Wer nicht gelitten, hat nur halb gelebt,
Wer nicht gefehlt, hat wohl auch nie gestrebt,
Wer nie geweint, hat halb auch nur gelacht,
Wer nie gezweifelt, hat wohl kaum gedacht.
Am Tage nach dem improvisierten Gartenfest ging Dolores hinüber nach Monrepos, um den kleinen Hof nach dem Falkenhof einzuladen. Der Herzog, welcher ihr selbst die Gartenpforte öffnete, da er die lebende Hecke von Taxus beschnitt, nahm die Einladung sogleich und ohne alle Umstände an und führte seinen Gast nach der Veranda, auf welcher der übrige Kreis beim five o'clock-Thee versammelt saß. Auch Prinzeß Alexandra beantwortete die vorgetragene Bitte der »Fräulein Nachbarin« freundlich bejahend, und als die Herrin vom Falkenhof dann nach einer genommenen Tasse Thee sich wieder empfehlen wollte, führte die Prinzeß sie erst in ihr Zimmer unter dem Vorwande, ihr dort eine Zeichnung zeigen zu wollen. Prinzeß Alexandra hatte, wie alle anderen, nur ein Schlaf- und Wohnzimmer zur Disposition, denn Monrepos war nicht groß genug, um selbst den Besitzern eine größere Zimmerflucht für ihren Privatgebrauch zu gewähren. Die herzogliche Familie bewohnte das Hochparterre, darin auch die Gesellschaftsräume lagen, während der Oberstock die Zimmer für das Gefolge, die Gäste und Dienergelasse barg. Das Wohnzimmer der Prinzeß Alexandra war ein sehr behaglicher Raum, der alles enthielt, was seiner Bewohnerin besonders lieb und traut war – ihre Bücher, Malutensilien, Handarbeiten, welchen sie einen besonders künstlerischen Reiz zu geben vermochte. Nachdem sie Dolores die Zeichnung gezeigt, von welcher sie vorher gesprochen, zog sie den Gast neben sich auf einen Diwan und ergriff die beiden Hände desselben.
»Liebes Fräulein von Falkner,« sagte sie herzlich, »Sie müssen mir's nicht übelnehmen, wenn ich mir heut', nach unserer kurzen Bekanntschaft erlaube, ein Thema vor Ihnen zu berühren, ohne daß Sie mir das Recht geben, es zu thun. Aber sehen Sie, es giebt Menschen, zu denen man sich so mächtig hingezogen fühlt, daß man die konventionelle Mauer, welche der Codex der Gesellschaft um uns errichtet, einfach umgeht, um dem begehrten Ziele näher zu treten. Und zu diesen Menschen gehören Sie!«
»O Durchlaucht, wodurch habe ich diese Güte verdient?« erwiderte Dolores, im Innersten warm berührt.
»Sie müssen nicht Güte nennen, was Überzeugung ist,« rief Prinzeß Alexandra mit der nämlichen Herzlichkeit. »Und Sie haben wirklich mein sehr vorsichtig tastendes Herz im Sturme erobert. Darum also verzeihen Sie mir ein offenes Wort, das ich gern sprechen möchte, weil Sie mich gestern erschreckt haben. Sie wollen den Falkenhof wirklich verlassen?«
»Ja, Durchlaucht. Was soll ich hier?«
»Den Falkenhof verlassen, um zur Bühne zurückzukehren?« fragte die Prinzeß ernst.
»Ich weiß es noch nicht,« erwiderte Dolores wie gestern.
»Zieht es Sie dahin zurück –?« –
»Durchlaucht, diese Frage habe ich mir schon selbst vorgelegt und nicht beantwortet,« gestand Dolores ehrlich. »Ich kann darauf nur sagen: Ich weiß es nicht. Und das ist vielleicht unrecht, denn ich habe meinen Beruf geliebt –« –
»Und der Beifall der Menge hat Sie berauscht,« ergänzte die Prinzeß. »Und das süße Gift ist Ihnen in das Blut gedrungen und reißt Sie zurück auf die Bretter, auf denen jeder es wagen darf, Sie zu kritisieren, Sie mit Schmutz zu bewerfen. Dolores, wissen Sie, daß der Gedanke, Ihre Wangen soll wiederum ekelhafte Schminke bedecken, Sie sollen jeden Abend einem Tenor oder Bariton Liebeslieder zusingen, daß dieser Gedanke mir wehe thut?«
Und die Prinzeß legte ihren Arm um Dolores' Schultern, die blaß und regungslos dasaß.
»Nein, gehen Sie nicht dahin zurück, wohin Sie nicht passen,« fuhr die Prinzeß fort mit weicher, bittender Stimme. »Was wollen Sie von der Menge? Was wollen Sie auf den Brettern, deren verdorbene, von Miasmen durchsetzte Luft so leicht moralisch tötet? Auch Ihre gesunde Natur kann unterliegen. Und Sie werden, trotz Ihres reinen Herzens, genug gesehen haben, um zu verstehen, was ich meine!«
»O ja, denn in der kurzen Zeit meiner Künstlerlaufbahn sind Neid, Verleumdung, Käuflichkeit und Frechheit wiederholt an mich herangetreten,« antwortete Dolores müde. »Aber ich habe sie alle nicht beachtet,« setzte sie mit ihrem alten Stolz hinzu.
»Ich weiß es – ich fühle es,« fuhr Prinzeß Alexandra fort, »aber man meidet doch gern die Wege, wo man dergleichen unreinen Geistern überhaupt begegnen kann. Sie drängen sich freilich auch außerhalb der Bühne in unsere Nähe, aber sie sind doch nur Eindringlinge, deren man sich erwehren kann, nicht aber Stammgäste wie dort. Was hat Sie überhaupt zur Bühne gedrängt?«
»Die Not,« sagte Dolores träumerisch. »Wir waren arm und mußten schwer kämpfen mit dem Leben, und als mein Vater starb, waren meine Mutter und ich mittellos. Ich hatte aber eines gründlich gelernt, gründlich studiert – die Musik! Zu der ›Satanella‹ hat mein Vater den Text gedichtet, und ich hatte denselben, um ihm eine Freude zu machen, komponiert – die Melodien strömten mir zu, und meine Begabung für dieses Fach überwand spielend die technischen Schwierigkeiten. Die ›Satanella‹ war meines Vaters letzte Freude. Und als wir dann so allein standen, da beschloß ich, wenn möglich, auf der Bühne das Alter meiner Mutter sorgenfrei zu machen, und sie schrieb dem Intendanten in B., einem alten Freunde meines Vaters, einen Brief, in dem sie mich seinem und seiner Frau Schutz und Protektion anempfahl. Sie erfüllten beide freudigst und wahrhaft großmütig diesen Wunsch, und nachdem ich in Italien die nötigen Vorstudien gemacht, trat ich zuerst als ›Satanella‹ auf – ein guter Rat des Intendanten. Und dann starb meine Mutter, und schnell nach ihr mein Onkel, der im Leben das Tafeltuch zwischen sich und der Schwester zerschnitten hatte, weil ihre Heirat ihm antipathisch war. Nun ward ich, als seine Erbin, mit einem Schlage reich, aber ich blieb meinem Berufe treu, weil ich ihn liebgewonnen, weil die Begeisterung für die Kunst mein ganzes Herz ergriffen hatte und ich der Sonne, der Unsterblichkeit zuzufliegen vermeinte.«
»Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze,« warf die Prinzeß Schillers Ausspruch ein, und als Dolores betroffen aufblickte, setzte sie fein hinzu: »Aber auch außerhalb der Bühne kann man Unsterblichkeit erlangen, und den Flug zur Sonne zu wagen ist auch hier niemand verwehrt. Denken Sie an unsere unsterblichen Tondichter, die es nicht verlangt hat, ihre Werke selbst verkörpern zu können. Und Ihnen ist nicht Talent allein, Ihnen ist Genie verliehen worden, um siegreich Ihre Kräfte messen zu können mit jenen Unsterblichen, die uns den Fidelio, den Ring des Nibelungen geschaffen neben einer Fülle von Liedern, die ja allein unsterblich machen können. Darum kehren Sie nicht mehr dahin zurück, wo nur der Schein herrscht, der Schein, der unseren Sinnen schmeichelt, Ihnen aber doch kein volles Glück gewähren kann, und wenn Sie sich doch einmal einsam fühlen sollten, so kommen Sie zu uns, kommen Sie zu mir, denn ich glaube Sie zu verstehen. Wollen Sie mir versprechen, nicht zur Bühne zurückzukehren?« schloß sie herzlich, als Dolores sich heftig bewegt auf ihre Hand herabneigte.
»Durchlaucht, lassen Sie mich's erst allein durchkämpfen,« sagte die Herrin vom Falkenhof. »Ich kann noch nichts geloben, nichts versprechen. Vielleicht hat das ›süße Gift‹ schon mein Blut zersetzt und ich bin unrettbar verloren – vielleicht ist noch Zeit für mich.«
»Prüfen Sie sich denn! Aber ein frohes Vorgefühl sagt mir, daß ich gesiegt habe, oder vielmehr Sie über sich, denn jede Entsagung ist ein Sieg.«
»Ich habe schon vielem entsagt im Leben,« erwiderte Dolores ohne Bitterkeit, aber schmerzlich. »Schwererem,« setzte sie leise hinzu. »Nomina sunt odiosa. Und mein Name ist Dolores – Schmerz! Doch was soll das hier bei Ihnen, Prinzeß –« –
»Was werden denn hier für Staatsgeheimnisse verhandelt?« –
Mit diesen Worten steckte Prinzeß Lolo ihr blondes Köpfchen zur Thür hinein und ließ ihr reizendes