Kapitel 4
Findra
Die fünf in schwarz gewandeten Zwerge mit ihren hohen Zylindern standen reglos in den Ecken des Saales. Noch zehn Jahre zuvor wären sie in dunkelblaue Kapuzenroben gehüllt gewesen, doch sie brauchten die schweren Zeremoniengewänder nicht, um schwermütige Würde auszustrahlen.
Mit gravitätischen Schritten betrat der Sechste den Raum, einen bronzenen Gong in der Hand. Langsam umrundete er den Sarg auf dem Sockel in der Raummitte, bevor er schließlich seinen Platz in der sechsten Ecke einnahm. Er schlug den Gong.
Einige der Versammelten, die auf Bänken entlang der Wände saßen, zuckten zusammen. Dabei war der Klang nicht einmal besonders laut – nur auf sonderbare Weise durchdringend. Der Nachhall schien ewig unter der runengeschmückten Kuppel des unterirdischen Saales zu hängen, und sie alle lauschten atemlos. Als er fast verklungen war, nahm der erste Zwerg mit klarer Stimme den Ton auf und hielt ihn scheinbar endlos lange. Ein zweiter Sänger stimmte einen anderen Ton an, ein dritter einen wieder anderen. So ging es hin und her. Fünf der Totensänger sangen einen Akkord nach dem anderen, nahezu unmöglich tiefe Töne, die man ebenso sehr zu spüren wie zu hören glaubte. Dann erhob der Sechste seine Stimme zu einer zugleich einfachen und erhabenen Melodie. Er sang auf Altzwergisch die erste Strophe der traditionellen Totenklage. Die anderen Sänger setzten erneut ein und zusammen vollendeten sie die anderen beiden Strophen.
Findras Blick glitt über die Reliefs an den Säulen. Sie zeigten Götter und Dämonen, deren offizielle Kulte mit dem Sturz der neun Orden, in denen Magie und Religion untrennbar verflochten gewesen waren und die die Menschen und Zwerge in Unwissenheit und Aberglauben hielten, ein Ende gefunden hatten. Mittlerweile waren die Tempel und Kathedralen von einst Festsäle und Lagerhallen und niemand würde öffentlich einem Gott huldigen. Dennoch … Wenn Findra sich die stilisierten Figuren und archaischen Symbole ansah, während die uralten Totengesänge der Zwerge ihre Knochen zum Vibrieren brachten, verstand sie, wieso der Glaube nie so ganz verschwunden war. Wieso die Skulpturen in jedem säkularisierten Tempel unberührt dastanden, umgeben von einem unsichtbaren Kreis, in dem niemand Dinge abzustellen oder wegzuwerfen wagte. Warum zu beinahe jedem Festmahl verstohlene Trankopfer gehörten, noch immer Drudenfüße Fensterbretter schmückten und bei Einbruch der Nacht Bruchstücke alter Verse ausgetauscht wurden, die so gar nicht in diese so aufgeklärte Zeit passen wollten …
Kaum hatten die Sänger geendet, senkten sie die Köpfe wieder und versanken in scheinbar vollkommener Passivität. Nur der Zwerg mit dem Gong trat einen Schritt vor. Er ließ seinen Blick über die Versammelten schweifen und Findra widerstand dem Impuls, den Kopf einzuziehen. Sie kannte die Anwesenden nur aus Zeugenbefragungen und das einzige Mal, als sie Fragar begegnet war, hatte er in einer Lache aus allmählich gerinnendem Blut gelegen. Dennoch hatte sie in den letzten Tagen so viel Zeit damit verbracht, das Leben des alten Zwerges zu erkunden, dass sie sich ihm nun vielleicht näher fühlte, als gut für sie war. In ihren Jahren bei der Nordkroner Polizei hatte sie zwar nicht alles gesehen, was von Zorn, Gier oder gelegentlich auch schierer Dummheit erfüllte Zwerge einander antun konnten, aber sie hatte doch eine repräsentative Auswahl betrachten können. Sie hätte nicht gedacht, dass ein Tod wie der Fragars sie noch berühren konnte. Die Besessenheit, mit der sie sich in diesen Fall stürzte, belehrte sie jedoch eines Besseren. Sie konnte sich selbst nicht so ganz erklären, was Fragar Brarison aus der langen Reihe der Toten hervorhob, mit denen sie es zu tun gehabt hatte.
Womöglich war es das absolute Fehlen brauchbarer Spuren; das Gefühl, dass etwas Größeres und Komplexeres hinter diesem Mord steckte, als sie ahnten – und die besorgniserregende Bestätigung, die sie vor wenigen Tagen dafür erhalten hatte. Vielleicht waren es auch all die Andeutungen über die seltsamen Zirkel, in denen Fragar sich bewegt hatte, ein in mystisches Dunkel gehülltes Netz von Gruppierungen und Beziehungen, das sie nicht einmal ansatzweise durchschaute. Und gewiss spielte auch noch mit hinein, dass sie Fragar mochte.
Bereits als sie ihn am Tatort gesehen hatte, hatte sie einen Stich trauriger Sympathie gefühlt. Sie wusste, dass das erschlaffte Gesicht des Toten wohl kaum seine Gefühle im Moment des Sterbens wiederspiegelte, aber der Ausdruck grenzenloser Enttäuschung auf seinem einst wohl offenen und freundlichen Gesicht, die stille Würde, die er trotz seines blutbesudelten Bartes ausstrahlte … Es gab Tote, bei deren Anblick einen das Gefühl überkam, dass man Zeuge des Unvermeidlichen geworden war, aber der Schnitt in Fragars Hals und das Chaos in seiner Werkstatt wirkten wie Teile einer anderen Geschichte, die durch einen entsetzlichen Fehler eingefügt worden waren – dort, wo eigentlich lange, ereignislose Kapitel hingehört hätten.
Ja, etwas an diesem Mord beschäftigte sie. So sehr, dass sie lieber ihre Karriere aufs Spiel setzte, als die Akte Fragar für immer zu schließen, wie man es ihr nahegelegt hatte. Der Versuch, sie in ihren Ermittlungen zu stoppen, machte sie nur noch entschlossener, Fragars Mörder ins Licht zu zerren. Und herauszufinden, wieso ihren eigenen Vorgesetzten nicht daran gelegen war.
Und deshalb hob sie trotzig den Kopf, als der Blick des Zeremonienmeisters sie streifte. Es mochte sein, dass sie Fragar zu Lebzeiten nicht gekannt hatte, aber sie hatte dennoch jedes Recht, hier zu sein. Ohne mit der Wimper zu zucken, ertrug sie die Blicke der anderen Trauernden, die sie vergeblich einzuordnen versuchten. Froh über den dichten Schleier aus schwarzer Spitze, der ihr Gesicht verhüllte, war sie trotzdem. Ihre Gründe mochten sie selbst überzeugen, aber sie zweifelte daran, dass es den anderen Zwergen im Raum ähnlich erging. Vor allem, da sie, bei aller halb eingestandenen Sympathie für den Toten, nicht primär hier war, um Fragar ihren Respekt zu erweisen. Deshalb lauschte die junge Ermittlerin den Worten des Zeremonienmeisters, der Fragars Verdienste auflistete, nur mit halbem Ohr.
Findra war hier, weil sie auf jemanden wartete.
Als er schließlich hereinkam – er glitt nahezu lautlos auf den letzten freien Platz auf einer der Bänke, aber natürlich bohrten sich trotzdem unzählige strafende Blicke in seinen Rücken – war sie zunächst nicht sicher, ob sie tatsächlich den gefunden hatte, den sie suchte. Wie auch? Alles, woran sie sich erinnerte, waren Eiskristalle, die von einem Ledermantel rieselten und ein Paar weißglühender Augen, die sich aus dem Schatten einer breiten Hutkrempe auf sie richteten. Die unsteten Schatten, die die fliegenden Lampen warfen, hatten es noch zusätzlich erschwert, seine Züge zu erkennen.
Der Zwerg, der nun mit starrer Miene zwischen zwei Cousinen Fragars saß, die ihn keines Blickes würdigten, war jung; vielleicht Anfang vierzig. Findra glaubte in seiner Haltung einen Trotz wahrzunehmen, der dem ihren nicht unähnlich war. Sein Gesicht zwischen dem Zylinder und dem steifen Kragen seines Hemdes war bleich und von Schlafmangel gezeichnet, wie sie aufgeregt feststellte. Trotz seiner grimmigen, verschlossenen Ausstrahlung war der Fremde – sie hatte einen begründeten Verdacht, was seinen Namen betraf, aber da endeten ihre Kenntnisse bereits – kein unattraktiver Mann. Das dunkle Haar, das ihm sorgfältig gekämmt bis auf die Schultern fiel, war voll und glänzend und seine offensichtliche Erschöpfung konnte die Intelligenz in seinen bernsteinbraunen Augen nicht verschleiern. Obwohl er in seiner steifen, altmodischen Trauerkleidung (die ihm halbwegs, aber keineswegs perfekt passte) eine durchaus elegante Erscheinung abgab, vermutete Findra, dass man ihn weitaus häufiger zerzaust und in informeller Kleidung antraf. In einem schlammbespritzen Ledermantel über einem zerknitterten Hemd vielleicht … Und was war das für ein Flackern in seinem Blick, als er sie ansah? War er nur wie die anderen Trauernden unfähig, sie einzuordnen, oder steckte mehr dahinter?
Findra versuchte, diesen abweisenden, doch gepflegten Mann mit dem dunklen Magier der letzten Nacht in Einklang zu bringen. Es ließ sich nicht ausschließen, aber sie war weit davon entfernt, sicher zu sein. Vielleicht, dachte sie selbstkritisch, war es aber auch nicht der Spott nach einer falschen Beschuldigung, den sie fürchtete. Was sie gesehen hatte, hatte sie mehr erschüttert, als sie sich selbst einzugestehen wagte. Von Kindheit an hatte sie gelernt, dass Magie etwas Widernatürliches war, ein Werkzeug der Machtgierigen, vor allem aber Gegenstand von Geschichten und Teil der Vergangenheit. Zu spüren, wie mitten in Nordkrone diese unnatürliche Kälte nach ihrem Herz griff und in ein paar glühende Augen zu blicken, hatte sie zunächst an ihrem Verstand zweifeln lassen.
Wären