Sie nickte. „Auch ich schulde Fragar etwas.“
„Tun Sie nicht so, als würde er Ihnen etwas bedeuten.“
Nun war sie es, die ihn anfauchte: „Er bedeutet mir genug, um meinen Beruf für ihn zu riskieren. Und wenn Sie irgendetwas über meine Situation wissen würden, wüssten Sie, was das heißt.“
Ihre Feindseligkeit erleichterte Drúdir auf sonderbare Weise. Sie stellte die Distanz wieder her, die er mit seinem Eingeständnis so jäh verringert hatte.
Eine Weile starrten die beiden Zwerge einander mit ausdruckslosen Gesichtern an, dann griff Findra nach ihrem Bierkrug und nahm einen langen Zug. „Haben Sie etwas gesehen, was mir bei den Ermittlungen weiterhelfen könnte?“
Drúdir hob eine Augenbraue. „Mir?“
„Haben Sie etwas gesehen?“ Ihre Stimme war halb ungehalten, halb flehend.
Drúdir seufzte. „Zuviel. Und gleichzeitig kaum etwas Nützliches.“ Es war die Wahrheit – so viel davon, wie er im Augenblick zu teilen bereit war. Es widerstrebte ihm zutiefst, Findra ins Vertrauen zu ziehen, umso mehr, da es hier nicht nur um ihn ging.
Seine Nachforschungen würden ihn tief in das verworrene Beziehungsgeflecht des Netzwerks führen. Und obwohl er viele Standpunkte seiner Mitglieder nicht teilte, wünschte er keinem von ihnen – na schön, fast keinem – den Besuch der nicht gerade für ihr Feingefühl bekannten Nordkroner Polizisten. Zwar war niemand von ihnen je so dumm gewesen, sich beim Praktizieren von Magie ertappen zu lassen, aber zum Netzwerk gehörten auch hochrangige Politiker und Zwerge wie Wisdrin, die es sich nicht leisten konnten, mit Magie in Verbindung gebracht zu werden. Zu lebendig war die Erinnerung daran, wie diese während der präindustriellen Zeit und der Magierkriege missbraucht worden war.
Auch Findra stieß gereizt die Luft aus. „Hören Sie zu, Hexerei ist nicht die Methode meiner Wahl, aber wenn Sie ihren … Zauber schon einmal gewirkt haben, machen Sie das Beste daraus, indem Sie mir erzählen, was Sie gesehen haben. Sie können etwas Gutes bewirken, wenn Sie der Polizei helfen.“
„Als ob irgendjemand die Hilfe eines Nekromanten akzeptieren würde. Sie erinnern sich: Kutten und Gekicher. Viel Spaß dabei, das Ihren Kollegen zu verkaufen.“
„Ich frage nach Ihrer Hilfe – und biete meine an. Und wenn Fragar Ihnen wirklich am Herzen lag – und angesichts dessen, was Sie auf sich genommen haben, um etwas darüber herauszufinden, bin ich davon überzeugt – werden Sie sie annehmen. Sie werden bei all ihren Fähigkeiten nicht weit kommen, ohne die Hilfe von jemandem, der weiß, wie man eine Mordermittlung führt.“
„Sie sprechen auffallend oft nur von sich. Was ist mit der ganzen Nordkroner Polizei, die eigentlich dabei hinter ihnen stehen sollte?“
Findra presste die Lippen zusammen und in ihren Augen glomm Zorn, der sich ausnahmsweise nicht gegen ihn richtete. „Sagen wir es so: Die gesamte Nordkroner Polizei – oder zumindest der Mann, dem sie untersteht – nimmt ihre Pflichten, was diesen speziellen Fall betrifft, nicht sehr ernst.“
„Mit Ausnahme von Ihnen?“
„Genau. Mit Ausnahme von mir, die ich, nebenbei gemerkt, für dieses bisher ziemlich unergiebige Treffen ein verdammt hohes Risiko eingehe.“
„Und genau das verstehe ich nicht. Ich habe gehört, bei Ihnen stapelten sich die Akten ungelöster Fälle. Warum gehen Sie nicht einem von denen nach?“
„Haben sie mir nicht zugehört? Wahrscheinlich bin ich aus irgendeinem Grund besessener von Fragars Tod, als mir guttut, aber es geht hier nicht nur um ihn. Wenn ich herausfinde, warum er gestorben ist, weiß ich auch, was meinen Vorgesetzten – einen bisher als absolut integer bekannten Zwerg – dazu bringt, durch nahezu komplett unterlassene Ermittlungen womöglich einen Mörder davonkommen zu lassen … und mir mit einer Versetzung in ein Kaff an der Grenze zu den Trollländern zu drohen, wenn ich mich weiter damit beschäftige.“
Drúdir beugte sich vor. „Das heißt …“
„Fragar wurde womöglich mit dem Segen von jemandem ganz oben getötet.“
„Aber … warum?“ Drúdir hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als er den quengeligen Klang seiner Stimme hörte.
Findra zuckte die Achseln. „Das werde ich wohl nie herausfinden, wenn Sie mir nicht verraten, was Sie wissen.“
Drúdirs Schultern sackten nach unten, als er eine Entscheidung traf. Wahrscheinlich war es ihre Isolation, die ihn für sich einnahm, obwohl sich in jedem ihrer Blicke all die Ablehnung und Angst zu spiegeln schienen, die sich die Magier Kiarvas in Jahrhunderten der Gewaltherrschaft erarbeitet hatten. Und der Fakt, dass sie recht hatte. Allein würde er nicht weit kommen. „Ihr arbeitet doch mit den Paranoikern von der Spionageabwehr zusammen, oder?“
Findra biss sich auf die Lippen – diesmal eher verlegen. Die Spionageabwehr der Union hatte ein gewichtiges Problem: Es konnte bei ihr nicht von einer Organisation die Rede sein, sondern vielmehr von unzähligen regionalen Vereinigungen, die einander fast noch mehr misstrauten als den Ausländern, auf die sie eigentlich ein Auge haben sollten. Informationen wurden widerstrebend und unvollständig weitergegeben … oder nur über die Lecks, die sich trotz der Geheimhaltungsbemühungen häuften. Die misstrauischeren Zwerge gingen beinahe alle davon aus, dass es irgendwo noch eine wirklich ernstzunehmende Organisation gab, der die Stümperei der offiziellen Spionageabwehr als Tarnung diente.
„Vor vielleicht fünfzehn Jahren ist ein gewisser Kargan hergekommen und hat hier fünf Jahre lang als Lehrling bei Fragar gearbeitet. Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, herauszufinden, ob es eine Akte über ihn gibt.“
Kapitel 6
Phandrael
Phandrael war sich der Augen bewusst, die ihm durch die hohen Gänge folgten. Höflinge – oder Abgeordnete, wie sie neuerdings hießen, aber letztlich waren sie doch nur Shideris‘ Marionetten – wandten die Köpfe, als er vorbeiging. Der hochgewachsene Elf konnte sich ihre Mienen gut vorstellen, die plötzliche, angespannte Missbilligung, die in ihre Züge trat. Er war anders als sie und dachte keinen Augenblick lang daran, das zu verbergen, nur um ihnen ihr vergeblich von Verachtung kaschiertes Unbehagen zu nehmen.
Statt sie oder die ihn umgebende Pracht auch nur eines Blickes zu würdigen, hielt er die Augen auf den schmalen, hochaufgerichteten Rücken der Dalanah gerichtet, die ihn führte. Jedes Mal, wenn sie eines der wunderschönen Buntglasfenster passierten, wurde ihr blütenweißes Gewand von farbigem Licht übergossen. Es war so lang, dass es hinter ihr einen Schritt weit über den Boden schleifte und ihre Bewegungen darunter waren so fließend, dass sie auch ein paar Millimeter über dem Boden hätte schweben können. Im Gegensatz zu der nachlässigen, übernatürlichen Anmut von Phandraels Bewegungen war die zurückhaltende Eleganz ihres Ganges genauso Ergebnis eiserner Disziplin wie die Makellosigkeit ihrer Kleidung und Frisur.
Es dauerte Jahre, zu einem Dalanon der Königin zu werden. Aus gutem Grund. Diese von einer Aura unnahbarer Perfektion umgebenen Elfen waren keineswegs einfache Diener, sondern Sekretäre, Leibwächter, Boten und teilweise sogar enge Vertraute der Königin. Diskret, effizient und, sollte es nötig werden, absolut tödlich. Im Gegensatz zu den meisten war Phandrael von diesem letzten Aspekt nicht weiter eingeschüchtert. Die Pagen waren ihm aus einem anderen Grund unheimlich: Mit ihren langen, makellosen Gewändern, den einstudierten Bewegungen und tadellosen Umgangsformen wirkten sie wie einer anderen Zeit entsprungen – jener Zeit, in der der gesamte Palast erstarrt schien.
Gewiss, die Elfen Cirdayas mochten die Entwicklungen auf dem Festland voller Aufmerksamkeit verfolgen, aber sie weigerten sich, darauf zu reagieren. Ganz so, als wollten sie nicht wahrhaben, dass ihre seit Jahrtausenden überlieferte Kultur keinen Platz in diesem neuen Kiarva hatte. Ihre selbstgewählte Isolation war nichts weiter als ein Versuch, das Unvermeidliche aufzuhalten.
Phandrael und die Dalanah