Franz Kammermaier machte eine abwehrende Handbewegung, aber Inge sah doch, daß er über ihre Äußerung sehr erfreut war. Sie schob ihren Arm unter den seinen.
»Setz dich doch, Onkel Franz. Ich bin wirklich sehr froh, daß du gekommen bist.«
»Wenigstens einer, der sich freut«, lachte Kammermaier. »Bei deiner Mutter habe ich immer das Gefühl, daß ich störe. Aber das macht mir nichts, ich bin dickfellig. Nun erzähle, wie war es denn bei Tante Dora? Hat man dich sehr scharf rangenommen?«
»Wie kommst du denn darauf, Onkel? Es war wunderschön dort.«
»So?« fragte er, und dachte daran, daß man Inge aus einem ganz bestimmten Grund in die ländliche Einsamkeit geschickt hatte.
»Oh, Onkel, es gibt soviel zu erzählen. Ich werde die letzten Wochen niemals vergessen. Es war die glücklichste Zeit meines Lebens. Nein, ich werde noch glücklicher sein, sehr bald schon.«
»Was ist denn los? Du bekommst ja ganz sehnsüchtige Augen, so kenne ich dich ja gar nicht.« Etwas wie Eifersucht regte sich in Franz Kammermaier. Es war also doch so, das Kind war verliebt oder besser gesagt, es war einem fremden Kerl auf den Leim gegangen. Magdalene hatte schon recht gehabt, nur schien es jetzt so, als hätte das alles nichts genützt. Offensichtlich war ihr der Bursche nachgereist.
Kammermaier richtete sich steil auf. Dem mußte er Einhalt gebieten! Nun rächte es sich eben doch, daß Inge ohne väterliche Erziehung geblieben war. Er würde Vaterstelle an ihr zu vertreten haben, das war er der Familie Gräfenhan schuldig.
»Du siehst plötzlich so böse aus, Onkel, und ich habe gehofft, daß wenigstens du mich verstehen kannst!«
Ganz traurig hatte es geklungen. Dem Onkel gab es einen Stich. Wenn Inge nur nicht zu weinen begann, das würde er nicht ertragen können.
Schnell gab er seine strenge Haltung wieder auf.
»Du kannst dich mir voll und ganz anvertrauen, Inge«, sagte er eindringlich. »Ich werde immer Verständnis für dich haben, das mußt du mir glauben. Ja, ich will ganz ehrlich sein, eigentlich komme ich nur so häufig hierher, um dich zu sehen. Ich weiß doch, daß deine Mutter eine harte, unnachgiebige Frau ist. Und du bist so ganz anders. Wie leicht können wertvollste Regungen verschüttet werden. Komm einmal her, Kind.« Er legte den Arm um ihre Schultern. »So, nun schütte dein Herz aus. Dein Onkel wird ein geduldiger Zuhörer sein.«
Inge mußte lächeln. Er behandelte sie wie ein Schulmädchen, und doch, irgendwie war es schön, daß er so war. Ja, sie wollte ihm alles erzählen.
»Eigentlich ist alles in einem einzigen Satz gesagt, Onkel! Ich habe einen Mann kennengelernt und sehr, sehr liebgewonnen, wir wollen heiraten.«
Der Onkel schnaufte hörbar. Da hatte man es also, das war ja eine schöne Geschichte.
Er durfte seine Erregung nicht zeigen, das machte Inge nur verstockt.
»Weiß die Mutter schon davon?«
»Ich habe sie bisher kaum gesprochen, Onkel, du weißt ja, sie ist immer beschäftigt und unterwegs.«
»Ja, ja«, seufzte Kammermaier. »Ist es vielleicht der Mann, den du hier beim Baden kennengelernt hast?«
»Ja, Onkel. Aber woher weißt du davon überhaupt?«
»Deswegen mußtest du doch zur Tante fahren«, umging er die Antwort. »Schade, ich habe es sehr bedauert, daß du bei meinem letzten Besuch nicht hier warst. Das war übrigens eine glänzende Gesellschaft, die deine Mutter an diesem Abend gab. Man konnte so seine Studien machen. Na, du kennst mich ja. Ich hocke dann meistens hinter meinem Glas und bin entgegen meiner sonstigen Gewohnheit recht schweigsam. Gab allerlei zu sehen, sage ich dir.« Kammermaier streifte Inge mit einem prüfenden Blick. Sollte er ihr erzählen, daß ihre Mutter an diesem Abend auf Eroberungen aus gewesen war? Vielleicht lenkte sie das von ihrem eigenen Kummer ein wenig ab und sie wurde Magdalene gegenüber freier und selbstsicherer. Jedenfalls war es sicherlich nicht geschickt, wenn er Inge jetzt weiter ausquetschte. Sie würde ihm sicher schon noch von dem Mann, dem sich ihr Herz so plötzlich erschlossen hatte, erzählen. Er blieb ja noch ein paar Tage hier. Da fand man schon genügend Zeit zu weiteren Gesprächen in dieser Hinsicht.
»Was gab es denn so Interessantes?« fragte Inge ahnungslos.
»Ja, weißt du, es ist eben doch nichts für eine Frau, immer und ewig allein zu bleiben. Beinahe bin ich der Überzeugung, daß deine Mutter sich nur darum so angelegentlich um geschäftliche Dinge kümmert, weil sie eine gewisse innere Leere spürt.«
Inge war stutzig geworden.
»Das klingt höchst geheimnisvoll, was willst du denn damit sagen, Onkel?«
»Schwierig, sehr schwierig, mein Kind, Duplizität der Ereignisse nennt man das. Du bist mit einer Liebe im Herzen davongefahren, und zur gleichen Zeit ging es deiner Mutter nicht anders.«
»Aber Onkel, meine Mutter war doch hier, sie ist doch nicht ebenfalls verreist.«
»Das kommt davon, wenn man um eine Sache herumredet«, meinte der Onkel und fühlte sich nicht gerade wohl in seiner Haut. »Ich meinte etwas anderes, wollte sagen, daß auch deine Mutter anscheinend entdeckt hat, daß sie noch so etwas wie ein Herz besitzt.«
Inge rückte ein Stück beiseite, um den Onkel besser ansehen zu können.
»Was ist denn geschehen, Onkel, glaubst du, daß Papa wiederkommt?«
»Papa? Nein, ganz im Gegenteil, das heißt…«
Inge nahm Kammermaiers Hände und drückte sie in der plötzlich aufkommenden Erregung so fest, daß der Onkel schmerzhaft das Gesicht verzog.
»Jetzt mußt du mir alles sagen, Onkel!« beschwor sie ihn, »das kann ich verlangen. Hat Mama mich vielleicht darum fortgeschickt, weil es ihr peinlich war, daß sie hier…? Oh, es ist nicht auszudenken!«
»Aber nein, so ist es nicht, Inge«, versuchte er sie zu beruhigen, »mit deiner Reise hat das gar nichts zu tun. Ach, ich bin ein schwatzhafter Kerl, hätte ich doch nur nicht davon zu erzählen begonnen!«
»Was ist also geschehen? Sage es mir bitte.«
In Inge waren widerstreitende Empfindungen wach geworden. In welchem Licht erschien ihr plötzlich die Mutter! Konnte es denn wirklich wahr sein, daß diese sich mit einem Mann verband, mit einem fremden Mann, der nicht ihr Vater war? Sie hatte doch stets verächtlich auf die Männer herabgeblickt.
Kammermaier hatte Inge seine Hände entzogen. Jetzt rieb er sie aneinander. Es fiel ihm offensichtlich schwer, eine Erklärung abzugeben.
»Sieh mal, Inge, deine Mutter ist doch eine noch verhältnismäßig junge und sehr passable Frau. Ich habe mich immer gewundert, daß sie so ganz allein blieb. Na, und nun muß sie das selbst nicht mehr ertragen können. Vielleicht kannst du mir entgegenhalten, daß sie sich dann mit deinem Vater wieder aussöhnen sollte. Alles schön und gut. Aber ich bin der Meinung, daß die beiden nicht zusammen passen. Sehr bald würde es ein neues Zerwürfnis zwischen ihnen geben, da ist es schon besser, wenn sie sich gar nicht erst wiedersehen.«
»Die Schuld liegt bestimmt nicht allein bei Papa«, wandte Inge impulsiv ein.
»Ganz gewiß nicht. Ich bin der letzte, der das behaupten will. Außerdem bist du bei der ganzen Sache die Hauptleidtragende. Es muß jedem Kind einen heftigen Schock versetzen, wenn es erkennt, daß seine Eltern eine schlechte Ehe führen, in diesem Fall muß man wohl sagen, geführt haben.«
»Mutter will sich scheiden lassen, gestern hat sie es mir gesagt.«
»Siehst du, ich habe mich nicht getäuscht. Es geht alles den erwarteten Gang. Aber ich kann sie ja verstehen, ich sagte es schon. Und Dr. Sörensen ist auch ein Mensch, der gut zu ihr paßt, jedenfalls habe ich den Eindruck. Er ist einer der tüchtigsten und erfolgreichsten Industriellen. In den letzten Jahren hat er viel von sich reden gemacht. Er hätte an deiner