Keiner von ihnen machte Anstalten, sie aufzuhalten. Gewiss hatte Shideris sie angewiesen, ihn passieren zu lassen. Ob ihnen dies gefiel, war eine andere Frage. Er machte bereits Elfen nervös, die es nicht gewohnt waren, in jedem Neuankömmling eine potenzielle Gefahr zu sehen. Phandrael verkniff sich ein Grinsen bei der Vorstellung, sie anzugreifen. Er hatte es so selten mit echten Herausforderungen zu tun …
Während die Dalanah, die ihn hergebracht hatte, an die geschlossene Tür am Ende des Ganges klopfte und ihn mit leiser, melodischer Stimme ankündigte, glättete er seinen Frack. Er mochte die menschliche Mode, die – von der traditionellen Kleidung der Palastangestellten einmal abgesehen – mit einigen Veränderungen ihren Weg selbst nach Cirdaya gefunden hatte. Es war die Kleidung von Geschöpfen, die entschlossen waren, diese neue, schnelle Welt mit ihren Maschinen und Telegrafenmasten, Eisenbahnschienen und neuen Regierungsformen mitzuformen.
„Ihr könnt nun eintreten, Sir Phandrael“, sagte die Dalanah. Schlanke, weiße Finger wiesen auf die geöffnete Tür. Phandrael deutete ein Nicken an und folgte ihrem Wink.
Das Spiegelbüro trug seinen Namen zu Recht. Über den brusthohen Aktenschränken waren die Wände zu beiden Seiten mit grauer, von filigranen, dunkleren Ornamenten geschmückter Seide überzogen, auf der winzige Spiegel schimmernde Akzente setzten. Die zierlichen Möbel – organisch wirkende Strukturen aus Holz und Metall, die Glasplatten oder seidenbezogene Polster trugen – setzten das an winterliche Zweige erinnernde Motiv fort. Doch jeder Gedanke an die Einrichtung war vergessen, als er die Elfe ansah, die ihn schweigend erwartete. Das Licht, das hinter ihr durch das große, weiße Rosettenfenster strömte, ließ sie zunächst nur als schmale Silhouette erkennen.
Shideris – ihr Name weckte beinahe mehr Ehrfurcht als ihr königlicher Titel – war eine bemerkenswert schöne Frau. Ihre großen Augen waren so schwarz, dass es unmöglich war, die Linie zwischen Iris und Pupille zu erkennen – ebenso unmöglich, wie in ihnen so etwas wie Emotion zu lesen.
Phandrael verneigte sich mit seiner üblichen Theatralik, in die man allzu leicht Ironie hätte hineindeuten können. Dabei ergriff ihn bei ihrem Anblick tatsächlich Ehrfurcht. Für die meisten Elfen war Shideris die Frau, die Cirdaya durch eine Mischung aus großem politischen Geschick und verblüffender Rücksichtslosigkeit zu einem reichen, friedlichen Land gemacht hatte. Auch Phandrael respektierte sie dafür. Aber aus einem anderen Grund noch mehr.
„Majestät“, grüßte er.
„Phandrael.“ Ihre Stimme war erstaunlich tief für eine so kleine Frau. Für einen Moment stand sie nur da und sah ihn an. Prüfend? Missbilligend? Oder auch nur in Gedanken versunken, die gar nicht ihn betrafen? Phandrael war gut darin, all die Emotionen und Motive zu erkennen, die andere sogar vor sich selbst verbargen, doch was die Königin dachte und fühlte, war ihm immer ein Rätsel geblieben. Glücklicherweise ersparte sie es ihm, den Grund für seine Anwesenheit erraten zu müssen. Shideris kannte das komplizierte Protokoll des elfischen Hofes – und sämtlicher Institutionen aller anderen Staaten – bis ins kleinste Detail, aber im Gespräch mit ihm brachte sie alles direkt und ohne Verzögerung zur Sprache. So brach sie auch jetzt ihr versonnenes Schweigen, indem sie ein Blatt Papier vom Schreibtisch griff und ihm zeigte. „Erinnerst du dich an diesen Mann?“ Phandrael studierte die Bleistiftskizze. Das meisterhaft ausgeführte Portrait zeigte einen jungen Elfen mit schulterlangem, hellem Haar und intelligenten Augen. In seinem Blick lag etwas, das jeden Betrachter auf Distanz hielt. Ein Mann ohne besondere Kennzeichen. Nur, dass Phandrael diesen speziellen Mann ohne besondere Kennzeichen kannte. Zumindest oberflächlich.
„Valedas, nicht wahr?“, fragte er, obwohl er sich des Namens sicher war.
„Ja, Valedas. Einer deiner Drasirai-Brüder, und doch deutlich mehr als das.“
„War er ein Naturtalent?“ Phandrael hielt seine Stimme bewusst neutral.
„Genau. Seine Begabungen sind durch die Initiation nur verstärkt worden. Aber ich fürchte nicht seine Magie, sondern die Informationen, über die er verfügt. Seine Intelligenz und seine Überzeugung, besser als jeder andere zu wissen, was zu tun ist – und notfalls andere zu ihrem Glück zu zwingen. Ganz zu schweigen davon, dass er die eine oder andere unselige Allianz geschlossen haben könnte.“
Es dauerte ein wenig, aber als Phandrael die Wortwahl der Königin auffiel, blickte er beinahe erschrocken auf. Hatte Shideris gerade tatsächlich „fürchte“ gesagt?
„Wo ist er jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“ Shideris sprach mit der Lässigkeit einer Herrscherin, die wusste, dass sie sich dieses Eingeständnis leisten konnte. Es geschah selten, dass sie etwas nicht wusste. „Aber“, fuhr sie fort, „es gibt gewisse Hinweise auf seinen Aufenthaltsort. Ich möchte, dass du ihn findest. Dass du herausfindest, was er tut, warum und für wen. Und dass du, sollte es unseren Interessen zuwiderlaufen, dafür sorgst, dass es ein Ende findet. Dauerhaft.“
Phandrael konnte nicht verhindern, dass sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Valedas hatte ihm nie Grund zur Abneigung gegeben, aber das bereitete ihm keinerlei Gewissensbisse. „Ich soll also einen Drasirai-Bruder mit angeborenen Kräften jagen, ausspähen und notfalls töten?“
„Das waren meine Worte.“
Die Augen des Drasiron leuchteten auf.
„Wenn auch nur ein Bruchteil dessen, was ich befürchte, wahr ist, kann ich nicht riskieren, dass du scheiterst. Du wirst eine weitere Drasirah mitnehmen. Kyrai.“
Phandrael neigte den Kopf, obwohl ihm der Gedanke missfiel. Er kannte diese Kyrai nicht, aber viele seiner Brüder und Schwestern waren entsetzlich konservativ. Seine Einstellung machte ihn selbst unter seinesgleichen zu einem Außenseiter. Aber noch mehr als die Frage, wer ihn wohl begleiten würde, beschäftigte ihn, wie vage Shideris geblieben war. Mit Sicherheit würden er und seine Gefährtin alle Details erfahren, die sie brauchten, um ihre Mission zu vollenden. Aber über die Hintergründe informierte Shideris sie meist im direkten Gespräch. Wenn sie nun schwieg, würde sie es wohl für immer tun. Es würde ihn nicht um den Schlaf bringen, doch er hätte gerne mehr gewusst.
Shideris wandte sich ab. Die Königin blickte aus dem Fenster, als habe sie seine Anwesenheit vollkommen vergessen. Der tiefe Rückenausschnitt ihres Kleides offenbarte viel blasse, makellose Haut, und – nur eine Nuance dunkler – ein verschlungenes Symbol auf ihrem linken Schulterblatt. Es bog die Magielinien nicht, wie die Tätowierungen einer Drasirah es tun würden, aber es war zweifellos ein Dryadenmal – das allererste Zeichen des Bundes, den die Königin eingegangen war, um denen, die den Preis dafür zu zahlen bereit waren, die Magie von einst zu erschließen … oder zumindest einen erbärmlichen, aber dennoch berauschenden Rest davon.
Er fragte sich, wieso Shideris für die Audienz gerade dieses Kleid gewählt hatte und ihre Tätowierungen nicht wie sonst verbarg. War dies eine Botschaft an ihn? Eine Mahnung, dass er seine Macht und Stellung ihr verdankte? Oder aber war es ein Zeichen ihrer Verbundenheit zu den Drasirai? Ein Bekenntnis zu der Magie und den Ideen, die sie gemeinsam verteidigten?
Noch eine dieser Fragen, über die er nachdenken konnte, oder auch nicht. Viele unterstellten ihm, ein Mann ohne Moral zu sein, der nur an sein eigenes Vergnügen dachte, aber das stimmte nicht. Was er im Dienst der Königin tat, stand im Einklang mit seiner Idee eines Cirdaya, das seinen Weg in das Zeitalter der Technik fand, ohne etwas von seiner Macht oder Kultur einzubüßen. Eines Leuchtfeuers, das den anderen Kiarvanern einen Weg wies, sich von den einzigen beiden Dingen zu befreien, die Phandrael als Sünden gelten ließ: Stumpfsinn und Hässlichkeit. Soweit seine Ideale.
Aber Phandrael war auch ein ehrlicher Mann. Er mochte über den Kontext seiner Missionen nachdenken, aber er leugnete nicht, dass für ihn vor allem eines zählte: Die Herausforderung und das vielschichtige Vergnügen, was er daraus bezog. Der Rausch, den er als einer von wenigen Elfen zu umarmen wusste.
Als habe sie sich plötzlich an seine Anwesenheit erinnert,