Ein kurzer, aber erquickender Schlaf that ihr unendlich wohl, doch ließ sie sich am Mittagstisch entschuldigen und Frau Ruß bitten, ihren Platz an der Spitze desselben zu vertreten.
Erst gegen Abend ging sie wieder hinaus und stattete Engels einen Besuch ab, fand ihn aber nicht vor.
»Herr Engels ist mit den Herren Offizieren zum Pürschen gefahren,« hieß es.
Da ging Dolores durch den Park zurück, brach unterwegs ein paar Rosen und ging dann nach der Terrasse, auf der Ramo eben den Theetisch ordnete und Herr und Frau Ruß schon wie gewöhnlich saßen.
»Nun, geht es besser, liebe Dolores?« fragte Doktor Ruß, ihr entgegen kommend.
»Danke, ja,« erwiderte sie. »Ich freue mich jetzt auf eine Tasse Thee!«
Und damit übernahm sie die Bereitung des belebenden, durstlöschenden Trankes, während Doktor Ruß seine Bücher ins Haus zurücktrug und sich seine Cigarrentasche mitbrachte.
»Unsere Herren Husaren sind alle auf der Jagd,« berichtete er, Platz nehmend. »Es wurde heut' bei Tisch viel Jägerlatein gesprochen, und definitiv die Hoffnung aufgegeben, den Steinadler zu erlegen, trotzdem er noch im Falkenhofer Revier gesehen worden sein soll.«
»Wirklich? Wer weiß!« sagte Dolores, den Theeextrakt in die Tassen gießend und aus dem Samowar mit kochendem Wasser auffüllend. Und dabei hatte sie ein eigentümlich schwankendes Gefühl und den Gedanken: das hab' ich schon erlebt – hier den Theetisch, dort das Abendbrot und jetzt werden sie den Adler bringen – –
Man nennt es Hallucinationen, dieses Erinnern an eine Vergangenheit, welche uns unbekannt ist, weil sie vielleicht nur im Lande des Traumes liegt – oder diesen Blick in die Zukunft. Man hat noch nicht entdeckt, was die richtige Bezeichnung ist für diesen Zustand, in welchem man das Gefühl hat, als wäre man ganz anderswo, als berührten unsere Füße den Boden nicht. Und verwandt, eng verschwistert damit ist jenes seltsame Gefühl, das man manchmal beim Betreten fremder Häuser, beim Anblick uns bis dahin unbekannter Gegenden hat –: das kennst du schon, hier bist du schon einmal gewesen – –
Wann?
Vielleicht im Traum, wo die Seele unbeherrscht von der physischen Willenskraft umherschweift. Aber wer kann dieses Rätsel lösen, wer eindringen in diese Mysterien? Wir haben nur ein »Vielleicht« für dies alles, und dieses »Vielleicht« hat Freidenker zur Irrlehre der Seelenwanderung geführt, trotzdem wir aus dem Evangelium wissen, daß wir nach dem Tode zwar weiter leben, aber nicht im Fleische, sondern im Geiste, daß also diese Hallucinationen, wie die Wissenschaft dies Erinnern und Hellsehen bezeichnet, keine Erinnerungen sind aus einem früheren Leben in anderer Gestalt. So schnell wie diese seltsamen Blitze durch die Seele fliegen, so schnell verschwinden sie auch, aber dennoch überschauerte es Dolores ganz eigen, als eben, wie sie ihre Tasse an die Lippen setzte, Engels, gefolgt von zwei Forstgehilfen, die eine seltsame Last trugen, um die Turmecke rechts von der Terrasse bog. Schon von weitem zog er den Hut und schwenkte ihn hoch in der Luft.
»Seltene Beute,« rief er laut herüber, »wir haben ihn, den König der Lüfte!« –
Und in der That brachten sie den gewaltigen Vogel herauf und legten ihn mit ausgebreitetem Flug auf den Steinestrich der Terrasse.
»Drei Schüsse haben ihn gefehlt, der meinige ihn getroffen,« berichtete Engels ganz stolz und mit leuchtenden Augen. »Die Herren Offiziere wollten ihn zu Ihren Füßen legen, Fräulein Dolores, und nun wird mir diese Freude und Ehre.« –
Gerührt reichte Dolores dem Getreuen die Hand, die er mit abgezogenem Hut ehrfurchtsvoll an die Lippen führte.
»Wir lassen ihn ausstopfen, und dann soll er einen Ehrenplatz bekommen in meinem Zimmer,« sagte sie erfreut.
»Welche enorme Flügelspannung,« bewunderte Doktor Ruß. »Ich möchte wohl seine Weite kennen!« –
»Dort ist ein Maß in meinem Arbeitskorb,« sagte Frau Ruß und wollte es holen, doch ehe sie über den Vogel weg zurück an den Tisch gelangen konnte, war er schon dort und suchte in dem Korbe, den Rücken den anderen zugekehrt – –
Plötzlich erhielt Dolores einen Stoß, der sie, die neben dem Adler auf dem Boden kniete, fast umgeworfen hätte. Es war Frau Ruß, die an sie gestoßen hatte, und sich jetzt, ganz rot im Gesicht, wieder aufrichtete.
»Verzeih',« murmelte sie, »ich wollte nur auch den Adler sehen –«
Doch ehe Dolores sich über das eigentümliche Gebaren der Tante wundern konnte, war Doktor Ruß mit dem Maße neben ihr und begann mit Hilfe der anderen die Breite des Fluges zu messen.
»Eins – zwei – zwei Meter sieben Centimeter,« meldete er, sich aufrichtend, und wischte sich von der Anstrengung dicke Schweißtropfen von der Stirn, so daß Engels noch gutmütig neckend sagte:
»Na, Doktor, Sie müssen auch mal wieder in Training, sonst werden Sie bald ein richtiger Apoplektiker. Donnerwetter, schwitzt der Mann von dem bißchen Bücken!« –
Doktor Ruß lachte etwas nervös zu der medizinischen Meinung des »lieben Engels.«
»Ja ja, uns alten Herren wird der Training nur etwas sauer, wenn wir heraus sind,« meinte er.
»Nun aber eine Tasse Thee mit viel Rum, lieber Engels,« rief Dolores, und nachdem die Forstgehilfen gegangen waren, setzte man sich wieder an den gemütlichen runden Tisch. Engels hatte bald seine Tasse vor sich stehen, deren Inhalt den euphemistischen Namen »Thee« führte, in der That aber ein ehrlicher, steifer Grog war, dessen weniges Wasser eine Theekanne passiert hatte.
Als nun Dolores dem glücklichen und von den andern Jägern sicher sehr beneideten Schützen des Adlers auch noch eine Schüssel voll zierlich belegter Sandwiches zugeschoben hatte, nahm sie selbst endlich ihre Tasse und führte sie zum Munde, und als sie dabei aufsah, nahm sie wahr, wie Frau Ruß ihre Augen auf sie geheftet hatte, starr, unbeweglich, mit einem seltsamen Ausdruck darin von Angst, Drohung, Haß, Neugier – –
Wie gebannt begegnete Dolores diesem Blicke, der so steinern und doch so ausdrucksvoll war, der ohne die Wimpern zu zucken nach ihr hinübersah – und da beschlich sie vor diesem Blicke ein solch' furchtbares Grauen, eine solch' entsetzliche Angst, die sie sich selbst nicht hätte erklären können, daß etwas von dem Gefühl eines zu Tode gehetzten Wildes über sie kam und sie fort wollte, fort, und doch nicht konnte, gefesselt von diesen kalten, hellen Augen, welche sie unverwandt ansahen – –
Da fiel die nur halb geleerte Tasse klirrend aus ihren Händen hinab auf die Steinfließe der Terrasse, und dieses Geräusch erlöste sie aus einem, wie ihr deuchte, endlosen, in der That aber nur Sekunden währenden Bann, sie stieß einen halberstickten, halbgelähmten Schrei aus, taumelte ein paar Schritte weiter und fiel bewußtlos über den mächtigen Körper des toten Adlers zu Boden – – – – –
Als sie die Augen wieder aufschlug, lag sie auf ihrem Bett, neben welchem Tereza und Frau Ruß standen – –
»Fort!« rief sie letzterer in höchster Angst zu, »fort – fort – um Gottes willen – ich fürchte mich vor dir –« –
Da zuckte es über das kalte, ausdruckslose Gesicht der großen Frau wie Wetterleuchten, aber sie wandte sich sofort ab und ging hinaus. Draußen im Korridor aber stand sie still, schlug beide Hände vor ihr blasses Gesicht und schluchzte, thränenlos, und mußte, um sich fassen und mit ihrem gewöhnlichen Ausdruck unten erscheinen zu können, lange stehen, ehe sie wieder hinabstieg und von ihrem Gatten mit einem teilnahmsvollen: »Nun, wie steht es oben?« empfangen wurde.
Indes fuhr Engels mit den schnellsten Pferden nach der Stadt, um dort für Dolores einen Arzt zu holen, welcher nach der unvollkommenen Beschreibung des Zustandes seiner Patientin auf eine schwere Nervenerschütterung schloß und sich mit einigen beruhigenden Präparaten versah. – Auf dem Rückwege von der Stadt begegnete er Falkner zu Pferde, und dieser