Franz Kammermaier kramte in seinen Taschen. Verschiedene Glasröhrchen und Schächtelchen brachte er hervor. Weil er ein wenig weitsichtig war, hielt er sie von sich ab, um die Aufschrift lesen zu können.
»Hier, das ist es. Eine Pille genügt vollkommen. Am besten legst du dich dann ein halbes Stündchen hin.«
Inge fand es rührend, daß der Onkel sich so sehr um sie kümmerte. Früher hätte sie vielleicht über sein komisches Gebaren gelächelt, heute tat sie das längst nicht mehr. Dankbar nahm sie die kleine weiße Tablette entgegen und versprach, ganz nach seiner Anweisung zu verfahren.
*
Inge verspürte wirklich einen heftigen Druck im Kopf. Sie hatte nicht einmal die Unwahrheit gesagt.
Ich darf mich nicht so gehenlassen, nahm sie sich vor, die Mutter hat mich schon prüfend angesehen. Vielleicht ist es wirklich gut, wenn ich diese kleine Tablette nehme und mich erst einmal einen Augenblick auf mein Bett lege.
Als sie dann auf den weichen Daunen lag, fühlte sie, wie sie nach und nach ruhiger wurde. Irgendwie muß ich es nachher einrichten, daß ich zwischendurch zur Post gehen kann. Gestern war von Eberhard kein Brief gekommen. Heute war bestimmt eine postlagernde Sendung für sie da. Am besten wird es sein, wenn ich all das, was mir der Onkel erzählt hat, vergesse.
So sehr sie sich jedoch bemühte, ihrer Gedanken Herr zu werden, es gelang ihr nicht. Als sie dann schließlich aufstand und in den Keller hinunterging, geschah es eigentlich nur, um sich selbst zu beweisen, wie grundlos ihre Unruhe war.
Suchend blickte sie sich in dem dunklen Gewölbe um. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals hier unten gewesen zu sein. Höchstens als Kind, da war sie neugierig überall herumgekrochen, um dann von der Mutter zu hören, daß sie ein halber Junge wäre und man ihr am besten Lederhosen anzöge.
Endlich hatte sie den Lichtschalter gefunden. Sie knipste an, und nun sah sie, daß der größte Teil des Kellergewölbes eigentlich nichts weiter als eine riesige Rumpelkammer war.
Altes Mobiliar stand herum, riesige Regale und Kisten versperrten den Weg. Hier lagen bestimmt keine Stöße alter Zeitungen.
Sie werden im Heizungskeller sein, überlegte Inge, zum Feueranmachen.
Also knipste sie das Licht wieder aus, stieg ein paar Stufen hinauf und auf der anderen Seite wieder herab. Hier hielt der Hausdiener Fritz bessere Ordnung. Der Heizungskeller war sein Reich.
Mit großer Anstrengung drückte Inge die schwere Eisentür auf. Ja, hier lag ein großer Stoß Zeitungen, das sah sie sofort. Durch die Kellerluken fiel Licht in den Raum. Als sie die Tür wieder hinter sich zugezogen hatte, schaltete sie außerdem noch die Glühlampen ein.
Wo sollte sie nun beginnen? Es war wohl gleich, bei welchem Stapel sie anfing. Womöglich dauerte es stundenlang, weil sie jede Zeitung auseinanderfalten und eingehend durchsehen mußte. Aber nun war sie einmal hier, und sie würde ja auch keine Ruhe finden, bis sie das Bild dieses Dr. Sörensen vor sich hatte.
Wieder war diese schreckliche Unruhe in ihr. Nervös griffen ihre Hände nach den einzelnen Zeitungen. Blatt um Blatt faltete sie auseinander. Allmählich begriff sie, daß sie nur in dem Wirtschaftsteil zu suchen brauchte. Einmal stand auch etwas von einer Dividendenausschüttung der Sörensen Werke.
Sie suchte emsig weiter.
Es mochte schon eine Stunde vergangen sein, sie wollte ihre Tätigkeit schon ärgerlich einstellen, da sah sie eine über mehrere Spalten gehende Überschrift: »Jubiläum der Sörensen-Werke.«
Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, sie wagte kaum auf das Bild zu schauen, das die ihr so vertrauten Gesichtszüge wiedergab. Ja, es war Eberhard, der hier abgebildet worden war, als Leiter und Inhaber der Sörensen-Werke. Ganz groß stand es darunter, auch sein Name: Dr. Eberhard Sörensen.
Inge mußte sich setzen. Das konnte doch nicht, nein, das durfte nicht wahr sein!
Und doch, es gab keinen Zweifel. Als ihre Augen jetzt mechanisch über die Zeilen wanderten, erhielt sie letzte Gewißheit, das Alter stimmte, sechsunddreißig Jahre war Eberhard und unverheiratet. Von irgendwelchen Brüdern oder sonstigen Geschwistern war nicht die Rede.
Es gab nur einen einzigen Eberhard Sörensen. Und das hier abgedruckte Bild ließ ja auch keinerlei Zweifel mehr zu.
Dr. Eberhard Sörensen war der Mann, den ihre Mutter heiraten wollte.
Inges Hände bebten, als sie die Zeitung zusammenfaltete und an sich nahm.
Noch wollte ihr das Fürchterliche gar nicht in den Kopf. Dann jedoch zitterte sie vor Empörung und Erregung.
Er hatte sie belogen, hatte sein Spiel mit ihr getrieben und war doch so lieb zu ihr gewesen. Konnte ein Mensch sich denn derart verstellen?
Inge glaubte ersticken zu müssen. Das graue, schmutzige Kellergewölbe erschien ihr plötzlich wie ein Käfig, wie ein trostloses Gefängnis.
Kopflos lief sie hinaus, hastete die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf.
Dort schloß sie sich ein und warf sich schluchzend auf ihr Bett. Ihre Hand hielt noch immer die Zeitung, fest krallten die Finger sich darin ein.
Lange lag sie so. Als sie sich dann wieder aufrichtete, war ihr Gesicht blaß und kaum wiederzuerkennen. Große fiebrige Augen gingen in die Weite, als suchten sie irgendwo in der Ferne jenen Mann, der ihr bis zu dieser Stunde eine Welt bedeutet hatte. Mußte von ihm nicht Aufklärung erfolgen? Es konnte doch nicht alles Lüge gewesen sein, was er ihr gesagt hatte!
Aber gab es noch einen Zweifel? Er hatte ihr verschwiegen, wer er wirklich war, er hatte ihr nicht gesagt, daß er die Mutter kannte, darin hatte er sie ganz bestimmt belogen.
Und das allein war schon fürchterlich genug.
Wie sollte sie jemals zu einem Mann Vertrauen haben können, der sie derart hinterging? Hatte sie ihm nicht bedingungslos ihre ganze große Liebe geschenkt?
Er war diese Liebe nicht wert gewesen!
Wie fürchterlich war das! Nun würde sie allein sein, für immer allein. Niemals mehr konnte sie einem Mann vertrauen.
Inge zermarterte sich den Kopf. Warum nur hatte er das alles getan? Warum nur?!
Wenn er die Mutter heiraten wollte, wie hatte er sich dann jemals der Tochter nähern dürfen? Er mußte doch wissen, daß es dann für die Tochter niemals mehr möglich war, im gleichen Haus zu bleiben. Hatte er das gewollt? Oder war er überhaupt nur einem Vergnügen nachgegangen? Hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, weil es ihm gefiel, daß er so angeschwärmt wurde?
Inge schämte sich plötzlich, daß sie ihm gegenüber so offen ihre Zuneigung gezeigt hatte. Neue Zweifel in seine Redlichkeit kamen ihr.
Sie hatte ihm jeden Tag einen seitenlangen Brief geschrieben, nur kurz waren seine Antworten gewesen.
Seit zwei Tagen hatte sie überhaupt keine Nachricht mehr erhalten.
Natürlich, er wünschte, daß ihr enges Verhältnis zueinander aufhörte. Eine Episode war es für den Herrn Doktor gewesen, nur eine Episode.
Dafür hatte sie sich hergeben müssen, nur dafür!
Es war nicht auszudenken.
Inge preßte die Hände gegen den Kopf. Was sollte nun geschehen?
Sie mußte fort, keine Stunde länger durfte sie hier im Haus bleiben. Man würde über sie lachen, bestenfalls würde man sie mitleidig betrachten, weil sie sich angemaßt hatte, einem so großartigen und bekannten Mann wie Dr. Sörensen genügen zu wollen.
Sie war bloßgestellt, und gerade das ertrug sie nicht, dazu war ihre Liebe zu ehrlich und zu tief gewesen.
Und sie wußte auch, daß sie diesen Mann niemals vergessen würde, niemals.
Trotz allem nicht!
Was sollte nun geschehen? Sie fragte es sich abermals.
Noch