Er hatte sich möglichst vorsichtig ausdrücken wollen und dazu seine ganze Konzentrationskraft benötigt. So war ihm nicht einmal aufgefallen, daß Inge bei der Nennung des Namens heftig zusammenzuckte und ihn dann mit halb geöffnetem Mund anstarrte.
»Es sind ja alles nur Vermutungen«, sprach der Onkel weiter, »jedenfalls ist deine Mutter mit Dr. Sörensen zusammen längere Zeit draußen im Park spazierengegangen. Das fiel nicht nur mir auf. Ich würde es deiner Mutter wirklich wünschen, wenn es zu dieser Verbindung käme.«
Inge rührte sich noch immer nicht. Welchen Namen hatte der Onkel genannt? Sörensen? Dr. Sörensen? Sie hatte sich nicht verhört. Warum war sie bei der Nennung dieses Namens nur so sehr erschrocken? Hatte sie wirklich einen Augenblick lang geglaubt, daß dieser Dr. Sörensen und ihr Eberhard ein und dieselbe Person wären?
Wie dumm von ihr! Eberhard war gar kein Doktor, er hätte es ihr sonst gesagt. Außerdem mußte dieser Dr. Sörensen, von dem hier die Rede war, viel älter als Eberhard sein, sonst wäre er doch für die Mutter niemals in Frage gekommen.
Erleichtert atmete sie auf. Wie schreckhaft sie doch war! Ein Glück nur, daß der Onkel hiervon nichts bemerkt hatte.
Sie setzte sich wieder dicht neben ihn.
»Ich kann Mama ja verstehen, Onkel«, sagte sie, »niemals würde ich sie fühlen lassen, daß ich Papa nicht vergessen kann.«
»Du bist ein vernünftiges Mädel, Inge, ich freue mich darüber.«
Inges Gedanken eilten weiter. Konnte dieser Dr. Sörensen nicht womöglich Eberhards Vater sein?
Ein bekannter Industrieller sollte es sein. Sie hatte noch nie etwas über ihn gehört. Vielleicht lag es daran, daß sie niemals Zeitungen las.
»Ist ein netter Kerl, dieser Dr. Sörensen«, schwärmte der Onkel. »Viel in der Welt herumgekommen. Ich habe mich jedenfalls sehr angeregt mit ihm unterhalten.«
»Wie sieht er denn aus?« wollte Inge wissen.
»Na, wie er eben aussieht. Hast du denn wirklich noch kein Bild von ihm in der Zeitung gesehen?«
»Nein!«
»Dann solltest du einmal in den Keller hinabsteigen und die alten Zeitungsstapel durchsehen. Hier wird doch alles gesammelt, so sparsam, wie deine Mutter ist.«
»Hat Dr. Sörensen einen Sohn?«
»Du bist gut«, lachte Franz Kammermaier, »die Liebe zu deinem Badefreund scheint nicht sehr tief zu sitzen. Keine Ahnung, ob er einen Sohn hat. Oder warte mal, da fällt mir ein, daß es von ihm heißt, er sei ein chronischer Junggeselle, keiner Frau wäre es bisher gelungen, ihn an sich zu fesseln.«
Warum mein Herz nur plötzlich so laut schlägt, dachte Inge. Dann ist Eberhard vielleicht ein Neffe oder sogar der Bruder.
Der Onkel stand auf, nicht ohne vorher noch einmal liebevoll über Inges blondes Haar gestrichen zu haben.
»Es ist höchste Zeit, daß wir uns unten um den Mittagstisch versammeln. Deine Mutter kann sehr ungehalten sein, wenn man unpünktlich ist.«
»Ich muß mich schnell noch umziehen, Onkel«, antwortete Inge, die gern noch allein sein wollte. Noch immer war diese unbegreifliche Unruhe in ihr, diese Namensgleichheit ging ihr nicht aus dem Kopf. Und war es nicht auch schon schlimm genug, daß die Mutter sich ebenfalls in einen Sörensen verliebt hatte? Nicht auszudenken, daß ihr Schwager womöglich gleichzeitig ihr neuer Vater werden sollte.
»Ich gehe also schon hinunter«, erklärte Kammermaier. »Laß uns nicht zu lange warten. Heute nachmittag wirst du uns hoffentlich ein bißchen spazierenfahren. Wenn ich dabei bin, gibt dir die Mutter sicher den Wagen. Vielleicht kommt sie sogar mit«, fügte er hinzu. Der Klang seiner Stimme war jedoch nicht sehr froh bei diesen Worten.
Als er gegangen war, stand Inge ebenfalls auf. Hastig lief sie in ihrem Zimmer hin und her. Wenn sie nur den Vornamen dieses Dr. Sörensen wüßte. Warum hatte sie den Onkel eigentlich nicht danach gefragt? Sie konnte sich darauf keine Antwort geben. Es war doch ganz unmöglich, daß das Schreckliche passieren konnte, Eberhard und dieser Dr. Sörensen… Nein, nein, niemals konnten sie ein und dieselbe Person sein, ganz ausgeschlossen war das.
Eberhard liebte sie, nur sie.
Niemals hätte er ihr verschwiegen, daß er mit ihrer Mutter schon bekannt geworden war.
Was machte sie sich nur für dumme Gedanken? Eins jedoch würde ihr nun besonders schwerfallen: zu ihrer Mutter von Eberhard Sörensen zu sprechen.
*
Es wurde ein schweigsames Mittagsmahl. Inge jedenfalls beteiligte sich nicht mit einem einzigen Wort an der schleppenden Unterhaltung. Mit wachen Augen blickte sie auf ihre Mutter.
Ja, sie war sehr schön, noch immer war die Mutter sehr schön.
Die anderen wußten ja nicht, daß die Mutter sich diese Schönheit mit tausend kosmetischen Hilfsmitteln erhielt. Aber sie, Inge, wußte es. Sie wußte auch, daß das Haar gefärbt war und daß die Mutter jeden Tag viele Stunden darauf verwandte, das geringste Anzeichen beginnenden Alterns zu beseitigen.
Inge war weit davon entfernt, das verächtlich zu finden. Sie hatte sich stets gefreut, daß ihre Mutter noch so jung aussah. Heute empfand sie das erstemal einen gewissen Widerwillen. Aber vielleicht lag es nur daran, daß Kinder es immer komisch finden, wenn ihre Mütter auch noch für sehr jung gehalten werden wollen.
Magdalene Gräfenhan erzählte gerade von dem Einbruch in ihren Tresor und wie man den Täter dabei erwischte. Damit schien das Eis gebrochen zu sein. Franz Kammermaier hörte mit großem Interesse zu. Das war etwas für ihn, er liebte solche aufregenden Geschichten und bedauerte nur, an diesem Tage nicht hier gewesen zu sein.
In Inges Kopf hämmerte es dagegen: Sörensen, Dr. Sörensen.
Sie wußte plötzlich, daß sie nicht eher Ruhe finden würde, bis sie den Rat des Onkels befolgt und unten im Keller die Stapel alter Zeitungen durchgesehen hatte.
Sie mußte wissen, wer dieser Dr. Sörensen war, den die Mutter an ihre Seite ziehen wollte.
»Wie ist es, Magda, fahren wir nachher ein Stündchen aus?« fragte der Onkel gerade.
»Ich habe es Inge gestern schon versprochen«, meinte die Mutter und blickte zu ihrer Tochter hinüber. Was hatte Inge nur? Irgend etwas hatte sie doch und es mußte etwas Bedeutungsvolles sein, denn sie konnte ihr nicht einmal in die Augen sehen.
Frau Gräfenhan blickte zu ihrem Vetter hinüber. Wußte der vielleicht, um was es sich handelte? Ihm gegenüber war Inge doch sehr offenherzig. Fast sah es so aus, als hätte ihre Tochter Liebeskummer. Womöglich hatte diese wirklich gehofft, ihre Badebekanntschaft erneuern zu können und sah sich nun darin bitter getäuscht. Dann wäre der Besuch bei Tante Dora also doch von Nutzen gewesen!
War es das? Sie wollte Franz danach fragen, sobald es sich einrichten ließ.
»Zunächst gönnen wir uns wohl ein halbes Stündchen Mittagsruhe«, meinte sie schließlich. »Das halte ich immer so, und ich ändere nicht gern mein Programm. Später werden wir dann eine kleine Spazierfahrt machen und anschließend bei Guttmann konditern.«
Der Onkel war einverstanden. »Gestattest du?« fragte er und knipste die Spitze seiner Zigarre ab.
»Bitte sehr, es wird ja bereits abgeräumt. Vielleicht gehen wir jedoch hinüber in die Bibliothek, nach Tisch rauche ich auch gern ein Zigarettchen.«
»Rauchst du auch schon, Inge?« fragte der Onkel.
»Nein«, antwortete sie.
»Aber Gesellschaft leistest du uns doch wenigstens?«
»Sei mir nicht böse, Onkel, aber ich würde gern in mein Zimmer gehen, ich habe etwas Kopfschmerzen.«
Der Onkel nickte, als hätte er sich so etwas schon gedacht.
»Warte