Wenn er nach Anzeichen für Lügen gesucht hätte, wäre Baidur sicher fündig geworden, aber es war ihr Glück, dass er sich in dieser Situation kaum wohler fühlte als sie. Noch vor wenigen Wochen hatte er ihr seiner Hochachtung versichert. Vermutlich hätte er seine Drohung, sie zu entlassen oder zu versetzen, nur ungern wahrgemacht.
„Wahrscheinlich würde Ihnen ein wenig Abstand wirklich guttun“, sagte er. Seine plötzliche Freundlichkeit stand in auffälligem Kontrast zu seinem Ausbruch von gerade eben. „Wissen Sie was: Ich beurlaube Sie. Verschwinden Sie für drei Wochen aus der Stadt.“ Seine Stimme machte deutlich, dass der letzte Teil eher Warnung als Scherz war.
Findra musste ihr verwirrtes Lächeln nicht vortäuschen. „Äh … danke. Ab wann?“
„Ab sofort.“
„In Ordnung …“
Er tippte an seine Hutkrempe und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Ein jäher Windstoß wirbelte ein einsames Herbstblatt, das es irgendwie in die weitgehend baumlose Stadt verschlagen hatte, hinter seiner kompakten Gestalt her, als er in eine Gasse abbog.
Findra blieb stehen. Das verwirrte Lächeln auf ihrem Gesicht verwandelte sich in ein aufrichtiges, als sie in Gedanken den Preis für zwei Zugfahrkarten nach Schwarzspiegel ausrechnete.
Sie mochte Vorbehalte gegen Drúdir haben, aber sie hatte ihm ihr Wort gegeben, ihn in ihre Nachforschungen einzubeziehen. Außerdem hatte sie ohne ihn nicht die geringste Chance, Zugang zu dem sonderbaren – und zutiefst verdächtigen – Netzwerk von Magieinteressierten zu finden, von dem er ihr berichtet hatte.
Kapitel 8
Kyrai
Die Byrianel-Haine Cirdayas waren zu jeder Jahreszeit schön, aber im Herbst waren sie atemberaubend. Obwohl bereits ein dicker, orange-goldener Teppich aus Herbstlaub den Waldboden bedeckte, boten die Baumkronen noch immer einen majestätischen Anblick. Die gezackten Blätter an den gewundenen, fast schwarzen Zweigen sahen aus wie erstarrte Flammen.
Ein jäher Windstoß ließ weitere Blätter herabstieben und wirbelte die am Boden liegenden auf. Die Byrianel-Bäume beugten sich in der heftigen Böe. Nur die schmale Gestalt, die sich zielstrebig zwischen den Stämmen bewegte, behielt ihren ruhigen, gleitenden Gang bei. Einen Gang, dessen scheinbare Ruhe in heftigem Gegensatz zu dem Aufruhr in ihrem Inneren stand.
Kyrai zog ihren Mantel enger um sich. Es war halb Versuch, den schneidenden Wind abzuwehren, halb nervöse Geste. Die Drasirah war sich nicht sicher, ob es ein Fehler war, hierherzukommen. Vielleicht würden die Dryaden ihre Bitte ablehnen. In dem Fall hätte sie lediglich ihre Zeit verschwendet. Wäre das nicht sogar das Beste? Sie tat ihre Zweifel als Produkt ihrer Angst ab und verdrängte den unangenehmen Gedanken, dass es eine andere, tiefer gehende Angst war, die sie hergeführt hatte … Sofern sie noch von Angst sprechen konnte. Zu den zweifelhaften Segnungen, die sie in diesem Wald bereits erhalten hatte, gehörte, dass sie seit Jahren keine echte Angst mehr empfunden hatte. Ebenso wenig wie intensive Wut, Trauer oder Freude. Es war sicherer so.
„Es wird einen Sturm geben“, sagte eine Stimme hinter ihr. Leise und rau, von einem sonderbaren, kratzigen Rascheln unterlegt. Kein Zweifel. Kyrai hatte die Dryaden gefunden. Oder umgekehrt.
Langsam drehte sie sich um. Niemand würde je eine Dryade als Freund bezeichnen, aber die Elfen – vor allem die Drasirai – betrachteten sie als Verbündete. Tatsächlich war Kyrai dabei, ihr Leben in die Hände eines dieser sonderbaren Geschöpfe zu legen. Dennoch drehte sie sich um wie zu einem potenziellen Gegner.
Die Nymphen waren die Ersten gewesen, die gespürt hatten, dass das Zeitalter der Magie zu Ende ging. Als die klügeren unter den Elfen das zu begreifen begannen, hatten sie sich bereits in die Tiefen ihrer Wälder, Berge und Seen zurückgezogen. Mittlerweile kannten die meisten Menschen sie nur noch aus den Geschichten, die sie einander erzählten. Geschichten, die sich mit jedem Jahr weiter von der Wahrheit entfernten.
Die Gestalt, die reglos an einen Baum gelehnt dastand, hatte wenig mit den bezaubernden Frauen aus den Lagerfeuermärchen gemein: Sie war hochgewachsen, dabei aber so dünn, dass ihr Körper in die Länge gezogen wirkte, mit knotigen, zu zahlreichen Gelenken, sodass sich ihre Arme und Beine an sonderbaren Stellen bogen. Eine uralt aussehende, schwarze Hose bedeckte drei Viertel ihrer Beine. Die bloßen Füße unter den ausgefransten Säumen endeten in sieben wurzelartigen Zehen. Ein ebenso ausgefranstes, schwarz-grün gemustertes Tuch war kunstvoll um ihre Brust geschlungen. Ein Großteil der grünlichen, von verschlungenen Tätowierungen bedeckten Haut der Dryade war den eisigen Herbstwinden ausgesetzt. Nicht, dass es die Nymphe gestört hätte. Soweit Kyrai wusste, konnten weder Hitze noch Kälte solchen Wesen viel anhaben.
Die Dryade trug ihr langes, grün-braunes Haar offen. Es rahmte ein auffällig schmales Gesicht ein, das ein wenig elfisch anmutete, wenn auch grotesk übersteigert. Ihre Wangenknochen waren irritierend hoch und ausgeprägt und was bei den meisten Elfen ein beinahe unmerklicher Knick im oberen Rand ihrer Ohrmuscheln war, waren bei der Dryade handlange, schräg nach hinten weisende Spitzen. Ihre Nase war klein und schmal, die Augen unter den hoch geschwungenen Brauen groß wie die eines nachtaktiven Tieres. Sie bestanden nur aus sonderbar ausgefransten Pupillen inmitten eines Meeres aus intensivem, schillerndem Malachitgrün. Als sie lächelte, kamen hinter ihren blassen, geschwungenen Lippen nadelspitze Zähne zum Vorschein.
Kyrai versuchte, das Lächeln zu deuten, aber das Gesicht der Dryade war einfach zu fremd.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du wiederkommen würdest, Drasirah. Was willst du?“
„Ihr habt mir selbst gesagt, dass mein volles Potenzial noch nicht erreicht ist. Ich wollte Euch um weitere Glyphen bitten.“ Ein einfacher Satz, dessen Tragweite nur eine Drasirah begreifen konnte.
„Was für Glyphen?“
„Welche auch immer Ihr für passend haltet“, entgegnete Kyrai. Die Glyphen, die sie am liebsten auf ihrer Haut wissen würde – Zeichen, die ihr die Angst und die bohrenden Selbstzweifel, die stets am Rande ihres Bewusstseins lauerten, für immer aus dem Kopf brennen und einen undurchdringbaren Wall gegen ihre zerstörerischen Leidenschaften errichten würden – existierten nicht.
Die Dryade lachte leise. Zumindest schloss Kyrai das aus ihren gehobenen Mundwinkeln. Das Geräusch, das sie von sich gab, hätte auch ein Fauchen sein können.
„Du willst also noch weitergehen … du hast keine Ahnung, worum du da bittest, kleine Drasirah.“
„Seid Ihr bereit, mich zu zeichnen?“
Die Dryade legte mit einem Geräusch wie dem Knarzen von Zweigen den Kopf schief. Sie musterte Kyrai mit distanziertem, belustigtem Interesse. „Du hast keine Ahnung“, wiederholte sie.
„Ich weiß genug, um diese Entscheidung zu treffen.“
„Du kennst vielleicht den Preis, den ich fordere, aber du hast keine Ahnung, was mit dir geschehen wird.“
Kyrai biss sich auf die Lippen, bevor ihr Dialog in ein würdeloses ‚Nein-Doch-Nein …‘ ausarten konnte.
„Dennoch werde ich dich zeichnen. Aber ich wiederhole es noch einmal: Noch nicht einmal, wenn du die Glyphen auf deiner Haut trägst, wirst du begreifen, in was du dich verwandeln wirst. Erst sehr viel später. Und vielleicht nicht einmal dann …“
Kyrai hob ihr Kinn. Sie war nicht in der Stimmung für Dryadenrätsel. „Wann soll ich wiederkommen?“ Was unter Elfen eine unverzeihliche Unhöflichkeit gewesen wäre, bedeutete einer Dryade nichts.
„Ich habe es gespürt, als du den Hain betreten hast. Es ist alles vorbereitet.“
Wieder lächelte die Dryade. Es war trotz ihrer Nadelzähne ein schönes Lächeln, aber