»Damit ihr mit allen Mitgliedern der Gruppe vertraut werdet, werden wir manche Übungen auch zusammen machen. Ansonsten wäre es gut, wenn ihr euch mit dem jeweils zugeteilten Partner gut verstehen würdet, da ihr im Kampf höchstwahrscheinlich mit ihm zusammen kämpfen und auf seine Hilfe angewiesen sein werdet. Ridge, du arbeitest zusammen mit Malcolm. Jesahja, du mit Aria, Paul mit Henry«, begann er jeden einzuteilen.
Erstmals mit einer gewissen Aufmerksamkeit präsent, verfolgte ich, wie David einem nach dem anderen einen Partner zuwies. Doch anscheinend spielte ich mir selbst etwas vor, denn ich hatte nicht mitbekommen, wie David meinen Namen an das Mädchen, das schließlich vor mir auftauchte, weitergegeben hatte. Sie musste in etwa so alt sein wie ich, vielleicht etwas jünger. Ihre leicht gewellten hellblonden Haare waren an ihrem Hinterkopf zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, der wippend auf Schulterhöhe endete. Sie trug eine enge schwarze Jeans und ähnliche dunkelbraun glänzende Stiefeletten wie ich. Dazu hatte sie ein dunkellilafarbenes Shirt an, über dem sie eine schwarze Lederjacke trug. Sie sah wunderschön und etwas verwegen aus.
Ihre gelben Augen blitzten unter den langen Wimpern, als sie mich mindestens genauso eingehend musterte wie ich sie. Blitzschnell schoss ihre Hand vor und griff meine. »Hallo, ich heiße Caitlin. Man spricht es K-e-itlin und nicht K-a-itlin aus. Die Schreibweise verwirrt manchmal.«
Froh über ihre offensichtliche Freundlichkeit, lächelte ich leicht. »Ich bin Lucy. Ganz normal ausgesprochen.«
»Weiß ich eigentlich schon, freut mich trotzdem. Übrigens – die schwarzen Haare sehen gut aus, obwohl ich keinen wirklichen Vergleich zu den blonden herstellen kann, da ich dich damit nur von Weitem gesehen habe.«
Ich nickte und versuchte, mir mein wachsendes Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Es verlief ungefähr so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Meine Veränderungen waren das einzige Gesprächsthema. Und meine Meinung darüber tendierte deutlich ins Negative. Caitlins nächste Worte überraschten mich allerdings und ließen winzige Hoffnungen keimen, dass sie nicht zu den ganz Typischen gehörte.
»Allerdings vermute ich, dass du keine Lust auf öde Unterhaltungen über die Reise oder dich hast. Also schlage ich vor, dass wir uns einfach normal verhalten. Ich bin einfach Caitlin, und du bist einfach Lucy. Zwei gewöhnliche Augenschöne.«
Ich versuchte gar nicht erst, ihren Redefluss zu stoppen, der mich stark an Rose’ Redseligkeit erinnerte, sondern nickte nur hin und wieder.
Schließlich hob Caitlin ihren Bogen hoch und sah mich fragend an. »Wollen Einfach-Caitlin und Einfach-Lucy mit dem Training beginnen? Ach ja, ich bin Linkshänderin, weshalb ich beim Schießen anders dastehe. Nicht, dass du denkst, ich würde die Seiten verwechseln.«
Wieder nickte ich nur und folgte ihr, als sie sich neben zwei Jungen stellte. Wie die meisten der Gruppe hatten sie sich bereits vor einer der Zielscheiben positioniert. Ich beobachtete Caitlin, während sie einen Pfeil nach dem anderen abschoss. Sie hatte die Zunge leicht zwischen die Lippen geklemmt und die Augen konzentriert zusammengekniffen. All ihre Pfeile trafen die Zielscheibe, sogar ziemlich weit innen. Sie war gut. Nachdem sie ihre Pfeile aus der Scheibe gezogen und ihren Köcher wieder damit gefüllt hatte, stellte sie sich neben mich und sah abwartend auf meinen Bogen.
Leicht zittrig zog ich einen Pfeil hervor und legte ihn an. Es war über ein Jahr vergangen, seitdem ich das letzte Mal geschossen hatte, und es fühlte sich ungewohnt und leicht befremdlich an. Ich schloss das eine Auge, fixierte die schwarze Mitte und ließ den Pfeil surrend starten. Er flog vielleicht die Hälfte der Strecke durch die Luft, bevor er kraftlos ins Gras fiel.
»Bin aus der Übung«, rechtfertigte ich mich murmelnd und holte hastig den nächsten Pfeil hervor, ohne Caitlin anzusehen, damit sie nicht die Röte bemerkte, die meine Wangen schamvoll hinaufkroch.
Doch mit Caitlin hatte ich wirklich Glück und eine ausgezeichnete Kampfpartnerin bekommen. Sie war selbst sehr talentiert und konnte mir nützliche Verbesserungsvorschläge geben, war jedoch ganz und gar nicht eingebildet. Außerdem ließen ihre Witze meine schwach ausfallenden Leistungen nicht mehr so schlimm erscheinen.
Im Verlauf des Trainings stellte ich fest, dass meine Treffsicherheit zwar noch immer vorhanden war, mir allerdings die Kraft zu fehlen schien, die nötig war, damit der Pfeil auch weitere Distanzen überwinden konnte. Frustriert über den Mangel an Muskelstärke bemühte ich mich mehr darum, Caitlin zu helfen, als nach einer Möglichkeit zu suchen, wie ich mir selbst helfen konnte.
Die Lösung meines Problems kam ganz von allein, indem ich meinen Wochenplan noch einmal genauer studierte und feststellte, dass fast die Hälfte aller Stunden in die Rubrik Ausdauer und Krafttraining fiel. Und nachdem ich verwirrt bei Caitlin nachgefragt hatte, erzählte sie mir, dass die Abstellkammer von einem Waffenlager zu einer Sporthalle umgeräumt worden war, um den hinzugekommenen Schleifenwesen ebenfalls Hallen zur Verfügung stellen zu können. Die Kampfutensilien befanden sich nun in einem weiteren unterirdischen Raum, der bis zur jetzigen Verwendung ungenutzt verstaubt war, nachdem die ehemalige Krankenstation, die sich anfangs darin befunden hatte, in einen Teil des Verwaltungsgebäudes verlegt worden war.
Ich versuchte, Caitlins Erklärungen aufmerksam zu folgen, was mir jedoch schwerfiel. Obwohl mich die frische Luft und die viele Bewegung eigentlich hätten wachrütteln sollen, schienen sie bei mir den gegenteiligen Effekt zu haben. Ich wurde immer träger und fühlte mich erschöpft, konnte meinen Bogen fast nicht mehr anheben. Caitlin warf mir immer wieder seltsame Blicke zu, als würde ihr meine Erschöpfung auffallen, als sei sie aber nicht sicher, ob sie etwas sagen sollte. Als ich über eine Wurzel stolperte und anschließend, an einen Baum gelehnt, den aufkommenden Schwindel zu unterdrücken versuchte, öffnete sie sogar den Mund, schloss ihn allerdings kurz darauf, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Mit jeder Minute wuchs meine Erschöpfung, als wir weitergingen. Ein seltsames Taubheitsgefühl ergriff von meinen Beinen Besitz, und ich schaffte es kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Außerdem wurde mir immer wieder schwindelig, und vor meinen Augen huschten kleine Sternchen vorbei.
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und fragte sie, ob es in Ordnung sei, noch mal eine kleine Pause einzulegen. Ich nuschelte irgendetwas von Schmerzen am Fuß, bevor ich mich auf einem Baumstumpf niederließ. Caitlin lehnte sich mir gegenüber an eine hohe Zeder. Sie holte ein Taschenmesser aus ihrer Jacke und begann, an dem Bogen in ihrer Hand herumzuschnitzen.
Ich zog die Beine an und wippte leicht vor und zurück, während ich sie dabei beobachtete. Mein Atem ließ neblige Schlieren in der frischen Morgenluft entstehen, und meine Haut brannte leicht in der Kälte des anbrechenden Winters. Ab und an hörten wir die Stimmen der anderen Gruppen, die durch den Wald streiften. Ich versuchte, meine Gedanken beisammenzuhalten. Da hörte ich, wie Caitlin tief Luft holte, vermutlich, um mit ziemlicher Sicherheit endlich meinen ramponierten Zustand anzusprechen. Ich hatte keine Lust auf eine Diskussion über meine Gesundheit, weshalb ich in einem Anflug von Panik aufsprang und ihr ins Wort fallen wollte. Ab da ging jedoch alles schief.
Durch das überstürzte Aufspringen torkelte ich nach vorn und krachte fast in Caitlin hinein. Mein Magen drehte sich um und rebellierte. Ich konnte mich gerade noch abwenden, um zu verhindern, mich auf sie zu übergeben. Keuchend krallte ich meine zitternden Finger in die Baumrinde. Ich überging den Schmerz, den ich verspürte, als sich kleine Holzsplitter unter meine Nägel gruben, und würgte die mickrigen Reste des sich noch in mir befindlichen Essens hervor. Vor meinen Augen tanzten die Sterne jetzt wild, als ich mich schwankend an den Baum lehnte und aus meiner Jackentasche ein Taschentuch zog, um mir den Mund abzuwischen.
»Lucy … wie … was?« Caitlins Stimme überschlug sich vor Überraschung, Ungläubigkeit und Sorge.
Ich versuchte, mich zusammenzureißen, um sie nicht noch mehr aufzuregen.
»Du bist krank!«, brachte sie schließlich hervor.