Sie erhob sich und trat in die Nische des Fensters, um den Brief ihres Vaters zu lesen.
»Und wie geht es sonst in Blechow?« fragte der Oberamtmann, »was macht der alte, brave Deyke – und Fritz?«
»Fritz Deyke und seine junge Frau aus Langensalza,« sagte der Kandidat, »führen die Wirtschaft des Hofes, welche der alte Deyke ihnen übergeben, der sich nur sein Ehrenamt als Bauermeister vorbehalten – und es herrscht ein neues, munteres Leben aus dem sonst so ruhigen und stillen, alten Hofe. – Die junge Frau ist fromm,« fuhr er mit salbungsvollem Tone fort, »eine Beschützerin aller Armen des Dorfes, und mein Oheim hat viel Freude an ihrem Tun und Treiben, der Alte macht sich zuweilen in einigen derben Äußerungen über die neue Landesherrschaft Luft, aber ein Blick seiner Schwiegertochter bringt ihn wieder zum Schweigen. – Wenn überall die alte und die neue Zeit sich in so freundlicher Harmonie die Hand reichen, wie auf dem Bauernhofe des alten Deyke, so wäre der Frieden bald hergestellt!«
»Nun,« sagte der Oberamtmann, ernst die Hände faltend, »Gott wird alles fügen nach seinem Wohlgefallen! – In Zeiten wie die unsrigen muß der einzelne Mensch schweigend erwarten, wohin die Vorsehung die Schicksale der Völker führt.«
»Amen!« sprach der Kandidat, das Haupt neigend.
»Herr von Tschirschnitz und Herr von Hartwig!« meldete der alte Diener, und die beiden Herren, frühere hannoverische Offiziere, traten in den Salon.
Herr von Tschirschnitz, der Sohn des früheren Generaladjutanten des Königs Georg, war ein großer, schöner Mann von hohem, kräftigem Wuchs; die ausdrucksvollen Züge seines von dunkelblondem Vollbart umrahmten Gesichts drückten Intelligenz und Energie aus; Herr von Hartwig, älter als jener, hatte weiche, kränkliche Züge, sein Kopf war ganz kahl und seine hellen, freundlichen Augen blickten jetzt wehmütig und traurig.
Die Herren setzten sich zu dem Tische, nachdem sie den Oberamtmann und die Damen begrüßt und ihrem Kameraden, dem jungen Herrn von Wendenstein, herzlich die Hand gedrückt.
»Kandidat Behrmann aus Blechow,« sagte der Oberamtmann vorstellend.
Die Herren verneigten sich. »Ein guter Hannoveraner?« rief Herr von Hartwig mit freiem Ausdruck, »wie es sich ja hier von selbst versteht!« fügte er zum Oberamtmann gewendet hinzu.
Der Kandidat neigte schweigend das Haupt.
Herr von Tschirschnitz betrachtete ihn mit forschendem Blick.
»Ich habe mit tiefer Teilnahme von dem harten Schlage gehört, der Sie betroffen,« sagte Frau von Wendenstein mit innigem Ausdruck, sich an Herrn von Hartwig wendend, »wie konnte dies schwere Unglück so schnell kommen?«
»Meine arme Frau,« erwiderte Herr von Hartwig, indem eine Träne sein Auge verdunkelte, »war schwer erschüttert durch die Ereignisse, man brachte mich ihr auf den Tod verwundet, die unermüdliche Pflege, die Sorge und Angst haben ihre schon schwankende Gesundheit zerrüttet – ein chronisches Brustleiden nahm schnell eine akute Gestalt an, und als ich mich von meinem Lager erhob,« fügte er mit bebender Stimme hinzu, »da war es – um meine Frau zu Grabe zu geleiten.«
»Welche Schmerzen, welcher Jammer!« sagte Frau von Wendenstein leise, »o die Kronen der Fürsten müßten sich nur mit Perlen schmücken, statt mit Diamanten und Rubinen, wie viele Tränen haften an ihrem Glanz!«
»Aber es wird ein Tag der Rache kommen,« rief Herr von Tschirschnitz, »und vielleicht ist er nahe!«
»Rache?« sprach der Oberamtmann ernst und sinnend, »die Rache ist des Herrn, vor dessen Blick allein Schuld und Unschuld offen liegt, menschliche Rache fügt nur immer weiter Ring an Ring in der furchtbaren Kette der Leiden. – Doch,« unterbrach er sich, »Was gibt es Neues in dieser Zeit, wie sind die Herren zufrieden, welche in den preußischen Dienst getreten?«
»Sie werden mit aller Zuvorkommenheit behandelt,« erwiderte Herr von Tschirschnitz, »aber sie fühlen selbst mehr, als man es sie fühlen läßt, wie schwer die Stellung ist, in welche die Notwendigkeit sie gedrängt hat, um so mehr, als sie vielleicht bald in der neuen Uniform ins Feld ziehen sollen!«
Der Leutnant horchte hoch auf.
Der Kandidat warf einen schnellen Blick auf die Offiziere.
»Ins Feld ziehen?« rief der Oberamtmann, »wie das?«
»Seit gestern,« sagte Herr von Tschirschnitz, »spricht alle Welt von großen Verwicklungen, Frankreich hat sich Luxemburg von Holland abtreten lassen, die Zeitungen bringen die Nachricht von großen, französischen Rüstungen, auch hier sollen im stillen Vorbereitungen getroffen werden, welche auf ernste Ereignisse schließen lassen.«
»Ein Krieg gegen Frankreich?« sagte der Oberamtmann, »das könnte ja vielleicht die neue Waffenbrüderschaft fester kitten.«
Die Offiziere schwiegen.
Der Leutnant von Wendenstein stand auf und schritt im Zimmer auf und nieder.
»Ich bitte um die Erlaubnis,« sagte der Kandidat, »meinen Geschäften nachgehen zu dürfen, meine Zeit ist gemessen, und ich habe viele Gänge zu machen.«
Er stand auf.
Die Herren erhoben sich ebenfalls.
»Wir müssen Euch allein sprechen,« flüsterte Herr von Tschirschnitz dem Leutnant von Wendenstein zu.
»Sogleich – wir wollen auf mein Zimmer gehen,« erwiderte dieser und trat zu Helene, welche den Brief ihres Vaters gelesen hatte.
»Ich hoffe,« sagte der Oberamtmann zum Kandidaten, »daß wir Sie vor Ihrer Rückreise noch sehen?«
»Ich werde nicht versäumen, mich zu empfehlen, und,« fügte er mit einem schnellen Seitenblick auf seine Cousine hinzu, die ihre Hände um den Arm ihres Verlobten geschlungen und ihr Haupt leicht an seine Schulter gelehnt hatte, »und eine Antwort von Helene an ihren Vater abzuholen.«
Helene neigte den Kopf, ohne ihre Augen aufzuschlagen.
Der Kandidat verließ das Zimmer mit demütiger Verneigung, ein mildes Lächeln auf den geschlossenen Lippen.
Als er auf die Straße gekommen war, verschwand dieses Lächeln, ein scharfer Strahl blitzte aus seinem Auge, und ein harter, feindlicher Ausdruck legte sich auf seine Züge. Bald aber zeigte sein Gesicht wieder seine gewöhnliche, gleichmäßige Ruhe, und mit raschen Schlitten ging er nach dem Georgswalle und trat in das große Haus dem Theater gegenüber, in welchem der preußische Zivilkommissar, Freiherr von Hardenberg, sein Geschäftslokal eingerichtet hatte.
Ein Bureaudiener führte ihn in das Vorzimmer des Zivilkommissars. Nach einer halben Stunde stand er vor dem Chef der Preußischen Zivilverwaltung im ehemaligen Königreich Hannover.
Herr von Hardenberg, ein Mann von etwa dreiundvierzig Jahren, mit vornehmen, freundlich wohlwollenden Zügen von etwas nervös gereiztem Ausdruck, saß vor seinem Schreibtisch und lud durch eine Handbewegung den Kandidaten ein, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
In demütiger Haltung und mit niedergeschlagenen Augen sprach der junge Geistliche:
»Ich bin gekommen, um Eure Exzellenz zu bitten –«
»Ich bin nicht Exzellenz,« sagte Herr von Hardenberg kurz.
Der Kandidat verneigte sich tief. – »Mir war,« sagte er, »von der früheren Regierung die Zusicherung erteilt worden, daß ich der Adjunkt meines Oheims, des Pfarrers Berger in Blechow, und demnächst sein Nachfolger werden solle, die Ausfertigung ist in Vergessenheit geraten, und ich wollte untertänigst bitten –«
»Warum wenden Sie sich nicht an die Abteilung für Kultusangelegenheiten?« fragte Herr von Hardenberg.
»Ich habe es mehrfach vergeblich getan,« erwiderte der Kandidat, »ich weiß nicht, ob der Drang der Geschäfte oder persönliches