Da kehrte Frau Ruß leise auf ihren Platz zurück und saß ruhig nähend da, als nach zehn Minuten ihr Mann wieder erschien, den Hut auf dem Kopfe und den leinenen Staubmantel an.
»Engels wollte um elf Uhr den Arzt wieder holen lassen,« sagte er, »und da mir Schreibmaterialien fehlen, so werde ich mitfahren und dieselben besorgen. Du magst mir also vom Lunch einiges aufheben lassen.«
»Ja,« nickte sie, »es ist gut. Wann soll ich mit dem Packen beginnen?«
»Das hat Zeit,« erwiderte er und ging.
Wieder saß Frau Ruß still, bis sie einen Wagen aus dem Stallhofe rollen hörte und sie, hinausspähend, Doktor Ruß in seinem Staubmantel fortfahren sah. Da erhob sie sich und ging in das Zimmer ihres Gatten und an dessen Schreibtisch, dessen Pult verschlossen war, wie die Schrankthüren des Aufsatzes. Zunächst suchte sie nun die Schublade an der linken, stumpfen Ecke des letzteren, und nachdem sie mehrere dieser langen engen Dinger herausgezogen und die Fächer untersucht hatte, fand sie in dem mittelsten derselben einen ziemlich flachen Knopf, welcher sich in einer Rille weiterschieben ließ. In der Aufregung, in welcher sie sich befand, machte sie sogleich ein Experiment damit, und ein scharf schnappendes Geräusch im Innern des Schränkchens belehrte sie, daß hier ein Mechanismus ein verborgenes Fach geöffnet haben mußte, und zwar ein in dem Schränkchen selbst zugängliches Fach. Doch wie hierzu gelangen ohne Schlüssel? Mechanisch zog sie ein kleines Schlüsselbund aus der Tasche, das ihre eigene Spinde und Kommode schloß, und ließ es nachdenklich durch die Finger gleiten. Es war unter den französischen Schlüsseln auch einer, der in eine kleine Rokokokommode paßte, in welcher sie ihre Hauben und feine Wäsche verwahrte – ein elendes Ding von einem Schlüssel mit verschnörkeltem Bartausschnitt. Diesen Schlüssel steckte sie zweifelnd und ohne seine Schließfertigkeit zu erhoffen, in das Schloß des Pultes – und siehe da, er schloß das primitive Schloß ohne Schwierigkeiten auf.
Klopfenden Herzens, aber mit vorsichtiger Hand zog sie die Ledermappe mit Löschblattfüllung, auf welcher ihr Gatte stets schrieb, heraus, und da lagen auch gleich die frischen Schriftproben – Blätter, auf denen der Schreiber einzelne Worte geübt und einzelne Buchstaben – alles in den charakteristischen, auffallenden Schriftzügen von Dolores Falkner! Und hier – hier war auch ein Brief von ihr mit nichtigem Inhalt, der als Vorlage für diese Übungen gedient haben mußte.
Vorsichtig schob sie alles wieder zusammen und schloß das Pult und – siehe da, der verachtete und oft geschmähte kleine Schlüssel schloß auch die Schrankthür des Aufsatzes auf. Nun probierte sie wieder den Knopf in dem Schubfache – er arbeitete leicht und sicher und öffnete in dem Schränkchen, das mit allerlei Bildern vollgeklebt war, wie man es oft in diesen alten Spinden findet, ein Geheimfach, dessen Thür unfindbar für den aufmerksamsten Sucher, mit einem bunten kleinen englischen Stich, der die Porträts des Königs Wilhelm III., der Königinnen Mary II. und Anna und deren Gemahl, dem Prinzen Georg von Dänemark, trug, verkleidet war – ein seltenes Schmähblatt dadurch, daß es die für die letzten Stuarts schmeichelhafte Unterschrift trug:
There is Mary the Daughter, and Willy the Cheater,
And Georgie the Drinker, and Annie the Eater. – [2]
[2]: Seltenes Flugblatt aus der Regierungszeit Wilhelms III. von England und der Königin Mary II.
Frau Ruß interessierte dies illustrierte Pamphlet von der Größe eines Oktavblattes aber gar nicht. Mit fliegender Hand langte sie hinein in das Fach – es enthielt nichts als ein paar Pappschachteln mit weißem Pulver ohne Aufschrift, nur mit lateinischen Ziffern in I und II numeriert und ein kleines Fläschchen von blauem Glase mit Glasstöpsel. Vorsichtig zog sie diesen halb heraus und roch daran – ein betäubender Duft von bitteren Mandeln machte sie aber sogleich zurückfahren und aufhusten. Schnell setzte sie alles wieder an Ort und Stelle, schloß Geheimfach und Schrank, schob die Schublade in ihr Fach und setzte sich dann hin, die Hände verschränkend und dachte nach.
Aber nicht lange, denn ein Blick auf die Uhr ließ sie bald wieder aufschrecken. Schnellen Schrittes verließ sie das Zimmer und fragte draußen im Korridor nach Mamsell Köhler, zu welcher sie in die Speisekammer gewiesen wurde.
Dort, in dem kühlen, gewölbten Raum stand das kleine graue Hausgeistchen des Falkenhofes und hatte alle Hände voll zu thun, um zum Lunch kalten Schinken, Roastbeef und Braten aufzuschneiden, Pasteten mit goldklarem, pikantem Aspic zu verzieren und eine Schüssel delikaten russischen Fleischsalates mit zierlich ausgestochenen roten Rüben, Pilzen, Haricots u. s. w. zu garnieren, indes drüben in der Küche die warmen Gerichte auf dem mächtigen Herde in kupfernen, spiegelblanken Kasserollen und Töpfen, welche zum Lehen gehörten und mit dem Falknerschen Wappen graviert waren, zischten, brodelten und brieten.
Frau Ruß trug das Anliegen ihres Mannes wegen Aufhebens von Essen für ihn vor.
»Sehr wohl, Frau Baronin, soll besorgt werden,« versprach Mamsell Köhler, welche nie unterließ, Frau Ruß ihren Titel aus der ersten Ehe zu geben, wie sie Lolo Falkner stets mit einer Sündflut von »Durchlauchts« überschüttete, wo sich es thun ließ. »Ich weiß wieder nicht, wo mir der Kopf steht,« schwatzte sie weiter, eine dem Eisschrank entnommene Blechbüchse mit Kaviar öffnend und den milden, grauen, großkörnigen Inhalt in eine Schüssel entleerend. »Die Herren Offiziere können jeden Augenblick von dem Manöver zurückkommen und haben dann stets einen gottgesegneten Hunger. Lieber Himmel, mit solchem Appetit aß unsere gnädige Baronesse früher auch, und jetzt –? Was hat sie sich bestellt? Ein Kaviarbrötchen und eine Scheibe Roastbeef! Wie für einen Sperling! Und wird auch davon noch die Hälfte herunterschicken, da wette ich darauf!«
Während Mamsell Köhler ihre Zunge gehen ließ wie ein wohlgeöltes Maschinenrad, musterte Frau Ruß den Inhalt dieses geschmackvollen Raumes, insbesondere aber ein Regal, auf welchem Kolonial- und Spezereiwaren in weißen Porzellanfäßchen mit Aufschrift des Inhalts standen. Daneben waren Blechkästen und Büchsen mit Thee, Cakes und Dessert aufgestellt – alles so appetitlich und einladend wie möglich, wie es eben »nur Mamsell Köhler« verstand.
»Haben Sie noch gebrannte Mandeln?« fragte Frau Ruß.
»Sind leider ganz alle, Frau Baronin,« seufzte die Kleine mit Bedauern und viertelte eine Citrone. »Ach Gott, überhaupt die Süßigkeiten! Die essen die jungen Herren Leutnants auch wie das liebe Brot – tellerweise! Und dabei noch die viele Schlagsahne – man wundert sich bloß, daß den jungen Herren nicht manchmal schlecht wird in dem Magen –«
»Ich werde mir ein paar rohe Mandeln zum Knuspern mitnehmen,« unterbrach Frau Ruß diese Bewunderung eines Leutnantsmagens, hervorgegangen aus der völligen Unkenntnis dieses oft verblüffenden Organs. Und mit diesen Worten öffnete sie eine der Porzellantonnen und griff tief in dieselbe hinab.
»Das sind ja bittere,« rief Mamsell Köhler warnend, indem sie die Kaviarschüssel mit Citrone und Petersilienbüscheln garnierte.
»Ach so – ich habe mich versehen,« erwiderte Frau Ruß, und ließ den Inhalt ihrer Rechten ungesehen in die Kleidertasche gleiten. Dann entnahm sie der Tonne mit der Aufschrift »Knackmandeln« eine Handvoll der großen, süßen Früchte, nickte Mamsell Köhler zu und ging in ihr Zimmer zurück, wo sie die Schalmandeln ruhig in ein Kästchen that und die »irrtümlich« ergriffenen und behaltenen bittern Mandeln hervorholte. Auf einem saubern Papier unterzog sie sich der Mühe, die Mandeln mit einem Federmesser zu schaben, und hatte dann die feinen Spänchen eben in ein Musselinläppchen gebunden und in ein Viertel Wasserglas voll Wasser gelegt, als der Tamtam durch den Falkenhof dröhnte zum Zeichen, daß der Lunch serviert sei. Schnell schloß sie das Glas fort in ein Schränkchen, ordnete ihren Scheitel, wusch die Hände und ging nach dem Speisesaal, wo sie an Stelle ihrer Nichte der Tafel präsidierte.
Am Nachmittage kam Falkner mit Lolo von Monrepos herüber, um sich nach dem Befinden von Dolores zu erkundigen und fanden sie, trotz des warmen Wetters fröstelnd in ein großes, weiches Tuch aus weißer Wolle gehüllt, in ihrem Salon vor, »blaß und durchsichtig