»Sie mag wohl verloren gegangen sein,« antwortete Doktor Ruß. »Ich habe sie wenigstens beim Ordnen des Archivs und der Bibliothek nicht finden können.«
»Oder sie ist überhaupt eine Fabel,« meinte der Herzog. »Und wenn sie's ist, so wär's das beste, denn meist erwecken solche Prophezeiungen, selbst wenn sie nachträglich gemacht werden, nur den Aberglauben und seine traurigsten Folgen. Ich halte nicht viel davon, denn etwas Humbug ist immer dabei im Spiel.«
»Da möchte ich zu widersprechen wagen, Hoheit,« entgegnete Doktor Ruß. »Was wir gemeinhin Hellseherei und als deren Produkt Prophezeiung nennen, ist ein hypnotischer Zustand, der für uns zwar heutzutage noch viel Unerklärtes in sich schließt, wissenschaftlich beleuchtet aber immer verständlicher wird. Und warum sollen die Leute dazumal dem Hypnotismus weniger zugänglich gewesen sein, als heut' die vielen ›Medien‹ von Profession? Die Prophezeiungen alter Tage sind in hypnotischem Zustand abgegebene Erklärungen – Reisefrüchte einer Seele in jenes ferne Land, das wir die Zukunft nennen.«
»Hm! Hm! Ich bin hierin etwas skeptisch, lieber Doktor,« erwiderte der Herzog, während der Erbprinz ausrief:
»Ah, also ein Bundesgenosse! Du siehst daraus, lieber Papa, daß ich nicht allein stehe mit dem, was du gemeinhin unter die Rubrik ›Blödsinn‹ rangierst.«
»Kinder, laßt mich in Ruhe,« meinte der Herzog mit behaglichem Lächeln. »Zu meiner Zeit, da wußte man nichts von Hypnotismus und solchem Zeug, womit die Leute nur verrückt gemacht werden. Da ließ man die Menschen wahrsagen und träumen, was sie Lust hatten, und man brauchte es nicht zu glauben, wenn man nicht wollte. Aber jetzt möchte man sich abends schon mit Angst ins Bett legen bei dem Gedanken, daß die Seele einen kleinen Abstecher macht, Gott weiß wohin, und am Ende das Wiederkommen gar vergißt. Denn nach meinem Herrn Sohn sind Träume auch hypnotische Produkte, zu welcher Ansicht ich mich leider so lange nicht bekennen kann, als ich noch jedesmal vor feierlichen Gelegenheiten träume, daß mir bei Staatsakten allemal die notwendigsten Kleidungsstücke fehlen. Prophetisch können die Angstträume nicht sein, denn so lange ich noch bei Verstande bin, werde ich voraussichtlich Landtage und Ausstellungen nicht in einem Kostüm eröffnen, das für meine afrikanischen Kollegen ganz praktisch, bei uns aber ganz ungewöhnlich ist.«
»Papa ist eben ganz unüberzeugbar,« sagte der Erbprinz, wider Willen einstimmend in das lustige Lachen, das die herzogliche Traumdeutung hervorrief durch die ruhige, trockene Art, wie der hohe Herr sie vortrug.
Falkner, der nicht lachte, weil er gar nichts von des Herzogs Rede gehört hatte, sah nur das feine bleiche Profil an der Stuhllehne ihm gegenüber sich wenden und den schönen Mund lachen – eigentlich nur lächeln, um sofort wieder ernst zu werden.
»Trotz der entschieden unprophetischen Träume Eurer Hoheit gehöre ich aber auch zu den Frondeuren gegen Ihre Ansicht,« sagte Dolores. »Darf ich meine Beweise vorbringen, daß Träume kein bedeutungsloser Unsinn sind, oder sein können?«
»Ich bitte darum, und bin ganz Ohr,« erwiderte der Herzog, und alles lauschte gespannt, als Dolores begann:
»O, ich werde kurz sein. Mir träumte also von der bösen Freifrau, und ich sah sie naturgemäß, genau in derselben Kleidung, wie hier vor uns auf dem Bilde!«
»Hu! Wie graulich,« machte Prinzeß Lolo mit kokettem Erschauern.
»Nein, mir war es nicht zum Fürchten,« fuhr Dolores fort, »denn sie sprach sehr freundlich und liebevoll mit mir. Und mir träumte weiter, daß sie mir ein Geheimfach zeigte, und ich sah deutlich, wie es zu öffnen war. Daran wäre nun nichts Wunderbares – Bedeutung erhält der Traum aber durch den Umstand, daß ich später das Geheimfach wirklich fand und es öffnen konnte durch den Mechanismus, welchen mir die Ahnfrau im Traume gezeigt.«
Ein allgemeines »Ah« des Staunens durchlief den kleinen Kreis bei dieser Erzählung, und der Herzog meinte schmunzelnd:
»Hoffentlich hat der allerdings ganz wunderbare Traum auch seine praktische Seite, denn ich vermute, daß Sie in dem Geheimfache einen Schatz gefunden haben.«
»Einen Schatz fand ich zwar nicht darin, wohl aber die Prophezeiung, deren Doktor Ruß vorhin erwähnte!«
Ein plötzliches, wunderbares Naturereignis hätte den kleinen Kreis nicht in stupenderes Staunen, in größere Aufregung versetzen können, als die einfachen, ruhig gesprochenen Worte Dolores Falkners es thaten. Namentlich der Erbprinz war ganz Feuer und Flamme geworden und wollte von der Erzählerin alle Details des Traumes wissen, was sie während desselben gefühlt, was nachher empfunden.
»O, wenn ich die Wahrheit bekennen soll, so muß ich eingestehen, daß ich heut' noch darauf schwören möchte, alles im wachenden Zustande erlebt, nicht geträumt zu haben,« erwiderte Dolores. »Doch das ist ja natürlich Unsinn – es war ein Traum, das beweist die Unfähigkeit, mich zu regen, welche ich während desselben empfand.«
»Hypnotismus!« rief der Erbprinz triumphierend. »Gnädiges Fräulein, Sie ahnen nicht, welchen Wert Ihr Zeugnis für meine Studien hat!« –
»Ach liebes, liebes Fräulein Dolores, bitte, geben Sie uns doch diese Prophezeiung zum besten,« schmeichelte Prinzeß Lolo und gespannt blickte Doktor Ruß nach der Angeredeten hinüber. Sie aber schüttelte nur mit dem Kopfe.
»Es steht nichts darin von Gift und Dolch, Mord und Totschlag – ist also gar nicht pikant,« sagte sie.
»Ja, aber irgend etwas muß doch darin stehen, wenn es eine Prophezeiung ist,« beharrte die Prinzeß auf ihrem Wunsche. »Ich meine, irgend etwas Interessantes für die Familie.«
»Es scheint so,« erwiderte Dolores kühl. »Durchlaucht werden mich aber trotzdem entschuldigen, wenn ich es als gegenwärtige Lehnsherrin ablehnen muß, ein Dokument zu zeigen, das ich als ›sekret‹ betrachte.«
»Wenn dies mit Grund geschieht, so kann ich Ihnen nur zustimmen, Cousine,« sagte Falkner fest.
»Nun hetzen Sie auch noch,« schmollte die Prinzeß, der wohl noch selten eine Bitte versagt worden war, doch Prinzeß Alexandra sagte verweisend:
»Unsere liebenswürdige Wirtin ist im Recht, Lolo, und wir haben keines, aus bloßer Neugier oder zum Spaß Familienangelegenheiten zu durchstöbern!«
»Meinetwegen kann die ganze, dumme Prophezeiung auch eingepökelt werden,« sagte die junge, fürstliche Dame schmollend mit dem ganzen Trotz eines ungezogenen Backfisches, der für gleichgültig erklärt, was ihm verboten worden ist, und als Prinzeß Alexandra ein leis ermahnendes »Aber Lolo« hören ließ, spannte der kleine reizende Übermut die niedlichen Hände mit den rosigen Fingern Tandem vor ihr Näschen als Antwort, d. h. sie machte der entthronten Autorität ihrer Schwester eine ganz unfürstliche, schusterjungenmäßige »lange Nase.«
Als sie diese Heldenthat vollbracht, sprang der stets bizarre Sprünge machende Geist Prinzeß Lolos sofort auf eine andere Idee über.
»Famos, solch' ein Familiengespenst,« rief sie und betrachtete das Bild der bösen Freifrau. »Wir haben ja natürlich auch unsere graue Dame, aber ich hab' sie leider noch nicht gesehen, auch nicht von ihr geträumt, wie Sie! Sie geht immer die Korridore im Schlosse lang bis in die Kapelle und steigt dann zur Ahnengruft hinab. Apropos, Baroneß, haben Sie auch eine Ahnengruft? Und ist die Freifrau Dolorosa dort beigesetzt?«
»Ich habe wirklich noch nicht danach gefragt,« sagte Dolores.
»Da kann ich Auskunft geben,« warf Doktor Ruß ein. »Der Sarg der Freifrau Dolorosa steht in dem verschlossenen Raum der Gruftkapelle zwischen den Särgen der beiden Brüder Falkner, welche ihre Gatten gewesen sind.«
»In der sogenannten Bleikammer,« ergänzte Falkner.
»Ach, gehen wir doch hinein – bei Fackellicht! Es ist schon ganz finster,« rief Prinzeß Lolo aufspringend.
»Unsinn, Lolo,« sagte der Erbprinz.
»Na, ich dächte, das wäre doch ein unschuldiges Vergnügen,« erwiderte sie