Kein Wort der Entschuldigung dafür, dass sie ihn minutenlang ignoriert hatte. Wieso auch? Natürlich maß sie dem Gedanken, der sie gerade abgelenkt hatte, mehr Bedeutung zu als seinem Höflichkeitsempfinden.
Phandrael deutete eine Verbeugung an und zog sich zurück. Erneut drehte Shideris ihm den Rücken zu, um aus dem Fenster zu sehen. Aber diesmal erhaschte er einen Blick auf ihr Gesicht, während sie es tat. Und zum ersten Mal seit langem spiegelte sich unverkennbar ein Gefühl darauf: Sorge.
Kyrai wohnte am Stadtrand, in einem der hohen, schmalen Häuser, die sich hier eng aneinanderschmiegten. Große Fenster blickten wie dunkle Spiegelaugen aus den hellen Fassaden.
Phandrael zog an der Klingelschnur. Die meisten Drasirai der Hauptstadt kannte er zumindest vom Sehen, aber einer Kyrai war er noch nie begegnet. Gerüchteweise sollte es eine weitere Akademie an der Nordküste geben. So verbunden die Drasirai sich durch ihre Gaben auch fühlen mochten, tauschten sie sich doch nur wenig untereinander aus. Als nach seinem Klopfen zunächst nichts geschah, zog Phandrael den Umschlag, den Shideris ihm ausgehändigt hatte, aus der Tasche und überflog die eng beschriebenen Seiten darin. Mit dem Code war er so vertraut, dass er sie mühelos lesen konnte. Die Suche nach Valedas könnte noch interessanter werden als ursprünglich gedacht.
Ohne dass das Geräusch von Schritten sie angekündigt hätte, schwang die Tür nach innen auf und gab den Blick auf Kyrai frei. Phandrael nahm sich einen Moment Zeit, um sie zu betrachten. Die Drasirah war nicht besonders groß, wahrscheinlich noch etwas kleiner als Shideris, mit silbrig-blondem Haar, das sie zu einem schlichten Knoten geschlungen hatte. Zwei sehr glatte Strähnen hatten sich daraus gelöst und rahmten ihr beinahe durchscheinend blasses Gesicht mit den nachdenklichen, dunkelgrauen Augen ein. Die obersten Knöpfe ihrer silbergrauen Seidenbluse waren offen und eine Seite des Kragens gerade weit genug zur Seite gerutscht, um den Blick auf ein Flechtwerk zartblauer Adern und ein feingeschwungenes Schlüsselbein freizugeben, das sich als scharfer Grat unter ihrer Haut abzeichnete. Dazu trug sie dunkle Hosen, aber keine Schuhe. Auf den Spann von jedem ihrer Füße war eine hellgraue Glyphe tätowiert.
Bei den meisten Frauen hätte Phandrael diese Aufmachung auf subtile Weise aufreizend gefunden, aber wie der Zufall es so wollte, begegnete er heute bereits der dritten Elfe, die in ihrer Anmut so steif und kontrolliert wirkte, dass ihr Anblick ein rein ästhetisches Vergnügen bot.
„Willkommen“, sagte sie und deutete einen formellen Knicks an. Ohne einen Rock, der sich dabei dramatisch auffächerte, sah die Bewegung bei aller Eleganz seltsam aus.
„Ich nehme an, du hast mich erwartet. Ich bin Phandrael“, stellte er sich vor.
Sie lud ihn mit einer Handbewegung ins Innere ihres Hauses ein. „Dann haben wir wohl einiges zu besprechen.“
Jedes Mal, bevor sie das Wort ergriff, hielt sie kurz inne, gerade lang genug, dass es einem sehr aufmerksamen Zuhörer auffallen konnte. Als würde sie sich jede Äußerung verbieten, die sie zuvor nicht noch einmal überdacht hätte.
Phandrael unterdrückte ein Seufzen. Vielleicht würde sie ihn noch positiv überraschen – amüsanterweise waren es immer die besonders beherrscht wirkenden Drasirai, deren Kontrollverlust, wenn er stattfand, absolut war. Doch er ahnte bereits jetzt, dass es kein Spaß werden würde, mit ihr zusammenzuarbeiten.
„Wollen wir vielleicht in meinem Atelier miteinander sprechen? Es ist der größte und hellste Raum.“
Sie deutete eine schmale Treppe hinauf. „Ich komme gleich nach.“
Neugierig stieg er die Stufen empor. Ihr Atelier befand sich direkt unter dem Dach, ein großer Raum mit schrägen Wänden und großen Fenstern, durch die breite Lichtbahnen ins Innere fielen. Auf niedrigen Regalen an den Wänden standen bemalte oder noch weiße Porzellanskulpturen, Teller und Medaillons. Ein breiter Tisch in der Mitte war mit Pinseln, Paletten und im Entstehen begriffenen Werken bedeckt; ein weites, von Farbflecken bedecktes Hemd über eine Stuhllehne geworfen.
Sie war Porzellanmalerin? Phandrael wollte bereits die Augen verdrehen, aber dann sah er sich Kyrais Kunstwerke genauer an. Sie hatte feine Pinsel benutzt, um auf den ersten Blick idyllische Szenen auf den schimmernden Untergrund zu bannen. Wenn man jedoch genauer hinsah, gab es in beinahe jedem ihrer Bilder eine fremdartige, beunruhigende Komponente. Manchmal nur durch einen einzigen Pinselstrich, der dem Lächeln einer Figur etwas Wissendes, Grausames verlieh oder einem Schatten die Andeutung von etwas, das sich darin verbergen konnte. Bei anderen Figuren hingegen wurde der harmlose Anschein auf spektakuläre Weise durchbrochen. Phandrael hob eine Porzellanfigur an, um sie näher zu betrachten. Schwer, glatt und kühl ruhte sie auf seiner Handfläche, während er sie langsam drehte und die unglaubliche Präzision von Kyrais Arbeit bewunderte. Eine beinahe kindlich aussehende Frau, an deren weißem Kleid über der linken Brust eine große, dunkelrote Blüte steckte, hielt die Arme anmutig angewinkelt. Ihre Finger formten eine Schale, deren Inhalt sie mit distanziertem Interesse aus vollkommen schwarzen Augen betrachtete. Die Rätselhaftigkeit ihres angedeuteten Lächelns lenkte beinahe davon ab, dass es sich bei der dunkelroten Form auf ihrer Brust doch nicht um eine Blume handelte, sondern dass sie mit belustigter Distanz ihr eigenes Herz studierte.
Interessant, dachte Phandrael. Und eigentlich nicht weiter überraschend. Ein Drasiron zu sein, bedeutete, sich ständig mit eigentlich Unerträglichem auseinanderzusetzen. Wahrscheinlich zeugten zahlreiche mehr oder weniger gelungene Kunstwerke von den Schlachten, die seine Kollegen in ihren Köpfen austrugen. Phandrael hatte nie das Bedürfnis danach gehabt. Vielleicht, weil er nie versucht hatte, sein wahres Wesen zu verleugnen.
Seine Kunst entstand anderswo.
Kyrai tauchte wieder auf, ein Tablett mit einer Wasserkaraffe und zwei Gläsern in Händen. Ihr Blick blieb kurz an der Figur hängen, die Phandrael betont langsam und beiläufig absetzte, aber sie sprach ihn nicht darauf an. Stattdessen stellte sie das Tablett ab. Unaufgefordert ließ Phandrael sich auf dem Stuhl nieder, ein Bein ausgestreckt, das andere mit darum verschränkten Armen an die Brust gezogen. Sein Kinn ruhte auf seinem Knie.
Wenn Kyrai Anstoß an seiner nachlässigen Haltung nahm, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nahm eine ähnlich lässige Pose ein, halb stehend, halb auf der Tischkante sitzend. Keiner von ihnen rührte sich, aber es war die Bewegungslosigkeit der Drasirai: Vibrierend mit dem Potenzial von plötzlicher, schneller und destruktiver Bewegung.
„Zwerge“, sagte Phandrael unvermittelt. Er mochte das – einen Gesprächspartner mit einer scheinbar vollkommen aus dem Zusammenhang gerissenen Bemerkung wie dieser aus dem Konzept zu bringen. Doch Kyrai hatte dieselben Informationen erhalten wie er. Sie erwiderte seinen Blick ohne das geringste Anzeichen von Verwirrung. Da war nur kühle, gelassene Aufmerksamkeit. „Du glaubst, dass wir ihn in Nornírwatar finden werden?“ Sie sprach den mittlerweile ungebräuchlichen Namen aus, wie es die Zwerge vor hundert Jahren getan haben mochten: Norrnírrrwadaarr.
Phandrael war jung für einen Elfen. Viel zu jung, um sich an die Kämpfe der Elfen mit den Zwergenfürsten von einst zu erinnern – den verheerenden Krieg, in dem eine junge Heerführerin namens Shideris zur Königin aufstieg und das Reich der Zwerge verwüstet und uneinig zurückließ. Sie hatte es den menschlichen Invasoren, denen es für Jahrhunderte tributpflichtig sein würde, beinahe geschenkt.
Dennoch rief dieses „Nornírwatar“ etwas in Phandrael wach. Den Klang tiefer Stimmen und herunterfahrender Hämmer unter der Erde. Meißel auf Stein und hallende Hörner. Und – neuerdings – das Stampfen und Fauchen der Eisenbahn und das Ticken von Uhrwerken. Kein Elf würde es zugeben, aber die mächtigen Elfen mit all ihrer Magie und mühelosen Überlegenheit hatten sich immer davor gefürchtet, dass die berüchtigte Sturheit der Zwerge diesen irgendwann ein Mittel verschaffen würde, an der Vorherrschaft der Elfen zu kratzen. Und nun war ihnen bewiesen worden, dass sie nur zu richtig gelegen hatten, wenn auch auf unerwartete Weise. Die Zwerge hatten das Leben in ganz Kiarva unwiderruflich verändert, es geradezu schwindelerregend beschleunigt. Und damit – so beiläufig, dass es Phandrael manchmal amüsierte, manchmal mit den Zähnen knirschen ließ (immerhin waren es nur Zwerge!) – das Ende Cirdayas eingeläutet.
Vielleicht würden