Er überdachte die Erklärung, welche er heute in der Sitzung des Reichstages auf die bereits angekündigte Interpellation in betreff der luxemburgischen Verhandlungen abgeben wollte.
Sinnend blieb er vor seinem Schreibtisch stehen.
»Die Geschichte Deutschlands und Europas steht vor einer großen Krisis,« sprach er langsam, »und von dem Wort, das ich heute sprechen werde, hängt der Krieg oder der Frieden ab! – Man wird in Frankreich die Wendung verstehen, welche ich der Frage gegeben habe, der Kaiser wird den hohen Ernst der Situation begreifen, er wird begreifen, daß ich in betreff der Abtretung Luxemburgs nicht weichen will und werde; wie ich ihn kenne, wird er nachdenken, überlegen – und zurückweichen, freilich mit dem Hintergedanken, später auf seine Pläne wieder zurückzukommen. – Dazu aber ist es nötig, daß ich ihm die Möglichkeit des Rückzugs lasse. Die Stimmung in Frankreich ist auf das Äußerste erregt, wenn ich heute ein Wort spreche, das wie eine Provokation, wie ein Verbot gegen Frankreich klingt, das den Verkauf von Luxemburg an Frankreich als geschehen, als feststehend annimmt und von Frankreich einen Rückzug verlangt– ein Wort, wie es mir auf der Lippe liegt und wie ich es am liebsten spräche nach dem Gefühl meines Herzens, dann würde der französische Nationalstolz aufwallen und der Kaiser würde wider seinen Willen gezwungen werden, den Krieg zu beginnen. – Den Krieg!« sprach er, wiederum langsam auf und nieder schreitend, – »den Krieg! – Ich habe ihn nicht zu fürchten, ich bin überzeugt, ich weiß es, daß wir siegen werden; nicht nur ist Moltke sowie Roon aus militärischen Gründen dessen sicher – nein,« rief er mit leuchtendem Blick, »ich fühle den Sieg Deutschlands in dem Kampf um deutschen Boden – alle diese trüben Wirrnisse, die jetzt langsam mit Vorsicht und diplomatischer Kunst der Lösung entgegengeführt werden müssen, sie würden verschwinden vor dem großen nationalen Atemzug des deutschen Volks, vor dem einstimmigen Kriegsruf, der die Oriflamme des deutschen Heerbannes begrüßen würde. Mit einem Schlag könnte ich das leuchtende Ziel meiner Gedanken erreichen – das geeinigte Reich der deutschen Nation erstehen lassen, wenn ich jetzt den Handschuh hinwerfe, oder vielmehr, wenn ich ihn aufnehme, der mir bereits hingeworfen ist!«
Er stand still und blickte nachdenkend zu Boden. Tiefer Ernst legte sich auf seine bewegten Züge.
»Aber,« sprach er dumpf, »wenn ich jetzt den Krieg entfessele, wenn ich der Versuchung nachgebe, die Hand auszustrecken nach dem lockenden Kranze des Sieges, so gilt es nicht einen Kampf, dessen Leiden und Opfer in einigen Jahren vergessen werden, nein – es gilt die Eröffnung einer fünfzigjährigen Ära des permanenten Kriegszustandes. Wir werden Frankreich besiegen, niederwerfen sogar, aber das besiegte und niedergeworfene Frankreich wird den Durst nach Rache in seinem Herzen behalten und jede Gelegenheit ergreifen, um den Kampf von Neuem wieder aufzunehmen, um das verlorene Prestige wiederzugewinnen, und der Friede, der diesem Kriege folgen wird, wird ein Friede sein, der die Hand am Schwert halten und sich vom Kopf zu den Füßen in eherne Kriegsrüstung hüllen muß! – Und dann –« fuhr er fort, »die Niederlage Frankreichs ist der Sturz des Kaiserreichs – und was wird ihm folgen? – die rote Republik oder der Kampf der Parteien, die Gärung, die Auflösung. – Das gärende, kochende Frankreich aber, das ist die stete Unruhe Europas – das ist die stete Drohung der Staats- und Gesellschaftsordnung! – Nein,« rief er mit fester Stimme, »ich darf der Versuchung nicht weichen – ich will der Vorsehung nicht vorgreifen. Ich entsage dem lockenden Reiz, durch ein kühnes und rasches Vorgehen alle Knoten der Gegenwart zu durchschlagen, ich will warten, in Ergebung warten auf die Führung Gottes. Wenn es nach seinen Ratschlüssen geschehen kann, daß mein großes Werk sich in friedlicher Entwickelung vollziehe, ohne das Blut und Elend langer Kriege, so will ich die verderbliche Flamme nicht entzünden, so lange es anders noch möglich ist, und sollte auch meine Hand dies Werk nicht mehr krönen – sollte auch mein Auge seine Vollendung nicht mehr schauen.«
Sein klares Auge blickte ruhig in fast weichem Ausdruck aufwärts.
»Diese holländische Indiskretion,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort, »erlaubt mir so zu sprechen, daß der Friede erhalten bleiben kann, daß man in Frankreich ohne Demütigung zurückgehen kann, wenn man die Situation begreifen und den Wink verstehen, das Halt! hören will, das ich ihnen zurufe. Ich kann im Reichstage mit gutem Gewissen sagen, daß ich von den Verhandlungen Frankreichs mit Luxemburg nichts weiß, denn ich weiß in der Tat offiziell nichts davon, Benedetti hat mir keine Mitteilung darüber machen wollen oder können; man hat volle Gelegenheit, einen äußerlich ehrenvollen Rückzug anzutreten. Noch ist der Kaiser nicht engagiert, ich bin überzeugt, er wird es nicht zum Äußersten treiben wollen.«
Er trat an seinen Schreibtisch, ergriff ein Blatt Papier, auf welchem einige Notizen von seiner Hand verzeichnet standen, und las dasselbe aufmerksam, leicht die Lippen bewegend, durch.
»So ist es gut,« sagte er, »das zeigt den festen Willen und engagiert doch noch nicht, verletzt nach keiner Seite.«
Er blickte auf die Uhr.
»Es ist Zeit,« sagte er, »ich will pünktlich im Reichstag sein, um die Interpellation sogleich zu erledigen.«
Er ergriff die Militärmütze mit dem gelben Rand und seine Handschuhe.
Sein Kammerdiener trat in das Kabinett.
»Der französische Botschafter bittet Eure Exzellenz, ihn zu empfangen.«
Graf Bismarck blickte betroffen zu Boden.
»Sollte es zu spät sein?« flüsterte er.
»Ich komme,« sagte er dann laut und schritt durch die Tür, deren Flügel der Kammerdiener offen hielt, in den großen Vorsaal!, in welchen Herr Benedetti bereits eingetreten war.
Der Botschafter Napoleons III., in schwarzem Morgenanzug mit der Rosette der Ehrenlegion, trat dem Ministerpräsidenten entgegen. Auf seinem glatten Gesicht lag das gewöhnliche, höflich verbindliche Lächeln.
Graf Bismarck reichte ihm die Hand und sagte, bevor Herr Benedetti ihn anreden konnte, in gleichgültig ruhigem, artigen Ton:
»Sie sehen mich im Begriff, mein lieber Botschafter, zur Sitzung des Reichstags zu gehen, dessen Eröffnung ich heute nicht versäumen darf, wenn daher keine besonders dringliche und eilige Angelegenheit den Gegenstand der Unterhaltung bilden soll, mit welcher Sie mich beehren wollen, so möchte ich Sie bitten, dieselbe auf eine andere Stunde zu verschieben, wo wir mit Muße plaudern können.«
In den Zügen des Botschafters zeigte sich eine leichte Verlegenheit.
»Ich will Ihre Zeit jetzt durch keine lange Unterredung in Anspruch nehmen, Herr Graf,« sagte er, »wir werden ja im Laufe des Tages dazu noch Gelegenheit finden können, nur möchte ich mich des Auftrages entledigen, Ihnen eine Depesche zu übergeben, die ich soeben erhalten.«
Und er zog ein Papier aus der Tasche seines Rockes.
Graf Bismarck blickte ihn ernst an, er streckte die Hand nicht aus, das Papier in Empfang zu nehmen.
»Und was enthält die Depesche?« fragte er ruhig.
»Die Erklärung meiner Regierung in betreff der luxemburgischen Verhandlungen,« erwiederte Benedetti.
»Mein lieber Botschafter,« sagte der Graf, einen Blick auf die Uhr werfend, »es ist in der Tat die höchste Zeit für mich, zur Reichstagssitzung zu gehen, wollen Sie mich begleiten, wir können ja unterwegs noch sprechen. Sie verzeihen meine Eile – aber Sie werden meine parlamentarischen Pflichten begreifen.«
Ein wenig erstaunt, verneigte sich Herr Benedetti leicht und schickte sich an, den Grafen zu begleiten, der mit artiger Handbewegung den Botschafter voranschreiten ließ und ihm durch die Ausgangstür folgte. Sie stiegen die Treppe hinab, und gingen nach dem Durchgang, welcher durch die Gärten hinter dem Radziwillschen Palais vorbei nach der Leipzigerstraße führt.
Benedetti wartete schweigend auf die Anrede des Grafen Bismarck.
»Mein lieber Botschafter,« sagte dieser, als sie sich in dem Gartendurchgang befanden, »ich gehe soeben in den Reichstag,