Inge hatte die alte Dame in die Arme genommen und sie strahlend angesehen.
»Aber Tantchen, was denkst du von mir? Wir lieben uns, aber Eberhard ist ein so feinfühliger Mensch, niemals würde er deine Großzügigkeit ausnutzen. Er achtet dich so sehr, Tante, immer wieder spricht er von dir.«
Halb und halb war Dora Conradi beruhigt, letztlich mußte man eben dem Schicksal seinen Lauf lassen. Inge war ein erwachsener Mensch und mußte wissen, was sie tat.
Seit zwei Tagen war Inge nun allein. Eberhard Sörensen hatte abfahren müssen. Noch konnte sie es gar nicht begreifen, daß sie einander längere Zeit nicht sehen sollten. Sie verspürte auch plötzlich keine Lust mehr, an den Waldsee zu fahren und zu baden. Dort hätte die Sehnsucht nach Eberhard sie nur noch heftiger gepackt.
Jetzt erst empfand sie, wie einsam es hier draußen bei der Tante war. Früher war ihr das gar nicht so aufgefallen. Aber es war wirklich so, man war den ganzen Tag mit sich allein. Und gerade das ertrug sie so schwer.
Sie hatten miteinander verabredet, daß sie sich jeden Tag schreiben wollten. Nun saß Inge den größten Teil des Tages tief über das Briefpapier gebeugt und schrieb. Viele Seiten füllte sie jeden Tag. Sie fühlte sich Eberhard dann so nah, daß sie am liebsten den ganzen Tag über Zeile um Zeile aneinandergereiht hätte. Aber das ging natürlich nicht. Er würde gar nicht genügend Zeit finden, all die vielen Briefe zu lesen. Er mußte doch arbeiten, hatte viel zu tun.
Sie wußte nicht viel über seine Tätigkeit, nur eben, daß er sehr beschäftigt war. Und sie merkte das ja auch an seinen eigenen Briefen, wenn auch aus jeder Zeile seine große Liebe zu ihr sprach, so waren seine Schreiben doch so kurz, viel zu kurz! Sie kannte jeden Brief auswendig. Abends, wenn sie schon lange im Bett lag, zog sie die Umschläge unter dem Kopfkissen hervor. Sie konnte sich an den großen kräftigen Schriftzügen nicht sattsehen. Vom ersten Augenblick an war ihr diese Schrift sympathisch gewesen.
Wie würde nun alles weitergehen?
Eberhard hatte ihr versprochen, zu ihrer Mutter zu fahren, sobald sie, Inge, wieder zu Hause war.
Wie lange sollte sie nun noch auf diese Rückkehr warten? Wollte die Mutter sie denn für immer hier bei der Tante lassen?
Seltsam! Vor einigen Tagen hatte sie noch gewünscht, daß es so sein möchte.
Dora Conradi bemerkte durchaus, was in ihrer Nichte vorging. Von sich aus wollte sie jedoch nicht an ihre Schwester Magdalene schreiben. Dann wäre es auch ihre Pflicht gewesen, von diesem Herrn Sörensen zu berichten. Es war wohl besser, wenn Inge selbst davon erzählte.
Endlich kam nach einigen Tagen einer der Briefe, die in kunstvoller Prägung das Monogramm M.G. trugen.
Magdalene Gräfenhan hatte geschrieben. Der Brief war diesmal direkt an Inge gerichtet.
»Dieses Mal mußt du ihn selbst aufmachen, Inge«, sagte die Tante. »Ich möchte beinahe meinen, daß darin deine Rückkehr angeordnet wird.«
»Meinst du wirklich, Tantchen?« fragte Inge froh, um dann jedoch gleich wieder ein trauriges Gesicht zu machen. »Kannst du nicht mitkommen, Tantchen? Unser Haus ist so groß, hier draußen ist es doch so schrecklich einsam für dich!«
»Das geht nicht«, wehrte die Tante energisch ab. »Wir beiden Schwestern haben uns immer am besten vertragen, wenn jede für sich blieb. Nein, nein, ich habe einen genauso starken Hang zur Selbständigkeit wie deine Mutter, Inge.«
»Dann besuche ich dich aber öfter einmal, das darf ich doch, nicht wahr?«
Gerührt blickte Dora Conradi auf ihre Nichte.
»Du würdest mir damit eine große Freude machen. Ich habe dich wirklich liebgewonnen, Inge, und es fällt mir sehr schwer, wieder ganz allein zu sein. Aber es war ja immer so in meinem Leben, man gewöhnt sich daran. Jetzt wollen wir erst einmal den Brief lesen, noch wissen wir ja gar nicht, ob du wirklich zurückkommen sollst.«
Hastig öffnete Inge den Brief und las ihn der Tante vor.
Die Mutter schrieb von dem verhinderten Diebstahl, erzählte genau, wie sich alles zugetragen hatte. Das ging über zwei Seiten. Erst ganz am Schluß des Briefes stand der kurze Satz: »Mitte der nächsten Woche erwarte ich Dich zurück, Tante Dora wird froh sein, wenn sie wieder etwas weniger Arbeit im Haushalt hat.«
»Habe ich dir wirklich soviel Arbeit gemacht, Tantchen?« fragte Inge.
»Aber Kind, du hast mir doch im Haus und Garten fleißig geholfen. Nun gib mir mal den Brief, für mich steht wohl gar nichts weiter drin, oder doch?«
Inge reichte ihr das Schreiben hinüber.
Sie schämte sich für ihre Mutter, die für ihre Schwester nur einen kurzen Gruß übrig hatte.
Dora Conradi sagte dazu nichts weiter, sie kannte ihre Schwester.
*
Am verabredeten Tag fuhr Inge nach Hause. Sie hatte der Mutter noch einmal geschrieben und die genaue Ankunftszeit mitgeteilt. Nun saß sie im Zug. Der Abschied von Tante Dora war ihr sehr schwergefallen. Auch die Tante hatte ihre Tränen nur mühsam zurückhalten können, als sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Inge nahm sich ganz fest vor, der Tante so oft wie irgend möglich zu schreiben und sie sehr bald wieder zu besuchen. Später, wenn sie mit Eberhard erst verheiratet war, mußte Tante Dora jedes halbe Jahr einmal für ein bis zwei Wochen zu ihr kommen.
Je mehr sich der Zug ihrer Heimatstadt näherte, desto größer wurde Inges Spannung. Wie würde sie es zu Hause antreffen? Ein wenig freute sie sich ja doch darauf, ihre Mutter wiederzusehen. Und dann gab es so viele schöne Erinnerungen an ihre früheste Jugend. Damals war der Vater noch bei ihnen gewesen, sie konnte sich noch gut daran erinnern. Er war immer so lieb zu ihr gewesen. Sie wollte sich diese Erinnerung nicht trüben lassen, mochte auch später vorgefallen sein, was da wollte. Damals war sie schon im Internat gewesen und hatte ihre eigenen kleinen Sorgen gehabt. Es war ihr gar nicht recht bewußt geworden, daß der Vater seine eigenen Wege ging. Sie hatte die Eltern sowieso nur selten gesehen in all diesen Jahren.
Oft hatte sie sich allerdings gefragt, warum sie überhaupt im Internat sein mußte. Niemals war ihr eine plausible Antwort eingefallen. Es war wohl so, daß die Mutter sich durch ein lautes Kind gestört gefühlt hatte.
Das alles aber war lange her. Wenn sie wenigstens wüßte, wie es ihrem Vater heute ging. Die Mutter sprach nicht davon, ob sie mit ihm überhaupt noch im Briefwechsel stand.
Inge stand am Coupéfenster, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Sie hatte die Scheibe heruntergedrückt, jetzt lehnte sie sich hinaus und blickte suchend über den Bahnsteig.
Sie konnte die Mutter nirgendwo entdecken. Da hörte sie eine Männerstimme ihren Namen rufen.
Fritz, der Hausdiener, war es. Ihn hatte die Mutter also geschickt!
Inge reichte Ihren schweren Koffer der Einfachheit halber gleich durch das Coupéfenster hinaus.
»Guten Tag, Fritz, wie geht es Ihnen?«
»Gehorsamsten Dank, gnädiges Fräulein, man wird halt älter.«
Inge nickte dem alten Mann freundlich zu, dann nahm sie ihren Mantel und verließ das Abteil.
»Sind Sie mit dem Wagen hier, Fritz?«
»Nein, gnädiges Fräulein, Ihre Frau Mutter läßt mich nicht mehr so gern ans Steuer, ich wäre schon zu alt, sagt die gnädige Frau immer. Wir sollen eine Taxe nehmen.«
Inge winkte also ein Taxi heran, als sie die Bahnhofshalle verlassen hatten. Irgendwie war sie enttäuscht. Gewiß, sie hatte nicht mit einem überschwenglichen Empfang gerechnet, und doch schmerzte es sie, daß die Mutter anscheinend keine Zeit gefunden hatte, sie abzuholen.
Still