Für einen Moment verharrte Findra in einer linkischen Haltung, dann ließ sie ihren angehaltenen Atem entweichen und sich an der Wand herabgleiten. Sie zwang sich, das Ganze logisch zu betrachten. Letzten Endes wollte Baidur sie nicht loswerden, er wollte nur, dass sie den Fall Fragar vergaß. Das hieß, wenn sie ihm ihre bisherigen Ergebnisse verschwieg und ihm irgendwie weismachen konnte, dass sie tatsächlich aufgegeben hatte, musste diese Begegnung keine allzu üblen Konsequenzen für ihre Karriere haben.
Findra versuchte, in Gedanken möglichst viele Gesprächsverläufe durchzuspielen, aber es machte sie letztlich nur nervös, ohne ihr irgendwie weiterzuhelfen. Die Zeit zog sich hin. Wahrscheinlich zog Baidur sein Treffen mit wem auch immer absichtlich in die Länge, um sie warten zu lassen. Sie beschloss, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen, und zog ein sorgfältig in einen alten Schal gewickeltes Buch aus ihrem Rucksack.
Findra nahm sich erst einmal einen Moment Zeit, den Geruch des Papiers einzuatmen. Als eines von vielen Kindern einer Familie, die nach der unionweiten Reform der Landwirtschaft gezwungen gewesen war, auf der Suche nach Arbeit nach Nordkrone zu ziehen, hatte sie jahrelang selten mehr als Zeitungen gelesen, die jemand hatte liegen lassen. Die meisten Zwerge der Oberschicht – wahrscheinlich selbst solche wie Drúdir, der immer Zugang zu Fragars Sammlung, der Gildenbibliothek der Uhrmacher und wahrscheinlich sogar Geld für ein paar eigene Bücher gehabt hatte – würden es kaum nachvollziehen können, aber eine von Findras ersten Assoziationen, wenn sie das Wort „Luxus“ hörte, war der Geruch von Papier, Leder und Druckerschwärze.
Findra verwendete kein Lesezeichen, aber sie fand die Seite, auf der sie zu lesen aufgehört hatte, auf Anhieb. Sie vergaß nie eine Seitenzahl. Einen Moment später war sie so in ihre Lektüre vertieft, dass sie die bevorstehende Auseinandersetzung vollkommen vergessen hatte.
Auf Drúdirs Rat hin hatte Findra die „Sprakar-Godwis-Historig-Rúnhalar“ aufgesucht und sich von dem Bibliothekar – einem überheblichen Kerl, der sie mit kaum verhohlener Skepsis angesehen hatte – ein Grundlagenwerk zur Magie ausgeliehen. In den vergangenen Tagen hatte sie die ersten Kapitel trotz des trockenen, theoretischen Stils geradezu verschlungen.
Oh ja, sie verstand die Faszination, die Zauberei auf Fragar und seine Freunde ausgeübt hatte. Aber auch die Ängste all derer, die daran beteiligt gewesen waren, Magie durch Technik zu ersetzen. Eine gewaltige, unerklärliche Macht, die einigen zu Diensten und für andere unsichtbar war … Gewiss konnten unzählige Zwerge ruhiger schlafen, seit sie wussten, dass da draußen keine Magier mehr die Herrschaft für sich forderten. Findra erinnerte sich nur zu gut an Drúdir, wie er auf dem Boden kniete, während um ihn herum Eiskristalle über den Boden wucherten und dieses unirdische, blausilberne Licht in seinen Augen glomm. Sie würde es nicht zugeben, aber dieser Anblick verfolgte sie bis in ihre Träume.
Es war merkwürdig: Jahrelange Berufserfahrung hatte sie gelehrt, selbst hinter den unschuldigsten Fassaden Zwerge zu erwarten, die zu ungeheurer Brutalität und Hinterlist fähig waren. Doch es wollte ihr trotzdem kaum gelingen, die beiden Drúdirs, die sie kennen gelernt hatte – den jungen Uhrmacher, hinter dessen abweisender Haltung sie tiefe Unsicherheit erahnte, und den Hexer aus der Werkstatt – als ein und dieselbe Person zu betrachten. Die Magie, die sie gesehen hatte, war einfach zu fremd. So etwas sollte es nicht geben. Sie konnte mit Magie in der Vergangenheit oder in fernen, exotischen Ländern leben, aber sie in ihr eigenes Leben einbrechen zu sehen, war verstörend. Es hätte sie erleichtert, wenn sie wenigstens eine klare Antwort darauf hätte finden können, was Magie eigentlich war. Wozu sie befähigte, wie man sie maß und – vor allem – was man ihr entgegensetzen konnte. Doch sie war enttäuscht worden. Zwar gab es große Überschneidungen darin, wie verschiedene Magier diese sonderbare Kraft beschrieben, aber ihre Wahrnehmungen waren selten identisch. Es ließ sich nicht klar berechnen, wie mächtig ein Zauber sein würde und welche Faktoren das beeinflussten. Tatsächlich hatte noch niemand eine Erklärung dafür finden können, wie das magische Fadenwerk überhaupt funktionierte und warum einige Geschöpfe es manipulieren und damit mühelos Gesetze der Physik aushebeln konnten.
Wahrscheinlich war es ein Glück, dass ihre eigenen Gedanken sie von der Lektüre abgelenkt hatten, denn so hörte sie Baidur bereits aus weiter Ferne kommen. Sorgfältig verstaute sie das Buch in ihrem Rucksack und richtete sich auf. Nervös glättete sie ihren Rock.
„Gehen wir!“ Der bullige Zwerg hielt kaum inne, um nach seinem schweren Mantel und seinem Hut zu greifen. Er drehte sich nicht nach ihr um. Er wusste, dass sie ihm folgen würde.
Ein eisiger Windstoß fegte ihnen entgegen. Der Regen der letzten Tage war einer klirrenden, trockenen Kälte gewichen. Der Wind drückte den Rauch der Fabrikschlote aus den Außenbezirken in die Straßen der Innenstadt hinab, sodass ganz Nordkrone am Husten und sich Räuspern war.
Findra zog ihren Schal enger und beeilte sich, Baidur zu folgen. „Sie wollten mit mir sprechen?“, fragte sie vorsichtig.
Er nickte grimmig. „Ich kann mich nicht erinnern, Sie in die Archive geschickt zu haben.“
„Ich wusste nicht, dass dazu eine Aufforderung nötig ist.“
„Ist sie auch nicht. Wäre aber vielleicht besser.“
Findra hob eine Augenbraue. Dabei hatte sie gedacht, Baidur würde im Großen und Ganzen Eigeninitiative befürworten und es mit den Hierarchien nicht allzu genau nehmen – natürlich nur, solange niemand seine Autorität in Frage stellte.
Er wies mit einem Daumen über die Schulter. „Da drinnen sind Informationen über das Leben unzähliger Zwerge. Niemand sollte nach Belieben darin herumschnüffeln können.“
Findra kniff angesichts dieser offensichtlichen Scheinheiligkeit die Lippen zusammen. Sie wusste von mehreren hochrangigen Politikern und Polizeioffizieren, die die Spionageabwehr gelegentlich als Privatdetektive missbrauchten, um Geschäftskonkurrenten oder Ehepartner ausspähen zu lassen. Wenn Baidur deren Verhalten missbilligte, dann auf sehr diskrete Weise. Und das, obwohl er es sich hätte leisten können, sie in ihre Schranken zu verweisen.
„Ich hatte gute Gründe.“
„So? Welches Interesse könnten Sie an einem Niemand namens Kargan haben?“
„Er hat mit Fragar korrespondiert. Ich dachte, man könnte vielleicht seine aktuelle Adresse ausfindig machen und ihm telegrafieren. Vielleicht hätte er uns etwas Nützliches über Fragar verraten können.“
„Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt: Der Fall Fragar ist aussichtlos. Konzentrieren Sie sich lieber auf die Fälle, die sie lösen können. Sie helfen niemandem, wenn Sie zu eitel sind, um sich einzugestehen, dass Sie hier nichts bewirken.“
Er blieb so jäh stehen, dass sie beinahe in seinen breiten Rücken hineingerannt wäre, und drehte sich zu ihr um. Sie standen so nahe voreinander, dass sie jedes einzelne Haar seiner buschigen, drohend zusammengezogenen Augenbrauen sehen konnte. „Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt und werde es nicht noch mal wiederholen: Ich gebe Ihnen eine Chance, zu beweisen, dass Sie fähig sind, nicht auf Teufel komm raus Ihren eigenen Kopf durchzusetzen, sondern Ihre verdammte Arbeit zu machen. Wenn Sie das nicht können, sind Sie hier falsch und ich werde Sie irgendwohin schicken, wo Sie keinen Schaden anrichten können.“
Findra hatte gedacht, sie würde eingeschüchtert sein, aber stattdessen ertappte sie sich bei dem Gefühl, dass etwas an seiner donnernden Standpauke nicht ganz stimmig war. Abgesehen von seiner völlig unverhältnismäßigen Reaktion an sich. Baidur sprach, als hätte er sich die Worte zuvor zurechtgelegt und das passte nicht zu ihm. Und er sah ihr nicht in die Augen. Er erinnerte sie an einen Schauspieler, der sich in seiner Rolle nicht wohlfühlte.
Interessant. Wahrscheinlich hatte man ihn eher bedroht als bestochen, sie notfalls hinauszuwerfen, falls sie sich als zu hartnäckig erwies.
Findra starrte ihn wütend an, ließ den Ärger in ihrem Gesicht