und sah den Himmel an. »Das ist eine herrliche Nacht. Eine Nacht für Verliebte, wie man so sagt.« Sie lachte unsicher. Dann blieb sie einen Augenblick in Ge»danken versunken stehn. »Sohn!« begann sie wieder, und ihre Stimme klang besorgt, »warum gehst Du nicht ins Bett und schläfst? Es schadet Deiner Gesundheit, wenn Du so spät aufbleibst.«
»Ich sollte auch längst zu Bett liegen«, sagte Laura James und stand auf.
»Ja, Kind«, sagte Eliza. »Gehn Sie und schlafen Sie Ihren Schönheitsschlaf. Wie das Sprichwort sagt: ›Früh zu Bett, früh aufgestanden …‹«
»Gehn wir alle schlafen!« sagte Eugen ungeduldig. Er war verärgert. Muß sie denn immer die letzte sein, die im Haus auf ist? fragte er sich.
»Wieso denn, Junge? Ich nicht. Ich kann nicht. Ei, ich hab ja noch zu bügeln.«
Laura preßte heimlich seine Hand.
»Gute Nacht«, sagte sie. »Gute Nacht, Mistress Gant.«
»Gute Nacht, Kind«, sagte Eliza.
Als sie gegangen war, setzte sich Eliza, besorgt aufseufzend, zu ihm.
»Ich will Dir was sagen«, sagte sie, »das tut gut. Ich wünscht nur, ich hätte soviel Zeit wie andre Leute, und könnte mich hier draußen hinsetzen und die Luft genießen.« Er konnte es nicht sehen im Dunkeln, aber er wußte, daß sie mit verzognem Mund zu lächeln versuchte. »Hm!« sagte sie und nahm seine Hand in ihre rauhen, abgearbeiteten Hände. »Hat sich mein Kleiner ein Mädchen zugelegt, was?«
»Nun, und wenn dem so wäre, was dann?« sagte er. »Ich hab doch wohl das Recht dazu, so gut wie jeder andre.«
»I wo«, sagte Eliza, »Du bist noch viel zu jung, um an Mädchen zu denken … Ich würde mich an Deiner Stelle überhaupt nicht um sie kümmern. Die meisten denken ohnehin nur an Tanzpartien und wollen die ganze Zeit nichts wie amüsiert sein. Ich möchte nicht, daß Du Deine Zeit mit ihnen verplemperst.«
Er spürte ihren Ernst hinter dem unbeholfnen Gerede. Er war verwirrt und wütend; er versuchte sich zu beherrschen, zu schweigen. Schließlich sagte er leise und leidenschaftlich:
»Wir müssen etwas haben im Leben, Mama, wir müssen etwas haben. Wir können nicht immer allein gehn. Allein.«
Es war dunkel; niemand konnte ihn sehn. Ein Tor tat sich auf, und er ließ es geschehn. Er weinte.
»Ich weiß«, pflichtete Eliza hastig bei. »Ich sage ja auch nicht …«
»Mein Gott! Mein Gott! Wohin soll es denn kommen mit uns? Worum dreht sich denn unser Leben? Papa ist am Sterben. Weißt Du's denn nicht? Merkst Du's denn nicht? Sieh Dir sein Leben an. Sieh Deines an. Kein Licht, keine Liebe, kein Trost, nichts!« Er tobte. Er schlug sich mit den Fäusten auf die Brust. »Mama, Mama, in Gottes Namen, was ist denn? Was willst Du denn? Willst Du uns alle erwürgen und ersäufen? Besitzt Du denn nicht genug? Willst Du noch mehr Bindfaden und alte Flaschen?