»Ach, Herr Pastor,« erwiederte die Kleine mit zitternder Stimme, indem große Thränen über ihre Wangen liefen, — »der Vater, ist so heftig krank geworden — und er sagt, er fürchte, daß es zu Ende gehe, und da wünscht er so sehr, den Herrn Pastor zu sprechen — um Trost zu haben und Rath — was aus unserem Haus und aus mir werden soll, wenn er wirklich sterben sollte —«
Lautes Schluchzen erstickte die Stimme der Kleinen.
Ernst stand der Pastor auf und lehnte die Pfeife an seinen Lehnstuhl.
»Was fehlt dem Vater?« fragte er.
»Er hat sich heiß gearbeitet — gestern —« antwortete das Mädchen, von Weinen unterbrochen, — »und sich erkältet, — jetzt ist sein Husten die Nacht so heftig wiedergekommen und er ist ganz verzagt und meint zu sterben!«
»Sei unbesorgt, mein Kind,« antwortete der Pfarrer, — »es wird so schlimm nicht sein, — ich komme und werde sehen, was zu thun ist.«
Und einen großen Eichenschrank öffnend, nahm er aus einem darin befindlichen Kasten einige kleine Flaschen, steckte sie in die Tasche und ergriff sein Baret.
»Man muß hier auf dem Lande ein wenig Arzt sein,« sagte er zu seinem Neffen, »um so einige kleine Linderungsmittel geben zu können, bis die ärztliche Hilfe kommt, wenn sie wirklich nöthig ist. Ich glaube, daß ich schon manches Leben mit meiner kleinen Apotheke gerettet habe,« fügte er mit glücklichem Lächeln hinzu.
»Armer Papa,« sagte Helene, — »Deine frische Pfeife!«
»Glaubst Du, daß dem armen Kranken mein Erscheinen nicht mehr Erquickung bringt, als mir die paar Züge Tabak?« fragte der Vater ernst.
»Aber lieber Oheim, könnte ich nicht den Gang für Dich thun?« fragte der Kandidat, »ich würde mich allmälig mit den Pflichten des Amtes bekannt machen —«
»Nein, mein Lieber,« erwiederte der Pastor, — »ich halte in Allem auf Ordnung, — noch bist Du nicht ernannt, auch muß Dich die Gemeinde erst kennen, ehe Du solche Gänge machen kannst; das Erscheinen eines Fremden würde den Kranken noch mehr aufregen. — Wartet ruhig, — ich komme bald wieder.«
Und mit dem Kinde, dessen Thränen versiegten, sobald es sah, daß der Pastor seinen kranken Vater besuchen wollte, verließ der alte Herr das Haus.
Der Kandidat trat an das Fenster, sein Blick fiel auf Helene, welche ihre Arbeit wieder ausgenommen hatte und über dieselbe gebeugt dasaß, dann schweifte er zum Fenster hinaus über die Rosenbeete hin nach dem waldumkränzten Horizont.
»Es ist wirklich schön hier,« sprach er, — »und im Sommer muß es sich hier sehr angenehm wohnen lassen —«
»Ja, es ist wunderschön,« erwiederte das junge Mädchen in unbefangenem Tone und dem Ausdruck jener natürlichen Ueberzeugung, welche jungen Herzen den Ort, der ihre Jugend erblühen sah, als den reizendsten der Welt erscheinen läßt, — »Du wirst es noch schöner finden, Vetter, wenn Du erst die weiter liegende herrliche Gegend mit ihren stillen Spaziergängen kennen lernst. Selbst die eintönigen dunklen Föhrenwälder haben ihren Reiz und ihre Sprache —« und ihr Auge schweifte hinüber nach den dunkelgrünen Waldzügen, welche wie ein Rahmen die sonnige Landschaft einschlossen.
Ein leichtes Lächeln, halb mitleidig, halb ironisch, zuckte um den Mund des Kandidaten.
»Ich wundere mich nur,« sagte er, »daß der Oheim mit seinem so reichen Geist, der aus seiner Unterhaltung so oft hervorleuchtet und den seine Jugendfreunde an ihm rühmen, es so lange Jahre hier hat aushalten können, so fern von allem geistigen Leben und vom Verkehr mit der fortschreitenden Bildung der Welt. — Es ist eine der ersten Pfarrstellen im Lande, und bei seiner überall anerkannten musterhaften Verwaltung derselben, bei seinen reichen Kenntnissen und seinen Verbindungen hätte es ihm ein Leichtes sein müssen, längst im Konsistorium zu sitzen. Für einen Mann wie ihn hätte diese Stelle der Uebergang zu Größerem, der Ausgangspunkt einer bedeutenden Carrière sein müssen. Ich begreife nicht, wie er es hier unter den Bauern aushält.«
Helene blickte mit ihren großen Augen ihren Vetter erstaunt an, — aus seinen Worten klang ein ganz fremdes, unbekanntes Element in ihr Leben hinein. —
»Wie wenig kennst Du den Vater!« rief sie, — »ihm geht diese schöne, friedliche Heimat, dieser stille, segensreiche Wirkungskreis weit über alle hohen Würden mit ihrem Zwang und ihren Sorgen!«
»Aber je höher und einflußreicher die Stellung,« sagte der Kandidat, »um so größer ist der Wirkungskreis, um so reicher der Segen, den eifrige Arbeit verbreiten kann!«
»Das mag wohl sein,« erwiederte das junge Mädchen, — »aber man sieht die Früchte nicht so vor sich, der Verkehr mit den Menschen fehlt und der Vater hat oft gesagt, die höchste Zufriedenheit, die er kenne, sei, unmittelbar Trost und Frieden in ein bekümmertes Menschenherz zu gießen, der größte Stolz, ein verirrtes Herz zu Gott zurückzuführen. — Aber Du selbst, Vetter,« fuhr sie fort, »willst ja hier bleiben und Dich,« fügte sie lächelnd hinzu, »ebenfalls in diese Einsamkeit begraben?«
»Ich habe meine Laufbahn zu beginnen,« antwortete er, — »ich muß arbeiten, um emporzusteigen, und die Jugend ist die Zeit der Arbeit, — aber als endliches Ziel meines Lebens möchte ich mir einen höheren Beruf stellen.« Und ein scharf aufleuchtender Blick seines Auges schien in der Ferne ein Ziel zu suchen, das weit ab lag von der stillen Landschaft, welche sich vor dem Fenster des einfachen Pfarrhauses ausbreitete.
»Und Du, Helene,« fragte er nach einer augenblicklichen Pause, »hast Du nie das Bedürfniß eines regeren geistigen Lebens empfunden, nie die Sehnsucht nach einer bewegteren Welt?«
»Nein,« antwortete sie einfach. — »Eine solche Welt würde mich beengen, erschrecken. Erst neulich wieder, als wir in Hannover waren — da war mir zu Muthe, als ob alles Blut mir nach dem Herzen zurückströmte, ich verstand nicht, was man zu mir sprach, und empfand eine unendliche Einsamkeit. — Hier verstehe ich Alles, — die Menschen, die Natur, — hier fühle ich das Leben so reich und so warm, — dort, in der großen Stadt ist es kalt und eng. — Ich würde sehr unglücklich sein, wenn der Vater jemals hier fortginge, — aber davon ist ja auch keine Rede!« sagte sie mit überzeugtem Tone.
Ein leiser Seufzer drang aus dem Munde des Kandidaten, während er nachdenklich vor sich hin sah.
»Aber im Winter,« sagte er dann, »wenn Du Deine Spaziergänge nicht hast und die Reize der Natur — da muß es doch oft öde und traurig hier sein?«
»Nein,« rief sie lebhaft, — »niemals, — niemals ist es öde hier, Du glaubst nicht, wie schön und angenehm hier die langen Abende vergehen, wenn der Vater liest und mir erzählt von so vielen Dingen, wenn ich ihm vorspiele und singe und er dann so glücklich ist nach der Arbeit des Tages!«
Der Kandidat seufzte abermals.
»Uebrigens,« fuhr sie fort, »sind wir ja auch nicht ohne Gesellschaft. Da ist die Familie des Oberamtmanns von Wendenstein auf dem Schlosse, und wir bilden schon einen ganz hübschen Kreis. — So ganz vom Verkehr abgeschnitten, wie Du glaubst, sind wir hier auch nicht. Im letzten Winter haben wir sogar recht oft im Schlosse getanzt.«
»Getanzt!?« rief der Kandidat und faltete die Hände über der Brust.
»Gewiß,« rief Helene, »die Gesellschaft von Lüchow kam oft herüber, — und wir waren eben so vergnügt, als man es in Hannover nur sein kann.«
»Und der Oheim hat nichts dagegen, daß Du Dich an solchen rauschenden, rein weltlichen Vergnügungen beteiligst?« fragte der Kandidat.
»Nicht das Geringste,« erwiederte sie, — »warum sollte er auch?«
Der Kandidat schien etwas antworten zu wollen, — doch hielt er zurück und sagte nach einer kleinen Pause mit sanftem und bescheidenem Ton:
»Man kommt doch in den maßgebenden Kreisen jetzt immer mehr zu der Ansicht, daß derartige Vergnügungen für die Stellung der Familie eines Geistlichen nicht passen.«