Drúdir. Swantje Niemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Swantje Niemann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783944180847
Скачать книгу
Sei es, weil die Menschen oder Zwerge bereits jetzt anfingen, mit der Eroberung neuer Kolonien zu liebäugeln und die Hände irgendwann unwiderruflich nach dem ressourcenreichen Cirdaya ausstrecken würden. Sei es, weil die Elfen, um ihnen zuvorzukommen, selbst zur Industrienation werden würden.

      Und all dies hatte in Nornírwatar begonnen. Dem einstigen Sitz der Zwergenkönige und Stadt der Tempel, die sich von ihrem magisch-religiösen Erbe losgesagt hatte, um zu dem Ort zu werden, an der die Dampfmaschine entwickelt wurde, der mechanische Webstuhl, der Tunnelbohrer, die Eisenbahn, das Fließband … vor wenigen Tagen erst hatten sie von dem neuen Großprojekt der Union erfahren: Einem Netz, das Städte überall in der Union mit Elektrizität versorgen würde. In Nornírwatar – Schwarzspiegel, wie die Zwerge es nun nannten, da die mythologischen Wurzeln des ursprünglichen Namens ihnen Unbehagen bereiteten – war die heutige Union geboren worden.

      Ob die Zwerge dort Elfen willkommen heißen würden? Phandrael bezweifelte es.

      „Es ist die beste Spur, die wir haben“, entgegnete er.

      Eine Weile schwiegen sie, dann sprach Kyrai: „Ich kannte Valedas“, sagte sie leise. „Wenn es einen Elfen gibt, der keinerlei Sympathien für die Zwerge hegt, dann ist er es. Was sollte er in Nornírwatar wollen?“

      Für einen Moment erwiderte Phandrael ihren Blick vollkommen ernst. Er erinnerte sich an die Sorge in Shideris‘ Blick. „Wir werden es herausfinden.“

       Kapitel 7

       Findra

      Es gab keine Akte über Kargan. Ein Fakt, der aufschlussreicher war, als ein ganzer Karton voller Papier es hätte sein können und Findra obendrein die Lektüre unzähliger langweiliger Observationsberichte ersparte. Aber vielleicht hatte die Unlust, die sie bei dem Gedanken überkam, sich durch eine öde Aufzeichnung nach der anderen zu arbeiten, sie etwas übersehen lassen. Langsam ging sie den schmalen Gang zwischen den deckenhohen Schränken zurück und zwang sich, jedes Kürzel auf den Schubfächern zu lesen.

      Das Labyrinth der mumifizierten Ängste – oder, weniger poetisch, das Archiv der Spionageabwehr – war ein sonderbarer Ort. Es füllte drei unterirdische Hallen mit Reihen akribisch beschrifteter Schränke, zwischen denen der Staub tanzte. An der Decke pendelten elektrische Lampen im ständigen Luftzug hin und her. Sie tauchten die Gänge mal in stechendes Licht, mal in tiefen Schatten. In den Rohren, die sich wie offenliegende Eingeweide unter der Decke umeinander wanden, sangen und seufzten Wasser und Luft, die in verschiedene Räume des darüber gelegenen Gebäudes transportiert wurden. Unheimlich … als könnten sich die Schubladen jeden Augenblick quietschend öffnen, um eine unbarmherzige Armee von Kriegern aus eng beschriebenem Papier in die Welt zu entlassen, bereit, auf jeden niederzufahren, der es wagte, vom Prozedere der Spionageabwehrbürokratie abzuweichen …

      Vielleicht war ihr Führer ja auch einer der Geister dieses Ortes. Naudhiz028 hatte sich ihr mit diesem Codenamen wahrscheinlich in der Hoffnung vorgestellt, gefährlich und mysteriös zu wirken. Tatsächlich wirkte er vor allem leicht angestaubt. Seine Haut war blass und trocken und auch seine wenigen nicht ergrauten Haarsträhnen wirkten in ihrem stumpfen Dunkelblond farblos. Allerdings hatten sich, sobald Findra das Archiv betrat, seine hängenden Schultern gestrafft und der Ausdruck vager Resignation, der seinen Zügen alle Schärfe nahm, war offener Missbilligung über den Eindringling gewichen.

      „Haben Sie die Akte Kargan entfernt?“, fragte Findra, ohne sich zu dem Zwerg umzudrehen, der ihr mürrisch über die Schulter spähte.

      „Ich weiß nicht, von welcher Akte Sie reden.“

      Wahrscheinlich wusste er es wirklich nicht. Bei der schieren Menge der hier gelagerten Akten wäre es ein Wunder, wenn er sich an eine spezifische Akte erinnern könnte. Andererseits: War seine Antwort nicht etwas zu schnell gekommen? Findra bedauerte, dass sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, ihm ins Gesicht zu sehen. „Es geht um eine Reihe Observationsberichte über den Zeitraum von 1444 bis zum 1451. Sie betreffen einen Menschen namens Kargan, wahrscheinlich als mittelverdächtig eingestuft. Ich habe alle Schubladen für diesen Zeitraum durchsucht …“

      „Das ist mir nicht entgangen“, sagte er spitz. „Ich hoffe, Sie konnten ihre Neugier befriedigen.“

      Findra wusste nicht, ob sie ihn für seine mangelnde Kooperation verfluchen oder dafür auslachen wollte, dass er glaubte, irgendetwas an diesen Akten würde ihre Neugier wecken. Stattdessen atmete sie tief ein und aus und drehte sich mit einem breiten Lächeln zu ihm um. „Nun, das konnte ich tatsächlich. Ich bin in einer der Schubladen auf ein zwischen die Akten gerutschtes Einlegeblatt mit der Markierung Menschl.-Obj.-K.-Obs.-23.07.1444-07.03.1451-Hagalaz078-Wiesel? ohne eine dazugehörige Akte gestoßen. Im Verzeichnis befindet sich kein solcher Eintrag. Haben Sie eine Idee, was es damit auf sich haben könnte?“

      „Moment mal … Sie haben sich das gesamte Aktenzeichen gemerkt? Sie haben die Schubladen doch allesamt nur kurz durchgesehen.“

      Findra zuckte die Achseln. „Können Sie sich einen Reim auf das Fehlen der Akte machen?“

      Er schüttelte den Kopf. „Wir werden dem nachgehen und Sie informieren, wenn wir etwas finden. Wir würden Sie bitten, unsere Antwort abzuwarten.“

      Aha. Man warf sie hinaus und wollte sie bis zum Erhalt einer offiziellen Antwort – auf die sie wohl ewig warten würde – nicht mehr wiedersehen. Aber das spielte keine Rolle. Findra verließ das Archiv mit weitaus mehr Informationen, als sie es betreten hatte. Natürlich brachten diese sie keinen Schritt näher an die Lösung des Falles Fragar, sondern warfen noch mehr Fragen auf, aber trotzdem war sie froh, hier gewesen zu sein. Was sie Naudhiz028 gegenüber nicht erwähnt hatte, war eine Auffälligkeit des Verzeichnisses, die ihr sofort ins Auge gefallen war. Alle anderen Blätter in dem schmuddeligen Ordner waren abgegriffen und zerknickt gewesen. Mit Ausnahme des Blattes, auf dem die Akte, in der sie die Informationen über Kargan vermutete, verzeichnet hätte sein sollen. Das Papier war makellos, die Tinte nicht annähernd so ausgeblichen, wie sie es angesichts des Datums auf dem oberen Seitenrand hätte sein müssen.

      Natürlich konnte es sein, dass man die Seite aus anderen Gründen kopiert hatte, um sie zu bewahren. Aber warum dann nur diese und nicht das kaffeefleckige Blatt fünf Seiten vorher, das kaum noch zu lesen war? Findra konnte nur eines schlussfolgern: Jemandem war daran gelegen, dass Informationen über Kargan nicht allzu leicht zugänglich wurden. Es musste jemand sein, der Einfluss auf zumindest einige Mitarbeiter der Spionageabwehr hatte. Hm, das grenzt es ein, dachte sie sarkastisch. Aber wer auch immer es war, er hatte für sein Geld lausige Arbeit bekommen. Und nun eine wirklich entschlossene Findra am Hals.

      Ja, sie war sich bewusst, dass sie womöglich einer falschen Spur folgte. Aber immerhin war es eine. Mit energischen Schritten stapfte sie die Metallgitterwendeltreppe hinauf, einen langen, deprimierenden Flur entlang und schließlich auf die aufschwingende Tür des Gebäudes zu. Der Umriss eines breitschultrigen Zwerges zeichnete sich scharf vor dem einströmenden Sonnenlicht ab. Einen Augenblick später war er eingetreten und Findra konnte sein Gesicht sehen – ein Anblick, bei dem ihr selbst ein wenig die Züge entglitten. Niemand anderes als Baidur, Präsident der Nordkroner Polizei, starrte die Zwergin eisig an, die er soeben dabei ertappt hatte, seinen persönlichen Anweisungen zuwiderzuhandeln.

      Baidur war selbst für einen Zwerg ungewöhnlich klein – ein Umstand, der ihm sehr bewusst war. Im Gegensatz zu anderen versuchte er nicht, mit dicken Stiefelsohlen darüber hinwegzutäuschen. Stattdessen hatte er eine Reihe von Gesten und Verhaltensweisen entwickelt, die deutlich machte, dass er nicht duldete, dass irgendjemand auf ihn herabblickte. „Findra, ich hätte Sie nicht hier erwartet“, sagte er kalt. „Ich muss nur ein paar Worte mit … jemandem wechseln. Warum warten Sie nicht auf mich und begleiten mich dann ein Stück, um mir auf dem Weg zu erklären, was Sie hier zu suchen hatten?“ Er wandte sich dem Zwerg von der Spionageabwehr zu. „Führen Sie mich nach hinten, Bildrin.“

      Findra hörte ein leises Seufzen hinter sich. Offenbar gefiel es dem Archivar nicht, wenn sein lächerlicher Deckname so demonstrativ ignoriert wurde. Nun, auf ihr Mitleid musste