Die Nymphe sah sie noch eine Weile aus ihren brunnentiefen Augen an, sie hatte noch immer dieses Lächeln auf den Lippen. Dann wandte sie sich ab und winkte der Elfe, ihr zu folgen. Bei jedem Schritt bogen sich ihre langen, dünnen Beine an mehreren Gelenken. Kyrai war weit darüber hinaus, dergleichen irritierend oder unheimlich zu finden. Ihr Staunen galt nur noch der Eleganz, mit der die Dryade sich bewegte.
Der Drasirah kam der Gedanke, dass sie Menschen und sogar vielen anderen Elfen ganz ähnlich erscheinen musste, wie die Dryade ihr: Anmutig, vage bedrohlich und sehr, sehr fremd. Gemäß einem Gesetz, das nach dem Ende der Magierkriege und dem Magieverbot in zwei Menschenstaaten ratifiziert worden war, war sie keine den Menschen gleichgestellte Kiarvanerin mehr, sondern ein zufälligerweise humanoides, magisch kontaminiertes Es, das dementsprechend von keinem Gesetz beschützt wurde. Sie lächelte bitter. Dann war es wohl ihr Glück, dass sie dank der Modifikationen, die sie ihrer eigenen Spezies entfremdet hatten, in der Lage war, selbst für ihre Sicherheit zu sorgen.
Sie blickte gedankenverloren auf das schwingende Haar der Dryade und fragte sich zum wiederholten Mal, was sie eigentlich hierher getrieben hatte. Der Wunsch, gewappnet zu sein? Oder einfach nur das Gefühl der Befriedigung, das sie dabei empfand, sich selbst zu etwas anderem umzuformen – etwas, das stark, leidenschaftslos und kontrolliert war?
Wie jedes Mal bemühte sie sich, nicht allzu ausführlich darüber nachzudenken. Zwar neigte Kyrai seit jeher zur Introspektion, hinterfragte und erforschte jede ihrer Entscheidungen – aber zugleich war ihr stets bewusst, dass diese Überlegungen natürlich ausgesprochen anfechtbar waren. Ihr fehlte der Abstand, sich objektiv von außen zu bewerten … und die Nähe und Akzeptanz, um einfach sie selbst zu sein. Der Blick nach innen war allzu oft eine gefährliche, schmerzhafte Angelegenheit.
Sie roch den See, bevor sie der Dryade aus einer kleinen Senke folgte und ihn sah: Nicht besonders groß und aufgrund der Schatten, die die hoch aufragenden Bäume um ihn herum warfen – selbst jetzt, wo die Abenddämmerung gerade erst begann –, tiefschwarz. Ein leichter Geruch nach faulenden Pflanzen lag in der Luft. Er vermengte sich mit dem halb würzigen, halb beißenden Aroma des Rauches, der ihr in dünnen Fingern entgegenkroch.
Der Boden unter ihren Füßen war sumpfig geworden und ihre schmalen Stiefel lösten sich bei jedem Schritt mit leisem Schmatzen daraus. Die vielfach verdrehten, knorrigen Byrianel-Bäume sahen hier anders aus; mit hohen, schlanken Stämmen, zwischen denen sie sich geschickt hindurchschlängelte. Sie bewegte sich mit der lautlosen Gewandtheit einer Elfe und Drasirah, aber sie wusste, dass sie nie an das Geschick der Dryade heranreichen würde, deren langer Körper sich immer wieder an den verblüffendsten Stellen bog, um tiefhängenden Zweigen auszuweichen. Kyrai versuchte, einige der Glyphen auf dem nackten unteren Rücken der Nymphe wiederzuerkennen, aber sie scheiterte. Bereits die Zeichen an sich waren sehr viel komplexer als die Tätowierungen der Drasirai und die Elfe wagte gar nicht erst, über ihre Wechselwirkungen zu mutmaßen. Wie alles, das auch nur entfernt mit Magie zu tun hatte, war auch die Kunst, sie durch Runen und Glyphen zu manipulieren, eine unsichere, von der Intuition des Bannzeichners abhängige Angelegenheit. Und niemand kam, was diese Kunst anging, auch nur annähernd an die Nymphen heran.
Kyrai fragte sich müßig, wie diese Geschöpfe die Magie der Glyphen wohl entwickelt hatten. Und was sie taten, wenn sie gerade nicht Drasirai zeichneten. Niemand begegnete einer Dryade, wenn diese es nicht wollte. Tatsächlich wusste niemand genau, wie viele von ihnen in den Wäldern Cirdayas lebten. Wie ihre Gesellschaft aufgebaut war, wenn sie keine vollkommenen Einzelgänger waren. Oder wie weit ihre Verwandtschaft mit Bäumen ging. Wenn Kyrai an die spitzen Zähne der Dryade und das, was sie anrichteten, dachte, konnte sie sich kaum vorstellen, dass sie üblicherweise von Mineralien und Sonnenlicht lebte.
Sie umrundeten ein letztes Dickicht und fanden sich auf einer glatten, moosüberwucherten Felsenplatte wieder, die zum See hin leicht abfiel. Kyrai war bereits dreimal hier gewesen, aber wie jedes Mal war sie überrascht. Der Weg, den sie gegangen waren, hatte so gar nichts mit ihren Erinnerungen gemein. Wahrscheinlich handelte es sich um eine subtile Magie, die ihre Gedanken und Wahrnehmung manipulierte. Magie … dass sie außerhalb Cirdayas – und selbst innerhalb der Elfenstaaten – kaum noch praktiziert wurde, lag keineswegs nur am Trauma der Magierkriege. Die magischen Linien waren bereits seit Jahrzehnten am Verblassen gewesen, die Zahl derjenigen, die sie manipulieren konnten, stetig am Sinken. Mittlerweile strömte die Magie mit aller Kraft nach Kiarva zurück, aber noch war sie nirgendwo auch nur annähernd auf dem Niveau, wie in den Byrianel-Hainen. Diese uralten Bäume mit ihren messerscharfen Blättern waren nicht nur malerisch anzusehen, sie filterten und konzentrierten auch Magieströme. Über die Jahrhunderte war dieser Ort so zu einem magischen Fokus geworden. Wenn Kyrai jetzt auf den schwarzen See im Zentrum des Waldes herabblickte, der sich wie ein dunkler Spiegel vor ihnen erstreckte, und ihr ein Schauer über den Rücken lief, tat sie wahrscheinlich gut daran, ihrer intuitiven Vorsicht zu trauen. Wer wusste schon, was unter der Oberfläche lebte? Oder ob nicht vielleicht sogar der See selbst eine Art Intelligenz entwickelt hatte?
Die Dryade hatte keinerlei solche Bedenken. Ihr grünbraunes Haar fiel als seidiger Vorhang über ihr fremdartiges Gesicht, als sie niederkniete und sorgfältig ihre langfingrigen Hände wusch. „Leg deine Kleidung ab und mach es dir bequem.“
Kyrais Augenbrauen wanderten angesichts der unfreiwilligen Ironie in die Höhe, aber sie gehorchte schweigend und ließ sich neben der Feuerschale auf dem moosigen Stein nieder. Bewundernd ließ sie ihre Augen über die filigranen Muster wandern, die den Rand der Schale schmückten. Aus nächster Nähe war der Geruch der Harze und Kräuter, die die Dryade verbrannte, überwältigend und ließ alles um sie herum verschwimmen, wenn sie den Kopf zu schnell bewegte. Dass sie in der Erwartung, sich im Anschluss an das Ritual heftig zu übergeben, nichts gegessen hatte, half auch nicht gerade.
Auch ihre Empfindungen veränderten sich. Geräusche und Gerüche wurden plötzlich deutlicher und ihre magische Sicht flackerte hin und wieder ungebeten auf, während sie die Kälte weit weniger intensiv wahrnahm. Die Dryade wandte sich zu ihr um. Diesmal konnte Kyrai ihr Lächeln deuten: Es war durch und durch bösartig.
Die meisten Drasirai standen in dem Ruf, sich irgendwo auf einer Skala anzusiedeln, die bei „psychisch labil“ begann und bei „völlig gestört“ aufhörte. Er war übertrieben, doch aus verschiedenen Gründen nicht vollkommen unverdient. Aber selbst unter diesen magiebegabten Elitekämpfern war es ausgesprochen unüblich, die Dryaden freiwillig ein zweites Mal aufzusuchen. Zum vierten Mal um neue Zeichen zu bitten … das war, soweit Kyrai wusste, beispiellos. Wenn sie genauer darüber nachdachte, würde sie wohl nicht umhinkommen, sich mit der einen oder anderen unangenehmen Frage über sich selbst konfrontiert zu sehen.
Glücklicherweise war die Zeit zum Nachdenken ein für alle Mal vorüber, denn nun goss die Dryade eine dunkle Flüssigkeit in eine flache Schale und kam auf sie zu. Sie kauerte sich vor Kyrai nieder, die sich langsam nach hinten sinken ließ. Das Moos unter ihrem nackten Rücken war kühl, rau und ein wenig feucht.
Die Nymphe beugte sich über sie und hob die freie Hand. Kyrai sah Magiefäden um ihre Finger flackern und sich zu immer engeren Schlaufen und Knoten verschlingen. Ein sonderbares, feuchtes Knirschen erklang. Die schmalen, grünen Finger verformten sich, bis sie in langen, bösartig aussehenden Dornen endeten.
„Entspann dich“, flüsterte die Dryade, ihr Gesicht unangenehm nahe an Kyrais. Ihr Atem roch nach feuchtem Holz und frischem Blut. Erneut musste die Elfe beinahe kichern. Es kostete sie bereits genug Mühe, nicht aufzuspringen und auf dieses Wesen einzuschlagen, das wie eine übergroße Gottesanbeterin halb neben ihr, halb über ihr kauerte. Entspann dich – aber natürlich!
Kyrai zwang sich, ruhiger zu atmen. Es war ohnehin zu spät.
Die brunnentiefen, schillernden Augen des Geschöpfes glitten über Kyrais Körper. Puppenhaft zierliche, von Gänsehaut bedeckte Gliedmaßen, so blass, dass sich die eintätowierten Glyphen trotz ihres eigentlich dezenten Graus deutlich davon abhoben. Eine silbrige Narbe über der linken Brust und Augen, die trotz ihres Ringens um Beherrschung vor Angst geweitet waren. Wie schwach sie aussehen musste! Und genau deshalb war sie hier.
Noch einmal holte sie tief