»Das thun gebildete Menschen nie, mein Herz,« erwiderte Doktor Ruß taubensanft. Denn abgesehen davon, daß jeder Mensch die Abwechslung liebt, lag ihm thatsächlich viel an ferneren Begegnungen mit dem »Hofe« von Monrepos, um so mehr, als der Erbprinz sich sichtlich für ihn zu interessieren schien.
»Also Sie kommen – und morgen früh mag Therese sich das Kleid holen,« beendete Dolores die Unterredung und erhob sich wieder.
»Wie, Sie gehen schon?«
»Ja – ich bin zwar müde, habe aber Kopfschmerzen und muß im Freien noch etwas umhergehen, ehe ich zu Bett gehe.«
»Ich begleite Sie,« sagte Doktor Ruß, sehr zum Mißvergnügen seiner Frau, während Dolores sich mit einem leisen Seufzer in ihr Schicksal ergab.
Und so traten sie denn hinaus in die warme und doch erfrischende Nachtluft, gefolgt von zwei eifersüchtigen, kalten, blauen Fischaugen, denen kein Blick des Mannes entging, welcher an der Seite des schönsten Weibes hinabschritt ins Dunkle.
»Ich hasse sie – und er mag sich hüten,« knirschte Frau Ruß – und strickte weiter. Was hätte sie gesagt, wenn sie gesehen hätte, wie Doktor Ruß draußen seiner Gefährtin den Arm reichte und Dolores sich wirklich auf denselben lehnte. Sie wollte die gebotene Stütze nicht zurückweisen, denn sie war sich bewußt, daß sie sich vor diesem Manne zu einer Heftigkeit hatte hinreißen lassen, welche ihr jetzt als unpassend und – unnötig erschien. Und Doktor Ruß schien ihre Gedanken zu lesen, denn im Einklange mit denselben begann er nach wenigen Schritten:
»Was müssen Sie von mir gedacht haben, liebste Dolores, als ich Ihnen gestern oben im Ahnensaal von Dingen redete, welche Sie so tief alterieren mußten! Verzeihen Sie mir mit dem Worte der Staël: Tout comprendre c'est tout pardonner. Und Sie werden mich verstehen, oder haben vielleicht schon verstanden, was ich in Worte zu kleiden suchte, die Sie erregten?«
»Ganz überflüssigerweise erregten,« erwiderte Dolores freundlich. »Sie kennen ja die Sage von der Achillesferse – nun, Sie hatten das Mißgeschick, mich gerade an der meinigen zu treffen. Also gleichfalls: nichts für ungut, wenn meine Worte allzu gereizt geklungen haben!«
»Nur mit Recht, nur mit Recht!« rief Doktor Ruß. »O, ich bin so froh, daß meine scheinbare Taktlosigkeit vor Ihren Augen den Entschuldigungsgrund reiner Menschlichkeit gefunden hat. Denn Sie wissen, liebste Dolores, daß wir armen Menschenkinder stetig hoffen, stetig planen, weil unserem Blick die Zukunft verborgen und das Herz der anderen verschlossen ist, daß wir darin nicht zu lesen vermögen –«
»Das ist eigentlich sehr schade,« meinte Dolores heiter und nicht ohne Beziehung, denn sie hätte gern gesehen, ob im Herzen ihres Kavaliers dessen feine Entschuldigungen so ernst gemeint waren, als seine Attacke auf ihr Vertrauen gestern.
»Gott behüte, das wäre schrecklich,« entgegnete Doktor Ruß gleichfalls heiter, denn er hatte wieder Terrain erobert. »Denken Sie nur, was man da alles zu sehen und zu lesen bekäme: alle Liebesnamen, welche die Sprache so freundlich für diese Zwecke leiht, Berechnung, Hinterlist, Abneigung –«
»Aber auch wirkliche Freundschaft und Wohlwollen –«
»Das wollt' ich eben als den besten Bissen nennen. Aber Hand aufs Herz, liebste Dolores – es lächelt hinter dem stärksten Wohlwollen, der wärmsten Freundschaft der Kobold, welcher uns zuflüstert: Wenn es nur nicht die lächerliche Seite hätte, oder so verboten aussähe, oder so wäre und so –«
»Dafür sind Freundschaft und Wohlwollen auch nur mit Verlagsrecht versehene und blässere Abzüge des einen großen und einzigen Gefühls – der Liebe, welche keine Nebengedanken hat und taub ist gegen das boshafte Geflüster aller Kobolde der Welt,« erwiderte Dolores warm, aber doch im heiteren Konversationstone. Und aus diesem Tone hörte Doktor Ruß auch nichts Besonderes heraus und konnte auch im Dunkeln nichts lesen aus den Zügen, die nur hin und wieder ein Streif des Mondlichtes traf, der zwischen den Bäumen durchhuschte und sich in dem wie poliertes Kupfer gleißenden Haar der Herrin vom Falkenhof fing.
»Also liebt sie und will darum nichts wissen von einer Verbindung mit Alfred,« fuhr es durch das thätige Hirn des Doktor Ruß. Und laut sagte er träumerisch: »Ja die Liebe! Lebenssonne, Lebenslicht! Ach, wo bist du hin!«
Es stieg verführerisch auf nach den Lippen und reizte Dolores zu sagen: »Sie sitzt ja drinnen, deine Sonne, und strickt Socken für dich,« aber die angeborene Großmut ihres Herzens drängte dies schnöde, kalte Sturzbad auf die Mondscheingefühle des Doktor Ruß siegreich zurück.
Der in seiner Verteidigungsrede für die Unlesbarkeit der Gedanken entschieden in diesem Falle rechthabende Doktor Ruß schritt indes neben Dolores her und gestattete sich offenen Auges eine kleine Exkursion in das Reich seiner Gefühle.
»Die Liebe! Die Liebe!« wiederholte er. »Es bringt einem die ganze schöne Zeit zurück, da man noch jung war und das Herz seinen Tribut verlangte. Aber nicht jedem Herzen wird er entrichtet, und manch' ein Herz ist schon verhungert und verdurstet, oder verknöchert aus Mangel an Liebe oder – Gegenliebe, oder an dem gebieterischen ›Zurück,‹ mit welchem das Schicksal einem für immer die Pforten des Paradieses verschloß. Wie sagt der Dichter?
Ein ewiges Gesetz, den Frevel richtend,
Gebeut: Willst du dein Erdenlos bestehen,
Mußt du geschlossnen Auges und verzichtend
An manchem Paradies vorübergehen.«
»So scheint es,« sagte Dolores ruhig, aber innerlich bewegt von Lenaus Worten, welche gut gesprochen, auch mächtig an ihr Herz klangen.
»So ist es,« vollendete Doktor Ruß. »Glück – Liebe –! Für die Menschen geschaffen und doch nicht für jedermann. Vorbei, verweht, verloren für immer,« schloß er, beinahe flüsternd, und Dolores ergriff ein warmes Mitgefühl für den Mann, der seine Jugend durchkämpft um den kargen Bissen Brot, den er sich sauer verdiente im geistigen Tagelohn, und endlich um Verdoppelung dieses kargen Stück Brotes eine Ehe einging mit einer Frau, die nicht nur älter war als er, sondern auch sein geistiger Antipode, mit dem ein Wort inneren Verständnisses unmöglich war für alle Zeiten.
»Das ist schlimmer als der Tod,« dachte sie, »schlimmer als Entsagen.«
Ja, tausendmal schlimmer. Und Dolores mit ihrem reichen und reinen Herzen ahnte nicht einmal, daß der verknöcherte, schnödeste Egoismus und der verbrecherische Gedanke und der Eigennutz geboren werden aus den Herzen derer, welche nicht verzichtend, sondern begehrend vor dem geschlossenen Paradiese stehen.
»Was doch der Mondschein nicht aus uns herauslockt, alles, was wir längst tot und begraben meinten,« sagte Doktor Ruß dann nach einer Pause in leichterem Ton. »Auch Sie sind ernst geworden, Dolores.«
»Das ist der Grundzug meines Charakters, lieber Freund,« erwiderte sie.
»Aber ein natürlicher Frohsinn läßt ihn nicht herb werden,« meinte er. »Das ist eine Gottesgabe!«
»Ich weiß es und bin dankbar dafür.«
Nach einer abermaligen Pause nahm Doktor Ruß wieder das Wort.
»Ich habe viele Bühnenkünstler gekannt und von vielen gehört, welche von Natur ernst veranlagt waren – und zwar je ernster, je heiterer die Rollen waren, die sie verkörperten. Das ist auch solch' ein Naturrätsel, das noch keine Lösung gefunden hat, aber ich wundere mich nicht, es in Ihnen zu finden, liebe Dolores. Es frägt sich nur, ob man diese inneren und äußeren Gegensätze immer zur Begegnung zwingen kann, das heißt ob es auch Ihnen auf die Dauer gelingen wird, den Ernst Ihres Charakters mit der notwendigen inneren Heiterkeit der Kunst zu verschmelzen.«
Es war eine wohlgesetzte kleine Rede und, was das beste daran war, sie brachte ihren klugen Verfasser auf den Punkt, den er im Auge hatte.
»O doch,« sagte Dolores arglos. »Da ich zur Bühne nicht zurückkehren werde, sondern meine künstlerischen Kräfte nur noch dem Studium der Musik und der Komposition widmen will, so kann dieser gefürchtete Ernst meiner angeborenen Heiterkeit nur